MEINUNG

Online-Behandlung – Himmel oder Hölle für Hausärzte? „30 bis 40 Prozent der Patientenkontakte könnten online stattfinden.“ 

Ute Eppinger

Interessenkonflikte

23. Mai 2018

Mit großer Mehrheit hat der Deutsche Ärztetag für die Lockerung des Fernbehandlungsverbots gestimmt. Wie wird die Entscheidung den Alltag in der Praxis verändern? Wer profitiert mehr von der Online-Sprechstunde – Arzt oder Patient? Wie rentabel ist sie? Darüber sprach Medscape mit Dr. Michael Gurr. Er ist Facharzt für Allgemeinmedizin, Diabetologie und Notfallmedizin in Eisenberg, in Rheinland-Pfalz. Als Landarzt bietet er seinen Patienten seit über 2 Jahren ein Online-Sprechzimmer an. Mit dem Projekt hatte er Anfang 2017 einen bundesweiten Innovationspreis in Berlin gewonnen.

Medscape: Was halten Sie von der Entscheidung der Bundesärztekammer, den deutschen Gesundheitsmarkt für die telemedizinische Erstbehandlung von Patienten zu öffnen? War das überfällig?

Dr. Gurr: Eine reine Fernbehandlung von unbekannten Patienten ist aus meiner langjährigen ärztlichen Erfahrung immer die qualitativ schlechtere Lösung. Die nicht ausschließliche Fernbehandlung von Patienten, die ihren Arzt auch persönlich kennen, war nach der ärztlichen Berufsordnung ja auch vorher schon möglich. Meines Erachtens gibt es drängendere Probleme im Gesundheitswesen.

Eine reine Fernbehandlung von unbekannten Patienten ist aus meiner langjährigen ärztlichen Erfahrung immer die qualitativ schlechtere Lösung. Dr. Michael Gurr

Mit dieser Entscheidung werden meiner Meinung nach nur Begehrlichkeiten bei Patienten geweckt, sich eine Zweit- und Drittmeinung einzuholen, die von den Kassen teurer bezahlt werden muss. Im Zweifelsfall suchen sie dann zum Flat-Rate-Tarif doch wieder den – eh schon überlasteten – Haus- und/oder Facharzt ihres Vertrauens auf.

Medscape: Sie haben also Sorge, dass nur zusätzliche Kosten entstehen ohne Zusatznutzen für die Beteiligten?

Dr. Gurr: Im Durchschnitt konsultieren deutsche Patienten 18 Mal pro Jahr einen Arzt. Im übrigen Europa bzw. im Ausland liegt die Zahl bei vier bis fünf Kontakten pro Jahr. Diese unglaublich hohe Inanspruchnahme in Deutschland wird sich nicht verringern, wenn weiterhin alles zur Flatrate auf Chipkarte erhältlich ist und ordnungspolitisch keine systemstrukturellen Änderungen durchgeführt werden. Außerdem stehen Firmen und Konzerne in den Startlöchern um den – noch nicht vorhandenen – Telemedizin-Markt aufzumischen. Das kann und wird nur teurer bei schlechter Qualität werden.

Medscape: Wie kam es denn dazu, dass Sie Online-Konsultationen anbieten?

Dr. Gurr: Ich habe schon im Jahr 2011 mit Hans-Georg Schleißinger, einem befreundeten Informatiker, die Idee gehabt, ein wirklich zeit- und ortsunabhängiges schriftliches Portal zu entwickeln, welches datensicher, einfach und intuitiv in der Bedienung ist. Über ein Online-Bezahlsystem wird jeder abgeschlossene Arzt-Patienten-Kontakt privat vergütet.

Dabei haben wir bewusst keine App entwickelt, sondern ein Internetportal mit sogenannten "responsive design", also einer optimierten Darstellung für alle Endgeräte. So entstand "meinarztdirekt.de" als zeitasynchrone digitale Kommunikationsmöglichkeit zwischen Arzt und (bekanntem) Patient. Ärzte und Patienten können sich einfach registrieren. Patienten brauchen zusätzlich noch einen Zugangscode von ihrem Arzt. Damit wird nochmal die Sicherheit erhöht, auch weil Passwort, E-Mail-Adresse und Zugangscode einmalig verknüpft sind. Seit über zwei Jahren ist jetzt "meinarztdirekt.de" bei mir und anderen Ärzten erfolgreich im Einsatz.

Medscape: Warum keine App?

Dr. Gurr: Dies bedeutet immer Speicherung von Daten auf dem Endgerät.

Medscape: Was schätzen Sie an den Online-Sprechstunden?

Dr. Gurr: Bei meiner Lösung schätze ich, dass ich die Anfragen der Patienten zeitversetzt beantworten kann. Also dann, wenn es in meinen Tagesablauf passt. Natürlich funktioniert das auch von jedem Endgerät und jedem Ort. Die Patienten formulieren schriftlich ihre Anfragen und ich antworte auch schriftlich, was wesentlich nachhaltiger ist. Rückfragen pro Chat sind natürlich beiderseits möglich. Langfristig kann ich meine Präsenzsprechstunde damit entlasten.

Langfristig kann ich meine Präsenzsprechstunde damit entlasten. Dr. Michael Gurr

Medscape: Wie kommen die Online-Konsultationen bei Ihren Patienten an, ist das vom Alter der Patienten abhängig?

Dr. Gurr: Die Patienten, die "meinarztdirekt.de" am häufigsten nutzen sind zwischen 50 und 60 Jahre alt. Viele, die einmal das Portal genutzt haben, fragen danach immer wieder online an. Unsere Online-Sprechstunde kommt also sehr gut an. Insgesamt sind die Patienten noch zurückhaltend – entgegen den Aussagen vieler angeblich repräsentativer Umfragen.

Medscape: Sie behandeln online nur Patienten, die bereits in Ihrer Praxis waren, richtig? Welche Patienten kommen denn besonders dafür infrage?

Dr. Gurr: Ja, ich behandle nur Patienten die ich persönlich kenne. Infrage kommen im Prinzip alle Patienten jeder Altersgruppe, die auch sonst im Internet unterwegs sind. Es können alle Anfragen beantwortet werden, bei denen keine Untersuchung oder aus anderen Gründen ein persönlicher Kontakt erforderlich ist.

Medscape: Ärztekammerpräsident Montgomery sagte zur Videosprechstunde, dass "neue Methoden mit Kamera und Videoübertragung Vieles deutlich erleichtern können, ohne Anreise und Wartezeiten". Der Berufsverband der Deutschen Dermatologen (BVDD) hält die Videosprechstunde in ihrer jetzigen Form allerdings für "gescheitert" und verweist auf aktuelle Daten zur realen Nutzung. Sie zeigen, dass die Videosprechstunde bundesweit so gut wie nicht erbracht wird. Sie bieten in Ihrer Praxis ja bewusst keine Videokontakte an – halten Sie diese generell für wenig sinnvoll?

Dr. Gurr: Videokonsultationen sind zeitabhängig, das heißt, der Arzt muss hierfür auch Sprechstundenzeiten reservieren bzw. wird in seiner aktuellen Tätigkeit unterbrochen. Zudem kosten die Videokontakte nach Erfahrung vieler Kollegen meist mehr Zeit als kleinere Kurzkontakte in der Praxis. Die Videobildqualität ist oft schlecht. Bei unserem Portal ist es möglich hochaufgelöste Fotos anzuhängen. Der Nutzen bei Videokontakten liegt hauptsächlich auf Patientenseite.

Medscape:: Wie viel Zeit nehmen Online-Sprechstunden bei Ihnen in Anspruch?

Dr. Gurr: Derzeit ist das noch wenig Zeitaufwand, maximal ein bis zwei Stunden in der Woche.

Medscape: Durch telemedizinische Leistungen könnten schätzungsweise etwa ein Drittel aller Arzttermine aufgefangen werden – schreibt David Meinertz von DrEd. Ist das auch Ihre Erfahrung?

Dr. Gurr: Dies ist auch meine Erfahrung. Mindestens 30 bis 40 Prozent aller Arzt-Patienten-Kontakte, zumindest im hausärztlichen Bereich, könnten online stattfinden.

Medscape: Sind Online-Sprechstunden gerade auch auf dem Land ein wichtiges Mittel um die Praxis zu entlasten und auch den Patienten entgegen zu kommen?

Dr. Gurr: Ja, teilweise. Das Problem im ländlichen Bereich ist komplexer. Online-Sprechstunden sind als Lösung hier überbewertet und eher zweitrangig. Ich bin seit 15 Jahren als Landarzt niedergelassen.

Medscape: Wie werden Online-Konsultationen denn generell honoriert? Auf dem Ärztetag wurde da ja einiger Unmut laut.

Dr. Gurr: Die EBM-Vergütung von Online-Video-Sprechstunden ist nicht mal kostendeckend. Wir haben von Anfang an bei "meinarztdirekt.de" auf eine Direktabrechnung nach der Gebührenordnung für Ärzte (GOÄ) gesetzt. Der Patient, der die Online-Sprechstunde in Anspruch nimmt, bezahlt nach Abschluss einer Online-Konsultation bequem per Online-Bezahlsystem. Die Online-Konsultationen werden noch nicht von den gesetzlichen Kassen bezahlt. Privatpatienten können die Rechnung ausdrucken, bei ihrer Kasse einreichen und bekommen diese auch erstattet. Wir sind derzeit in Verhandlungen mit gesetzlichen Krankenkassen um Erstattungs- und Vergütungslösungen zu finden.

Medscape: Welche technischen Voraussetzungen braucht man, um mit einer Online-Sprechstunde zu starten?

Dr. Gurr: Der Aufwand bei "meinarztdirekt.de" ist sehr gering, da es sich um eine Portal-Lösung handelt, die keine Installation auf einem Rechner bedarf und von jedem Endgerät aus einfach zu bedienen ist. Es ist eine Stand-alone-Lösung. Arzt und Patient müssen sich lediglich registrieren.

Medscape: Denken Sie, dass in absehbarer Zeit auch die gesetzlichen Kassen die Kosten für Online-Sprechstunden übernehmen?

Dr. Gurr: Ja. Wir sind gerade im Kontakt mit den gesetzlichen Kassen um hier eine innovative Lösung zu finden.

Medscape: Wird die Aufhebung des Fernbehandlungsverbots die Akzeptanz der Telemedizin in der Ärzteschaft erhöhen?

Es ist ein langsamer Prozess und meine ärztlichen Kollegen sind zu Recht von Natur aus skeptisch. Dr. Michael Gurr

Dr. Gurr: Möglicherweise etwas, aber nicht in dem Maße wie es interessierte Kreise hoffen und vermuten. Es ist ein langsamer Prozess und meine ärztlichen Kollegen sind zu Recht von Natur aus skeptisch. Die Lösungen, egal ob reine Fernbehandlung oder nicht ausschließliche Fernbehandlung funktionieren nur, wenn eine win-win-win-Situation eintritt – für den Patienten, für den Arzt und für die Kostenträger.

 

Kommentar

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