Die Einnahme von Paracetamol über einen längeren Zeitraum während der Schwangerschaft könnte das Risiko erhöhen, dass das Ungeborene später eine Autismus-Spektrum-Störung (ASS) oder eine Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) entwickelt. Diesen Schluss legt eine Studie nahe, die israelische Forscher im American Journal of Epidemiology veröffentlicht haben [1].
Wie das Team um Dr. Ilan Matok vom Institut für Arzneimittelforschung der School of Pharmacy an der Hebrew University’s Faculty of Medicine berichtet, ging eine längerfristige Einnahme des Medikaments in ihrer Untersuchung, die Daten von mehr als 130.000 Müttern und deren Kindern umfasste, mit einer Steigerung des relativen Risikos für eine ASS um mehr als 20% und des Risikos für eine ADHS um mehr als 30% einher.
Einen kausalen Zusammenhang kann die aktuelle Studie nicht aufzeigen

Prof. Dr. Dr. Tobias Banaschewski
„Es handelt sich um eine wissenschaftlich seriöse Metaanalyse, die jedoch nicht explizit behauptet, dass die häufige Einnahme von Paracetamol während der Schwangerschaft das Risiko erhöht, dass das Ungeborene später eine ASS oder ADHS entwickelt“, kommentiert Prof. Dr. Dr. Tobias Banaschewski, Ärztlicher Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters und stellvertretender Direktor des Zentralinstituts für Seelische Gesundheit in Mannheim. Eine Kausalität sei aus der Untersuchung nicht ableitbar. „Vielmehr findet die Studie eine statistische Assoziation zwischen der Einnahme von Paracetamol und einem erhöhten Risiko für ASS oder ADHS beim Kind“, betont Banaschewski im Gespräch mit Medscape.

Prof. Dr. Marcel Romanos
Im Tiermodell habe man experimentell bislang keine Hinweise gefunden, dass Paracetamol in der Schwangerschaft das Risiko für eine ASS oder ADHS erhöhe, ergänzt Prof. Dr. Marcel Romanos, Direktor der Klinik und Poliklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie am Universitätsklinikum Würzburg, gegenüber Medscape. „Das beweist zwar nicht, dass die gefundene Assoziation unzutreffend ist – aber andererseits haben wir auch weiterhin keine kausalen Belege.“
Denkbar ist auch, dass die mütterlichen Schmerzen das Risiko der Kinder erhöhen
Derzeit reiche die Datenlage nicht aus, um bei werdenden Müttern die Einnahme von Paracetamol grundsätzlich abzulehnen, sagt Romanos. „Es kann theoretisch sein, dass nicht das Medikament, sondern der Schmerz selbst den gefundenen Effekt ausübt.“ Schmerzen hätten eine Reihe hormoneller und physiologischer Konsequenzen im Körper der Frauen und könnten sich so womöglich auch auf die Kinder auswirken, gibt der Mediziner zu bedenken.
Außerdem lasse es sich bei der jetzigen Datenlage nicht sicher ausschließen, dass es eine Konfundierung – also eine Verzerrung der Ergebnisse – durch mütterliches ADHS gebe, sagt Romanos: „Schwangere Frauen mit ADHS neigen womöglich eher dazu, zu Medikamenten zu greifen, als werdende Mütter ohne diese Erkrankung.“
Mehr als 130.000 Mutter-Kind-Paare wurden insgesamt untersucht
Paracetamol ist eines der am häufigsten empfohlenen Medikamente, um Schmerzen oder Fieber während einer Schwangerschaft zu lindern. Allerdings hatten zuletzt einige Studien darauf hingedeutet, dass eine längerfristige Einnahme des Schmerzmittels die Entwicklung des fetalen Nervensystems schädigen könnte – und dass dieser Effekt womöglich erst Jahre später im Kindesalter sichtbar wird.
Um diese Vermutung zu überprüfen, haben der Erstautor der israelischen Studie, Reem Masarwa aus der Arbeitsgruppe von Matok, und seine Kollegen 7 retrospektive Kohortenstudien mit insgesamt 132.728 Mutter-Kind-Paaren analysiert, die bis Januar 2017 veröffentlicht worden waren. Die Beobachtungszeit der Probanden lag zwischen 3 und 11 Jahren. Es ist die erste Metaanalyse, die den Zusammenhang zwischen einer Paracetamol-Einnahme während der Schwangerschaft und einer ASS oder ADHS beim Kind untersucht hat.
Wie die Forscher um Masarwa herausfanden, stieg bei einer Einnahme von Paracetamol, die nicht nur wenige Tage betrug, das relative Risiko für eine ASS beim Kind um 23% und das für eine ADHS um 32%. Das Risiko war umso höher, je älter das Kind war und je länger die Mutter während der Schwangerschaft das Schmerzmittel eingenommen hatte.
Eine kurzfristige Einnahme von Paracetamol gilt weiterhin als unbedenklich
Die Forscher um Masarwa und Matok betonen selbst jedoch auch, dass ihre Ergebnisse aufgrund einiger Limitationen der analysierten Studien mit Vorsicht zu behandeln seien, um keine unnötigen Ängste bei schwangeren Frauen aufkommen zu lassen. Es sei wichtig zu wissen, dass auch Schmerzen und Fieber während der Schwangerschaft schädliche Auswirkungen auf den sich entwickelnden Fetus haben könnten und dass Paracetamol nach wie vor als ein sicheres Medikament auch in der Schwangerschaft gelte, werden die Wissenschaftler in einer Pressemitteilung der Hebrew University of Jerusalem zitiert.
Aus diesem Grund könne eine schwangere Frau bei Schmerzen oder Fieber auch weiterhin über einen kurzen Zeitraum hinweg Paracetamol einnehmen, so die israelischen Forscher. Sollten die Beschwerden jedoch mehrere Tage oder Wochen lang anhalten, sollte die Frau einen Arzt aufsuchen und mit ihm die weitere Behandlung besprechen, lautet die Empfehlung von Matok und seinen Kollegen.
Durch den Verzicht auf das Mittel lassen sich nur wenige ADHS-Fälle verhindern
Die deutschen Kollegen stimmen den Autoren der Studie diesbezüglich zu. „Ich denke ebenfalls, dass es auf der Basis dieser Analyse zu früh wäre, generelle gesundheitspolitische Konsequenzen zu ziehen“, sagt Banaschewski. „Weitere Forschung ist allerdings dringend notwendig. Und bis die Zusammenhänge eindeutig geklärt sind, sollte die Indikation für die Einnahme von Paracetamol während der Schwangerschaft zurückhaltend gestellt werden und die Frauen sollten das Medikament nicht dauerhaft einnehmen.“
„Wichtig ist allerdings, keine undifferenzierte Panik auszulösen“, betont Romanos. Schließlich sei der beobachtete Effekt klein, sodass durch den Verzicht auf Paracetamol – selbst wenn der Effekt vollständig kausal erklärbar wäre – nur sehr wenige Fälle von Autismus oder ADHS verhindert werden könnten: „Die allermeisten Kinder werden völlig unabhängig davon betroffen sein oder nicht.“
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Diesen Artikel so zitieren: Paracetamol – ein sicheres Medikament für Schwangere? Studie findet Assoziation mit Risiko für Autismus und ADHS beim Kind - Medscape - 16. Mai 2018.
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