Der Hausarzt auch als Therapeut der Psyche? Ärztetag diskutiert niedrigschwellige Angebote etwa für Angst-Patienten

Christian Beneker

Interessenkonflikte

23. Mai 2018

Erfurt – Glaubt man dem Allgemeinmediziner Prof. Dr. Jochen Gensichen von der Ludwig-Maximilians-Universität (LMU) in München, so kann die Hausarztpraxis für Patienten, die auch psychisch erkrankt sind, zu so etwas werden wie einem sicheren Hafen: Die Probleme lassen sich vom Hausarzt ruhig und strukturiert erkennen und zuverlässig beobachten.Dies sichere die Diagnose und eine konsequente Therapie für Patienten mit chronischen bzw. psychischen Erkrankungen, so Gensichen vor den Delegierten des 121. Deutschen Ärztetages in Erfurt [1]. Sie hatten die psychischen Erkrankungen in diesem Jahr in den Mittelpunkt ihrer Beratungen gestellt.

44 Milliarden Euro Krankheitskosten

Mit gutem Grund. So seien die Krankschreibungen wegen Überlastung und Erschöpfung von 2012 bis 2016 von 19,9 auf 30,5 Millionen gestiegen, hatte Prof. Dr. Stephan Zipfel von der Abteilung Psychosomatische Medizin und Psychotherapie der Universitätsklinik Tübingen referiert. „Damit sind psychische und psychosomatische Erkrankungen nach den Skelett-Erkrankungen die zweithäufigste Ursache für Krankschreibungen“, so Zipfel. Die direkten Krankheitskosten belaufen sich nach Angaben des statistischen Bundesamtes auf jährlich rund 44,4 Milliarden Euro (Stand 2016).

Was für Allgemeinmediziner wie Gensichen besonders bedeutsam ist, ist dabei die enge Assoziation zwischen Seele und Körper, etwa zwischen Depressionen und Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Wenn beiden Krankheiten gemeinsam auftreten, steigen auch Morbidität und Mortalität, so Zipfel. Zum Beispiel bedingen Depressionen weniger körperliche Bewegung, was wiederum kardiale Ereignisse begünstigt. Auch Krebspatienten litten vermehrt unter Angst und Depressionen – dies auch einfach deshalb, weil sie mit der Tumorerkrankung heute immer länger leben. „Das heißt, dass die Patienten auch viel mehr mit Rückfallangst zu kämpfen haben“, erläuterte Zipfel, „mit psychischem Stress, Fatigue oder Schlafstörungen.“

 
Psychische und psychosomatische Erkrankungen sind nach den Skelett-Erkrankungen die zweithäufigste Ursache für Krankschreibungen. Prof. Dr. Stephan Zipfel
 

Dr. Iris Hauth, ärztliche Direktorin der Psychiatrie im Berliner Alexianer St. Joseph-Krankenhaus, nannte Zahlen, nach denen in Deutschland jedes Jahr 27,8% der erwachsenen Bevölkerung seelisch erkranken, das sind 17,8 Millionen Menschen. Die Folgen: 43% aller Erwerbsminderungsrenten erfolgten im Jahr 2016 aufgrund einer psychischen Erkrankung. Nur 18,9% aller psychisch Erkrankten lassen sich behandeln – dies sind fast 3,4 Millionen Menschen im Jahr.

Zwar habe die Prävalenz psychischer Erkrankungen nicht zugenommen, betonte Hauth. Doch nähmen die Patienten psychiatrische und psychotherapeutische Leistungen immer öfter in Anspruch, vielerorts sei das Versorgungssystem überfordert. „Wir müssen diesen Andrang bewältigen“, sagte Hauth. „Aber wie?“ Immer noch betrage die durchschnittliche Wartezeit auf eine Psychotherapie 5 Monate, besonders Nordbayern und die ostdeutschen Bundesländer sind laut Bedarfsplanung mit Psychotherapeuten unterversorgt.

Vernetzung der Therapien klappt bisher nur in Modellprojekten

Hauths Rezept lautet: Vernetzung der Leistungserbringer. Denn die Anbieter sind vielfältig: Institutsambulanzen, niedergelassene Psychiater, Hausärzte, ambulante Pflege oder Psychotherapeuten – in einer derart zersplitterten Versorgungslandschaft bekommen gerade solche Patienten Probleme, die wegen ihrer psychischen Erkrankung etwa antriebsschwach sind und leicht an den Schnittstellen der medizinischen Versorgung scheitern, erklärte die Ärztin.

Darum sind niedrigschwellige Angebote notwendig, die den Patienten ins System schleusen. „Ambulantisierung ist gut“, sagte Hauth in diesem Zusammenhang. „Der Nachteil ist aber, dass die Niedergelassenen oft schlecht vernetzt sind.“

Bisher beschränken sich die gut vernetzen Angebote auf einige Modellprojekte. Zum Beispiel das regionale Psychiatrie-Budget in Schleswig-Holstein, das die Grenzen zwischen ambulanter, tagesklinischer und stationärer Behandlung überwindet. Wird die Versorgung hier durch die Klinik gesteuert, setzt die neurologisch-psychiatrische und psychotherapeutische Versorgung (NPPV) der KV Rheinland auf die Steuerung durch Vertragsärzte. 400 bis 800 Ärzte und Psychotherapeuten nehmen an der gestuften und koordinierten Versorgung teil und betreuen inzwischen 14.000 Patienten, so Hauth.

Der Münchner Allgemeinmediziner Gensichen setzt – wie eingangs berichtet – auf die Hausarztpraxis als Zentrum der Versorgung psychisch Kranker. Zum Beispiel bei der Versorgung von Angst-Patienten: Das so genannte Jena-PARADIES Projekt „ist ein niedrigschwelliges Behandlungs- und Übungsprogramm, mit dessen Hilfe Angst-Patienten (etwa mit Panikstörungen und Platzangst) wohnortnah und ambulant psychotherapeutisch behandelt werden können.

Die Hausarztpraxis als erster Behandlungsort liege nahe, weil die „Hausärzte für Angst-Patienten die ersten Ansprechpartner sind, und die Patienten ohne Behandlung oft extrem lange auf psychotherapeutische Hilfe warten müssten“ – durchschnittlich 12,5 Wochen. Damit sich die Erkrankung nicht verschlimmert und chronifiziert, könne der Hausarzt mit dem Paradies-Konzept eingreifen.

 
Ambulantisierung ist gut. Der Nachteil ist aber, dass die Niedergelassenen oft schlecht vernetzt sind. Dr. Iris Hauth
 

Das Paradies-Konzept (Patient Activation foR Anxiety DisordErS – PARADIES) arbeitet mit kognitiver Verhaltenstherapie: Der Hausarzt führt mit dem Patienten zunächst 4 Checklisten-gestützte Gespräche. Während der Gespräche probieren Arzt und Patient Übungen aus, in denen sich der Patient der gefürchteten Situation kontrolliert aussetzt und allmählich lernt, seine Angst zu kontrollieren.

Schließlich gibt der Hausarzt dem Patienten Übungsanleitungen gegen die Angst mit nach Hause. Die eigens geschulten Medizinischen Fachangestellten (MFA) rufen dann regelmäßig beim Patienten an und arbeiten einen festen Fragebogen zu den Übungen mit ihm ab und motivieren ihn „dranzubleiben“.

„Man kann psychisch Erkrankte gut in der Hausarztpraxis versorgen“

Das Projekt hat bereits einen Vorläufer, der belegt, dass hausarzt-basierte Konzepte auch für andere psychische Krankheiten funktionieren. Die PRoMPT-Studie (Primary Care Monitoring for depressive Patients Trial) zeigt, wie Depressionen Hausarzt-basiert mit einem niedrigschwelligen Case Management besser ambulant behandelt werden können, hieß es.

 
Hausärzte sind für Angst-Patienten die ersten Ansprechpartner. Prof. Dr. Jochen Gensichen
 

Die Arbeit mit Angst-Patienten in der Hausarztpraxis jedenfalls tut offenbar nicht nur den Patienten gut. „Die Patienten erfahren durch die Anrufe, dass sie nicht verloren gehen, und den Ärzten gibt das System mehr Sicherheit und mehr Zeit für die eigentliche Versorgung“, sagte Gensichen. Zudem blieben die Krankheitsverläufe besser im Blick, und auch die professionelle Kommunikation im Team verbessere sich. Man könne psychisch Erkrankte gut in der Hausarztpraxis versorgen, resümiert Gensichen, „ohne die Praxis mit neuen großartigen Ideen vollzupacken.“

 

Kommentar

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