Neue Leitlinie „Diabetes im Alter“: Welche Ziele gelten – und wie man sie am besten erreicht

Sonja Böhm

Interessenkonflikte

22. Mai 2018

Berlin – Leitlinien für ältere Menschen mit Diabetes sind ohne Frage wichtig: Jeder 2. Diabetiker in Deutschland ist über 70 Jahre alt. Doch eine solche Leitlinie zu formulieren ist gar nicht so einfach, wurde bei der Präsentation der neuen Version auf der Jahrestagung der Deutschen Diabetes Gesellschaft (DDG) in Berlin deutlich [1].

Eigentlich sollten systematische Literaturrecherchen der Publikationen der vergangenen 10 Jahre die Basis der geplanten evidenzbasierten S3-Leitlinie sein. Kurzfristig schwenkten die Verfasser dann aber auf eine S2k-Konsensus-Leitlinie „Diabetes im Alter“ um. Die Studienlage sei einfach nicht ausreichend gewesen, berichtete die Leitlinien-Koordinatorin PD Dr. Anke Bahrmann, Universitätsklinikum Heidelberg, in Berlin.

Doch auch die Formulierung der Leitlinie im Konsens der 7 beteiligten Fachgesellschaften war nicht ganz komplikationslos: Die Deutsche Gesellschaft für Allgemeinmedizin (DEGAM) und die Deutsche Gesellschaft für Pflegewissenschaft e.V. (DGP) wollten in einigen Punkten den Konsens nicht mittragen und gaben ein Sondervotum ab.

Alte Einteilung der Funktionsstufen war etwas zu salopp

Was steht nun drin in der neuen Leitlinie? Schon in der früheren Fassung waren die Therapieziele individuell am Fitness-Zustand der Patienten und nicht am chronologischen Alter festgemacht worden. Doch die etwas saloppe Einteilung in Go-Gos (noch sehr beweglich), Slow-Gos (etwas eingeschränkt) und No-Gos (kaum noch beweglich) hat man nun wieder aufgegeben. Dies wohl auch aus „Political Correctness“-Gründen.

Die neue Leitlinie unterscheidet nun 4 Gruppen: 1) funktionell unabhängige ältere Menschen mit Diabetes, 2) funktionell leicht abhängig, 3) funktionell stark abhängig und 4) Menschen, die sich in der unmittelbaren Sterbephase befinden.

Neu ist, wie Bahrmann berichtete, dass die Lebensqualität als Therapieziel stärker in den Fokus gerückt wird. Es geht vor allem darum, akute Komplikationen wie Hypoglykämien zu vermeiden, der HbA1c-Wert hat als Therapieziel eher untergeordnete Bedeutung. Hauptziel ist, funktionelle Beeinträchtigungen, aber auch Multimedikation und Nebenwirkungen gering zu halten und die Kompetenz der Patienten zu sichern.

Ziel-Korridore, mit denen aber nicht alle einverstanden waren

Für die Blutzucker-Einstellung werden in der Leitlinien Ziel-Korridore formuliert, die sich an der verbleibenden Lebenserwartung orientieren. Das bedeutet:

  • Funktionell unabhängige Senioren mit einer voraussichtlichen Lebenserwartung von mindestens 15 Jahren werden wahrscheinlich noch von Vorteilen einer intensiveren Diabetestherapie profitieren. Für sie liegt der HbA1c-Korridor laut Leitlinie bei 6,5 bis 7,5%; die Blutzuckerwerte vor den Mahlzeiten sollten 100 bis 125 mg/dl (5,6–6,9 mmol/l) betragen.

  • Für funktionell leicht abhängige Patienten (Lebenserwartung weniger als 15 Jahre, sehr alt oder multimorbide oder kognitiv bereits leicht eingeschränkt) definiert die Leitlinie einen HbA1c-Korridor von unter 8%. Diese Patienten werden wahrscheinlich von den Vorteilen einer strikteren Blutzuckersenkung nicht mehr profitieren, sind aber durch Hypoglykämien oder Stürze besonders gefährdet. Präprandial wird für diese Patienten ein Blutzucker-Bereich zwischen 100 und 150 mg/dl (5,6–8,3 mmol/l) empfohlen.

  • Pflege-abhängige oder kognitiv stark eingeschränkte Patienten mit begrenzter Lebenserwartung sollten einen HbA1c-Wert unter 8,5% anstreben und einen Blutzucker vor den Mahlzeiten zwischen 110 und 180 mg/dl.

  • Am Lebensende sind die Therapieziele individuell festzulegen – mit dem Hauptziel Symptomfreiheit.

Dazu haben DEGAM und DGP jedoch ein Sondervotum abgegeben. Sie sehen die HbA1c-Ziele noch weniger strikt. Nach ihren Empfehlungen spielt der HbA1c-Wert nur bei funktionell unabhängigen älteren Diabetikern eine Rolle – bei den übrigen Gruppen mit funktioneller Einschränkung gehe es nur um die Symptomfreiheit.

Dabei unterscheiden sie auch je nach Therapie: Mit Metformin könne bei den gesünderen Senioren ein HbA1c zwischen 7 und 8% angestrebt werden, bei guter Verträglichkeit eventuell auch darunter. Bei einer Therapie mit Insulin, Sulfonylharnstoffen oder Mehrfachkombinationen – sehen sie den Korridor bei 7 bis 8,5%, eventuell bei Symptomfreiheit auch bis 9%.

Auch immer mehr Senioren mit Typ-1-Diabetes

Übrigens gelten die neuen Leitlinien auch für alte Menschen mit Typ-1-Diabetes, von denen es zunehmend mehr gibt. So sind heute bereits über 100.000 Menschen in Deutschland mit Typ-1-Diabetes älter als 70 Jahre. Bahrmann verwies darauf, dass ein Typ-1-Diabetes sich durchaus auch erst im hohen Lebensalter manifestieren könne. Hinweise seien „fehlende metabolische Stigmata“ wie Hypertonie, Hyperlipidämie und Adipositas, aber auch ein frühes „Sekundärversagen“ der oralen Therapie sowie eine ausgeprägte Polyurie bzw. Polydipsie.

Bei Menschen mit langjährigem Typ-1-Diabetes sei es oft schwierig, die Therapie im Alter „herunterzufahren“, wenn sie funktionelle Einschränkungen entwickeln. Viele möchten gerne bei den komplexen Insulintherapien bleiben, die sie gewohnt waren, berichtete Bahrmann. Generell seien aber, gerade beim Nachlassen der kognitiven Fähigkeiten, einfachere Therapieschemata zu bevorzugen.

Um die geistige Flexibilität und Funktionalität wenig aufwendig zu prüfen, empfiehlt die Leitlinie z.B. den Geldzähltest nach Nikolaus, mit dessen Hilfe sich gut abschätzen lasse, ob ein Patient noch ausreicheichende Fähigkeiten für eine selbstständige Insulin-Therapie habe.

Orale Antidiabetika: Spezifische Vorzüge, aber auch Risiken

Was die orale Diabetes-Therapie angeht, verweist die Leitlinie auf die besonderen Vorzüge, aber auch Nachteile der verschiedenen verfügbaren Substanzen. Diese stellte Dr. Alexander Friedl, Ärztlicher Leiter am Geriatrie Zentrum Stuttgart, in Berlin vor:

  • Bei den Sulfonylharnstoffen sind Nachteile vor allem mögliche Hypoglykämien und Gewichtszunahmen.

  • In beiden Aspekten sind DPP-4-Hemmer besser, doch gibt es FDA-Berichte über schwere, zum Teil behindernde Gelenkschmerzen unter den Gliptinen.

  • SGLT-können prinzipiell bei Senioren eingesetzt werden. Vorteile sind die günstigen kardiovaskulären Effekte, etwa von Empagliflozin, aber auch das niedrige Hypo-Risiko. Zu beachten ist, dass bei eingeschränkter Nierenfunktion ihre Wirkung reduziert ist und die Gefahr von Genitalinfektionen und Volumenmangel und Exsikkose gerade bei älteren Patienten besteht.

  • Auch GLP-1-Analoga können in Einzelfällen eingesetzt werden, wenn sie vertragen werden. Auch hier gibt es für einzelne Substanzen (Liraglutid, Semglutid) nachgewiesene günstige kardiovaskuläre Effekte, das Hypoglykämie-Risiko ist gering – und die Gewichtsreduktion wird erleichtert.

Metformin gilt auch bei den Senioren mit Diabetes als erste Wahl. Die Leitlinie empfiehlt das langsame Auftitrieren um vor allem gastrointestinale Nebenwirkungen gering zu halten. Und darauf, dass das Biguanid abgesetzt werden sollte, wenn das Risiko einer akuten Verschlechterung der Nierenfunktion besteht, etwa bei Kontrastmittelgabe, akuten Infekten und Exsikkose.

 

Kommentar

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