Die neuen Empfehlungen des American College of Cardiology und der American Heart Association (ACC/AHA) zu niedrigeren Grenzwerten für die Diagnose und Behandlung von Bluthochdruck sind umstritten. Mehr als 3 Viertel der durch die US-Leitlinie neu als hypertensiv diagnostizierten Patienten werde hinsichtlich der kardiovaskulären Risikoreduktion nicht von den neuen Grenzwerten profitieren, kritisieren australische Wissenschaftler in einem Editorial in JAMA Internal Medicine [1].
Die neuen Richtlinien kategorisieren in den USA rund 31 Millionen Menschen als hypertensiv, deren Blutdruckwerte bislang noch als hochnormal galten. Für gut 4,2 Millionen Menschen bedeuten sie die Einleitung einer blutdrucksenkenden Behandlung. „In Deutschland würde die Anwendung der US-Empfehlungen etwa 10 Millionen zusätzliche Hochdruck-Patienten bedeuten“, schätzt Prof. Dr. Bernhard Krämer, Vorstandsvorsitzender der Deutschen Hochdruckliga, auf Nachfrage von Medscape. Allerdings geht der Hypertensiologe davon aus, dass sich derart niedrige Grenzwerte hierzulande nicht durchsetzen werden.
Verbesserung oder Gefahr?
Dr. Katy Bell von der Universität von Sydney und ihre Koautoren gingen der Frage nach, ob die neuen Empfehlungen für die kardiovaskuläre Gesundheit der potenziellen Hochdruck-Patienten nun eine Verbesserung oder eine Gefahr darstellen.
In der neuen ACC/AHA-Leitlinie gilt ein Blutdruck ab 130/80 mmHg als Hypertonie. Patienten mit hohem kardiovaskulärem Risiko – diejenigen mit einem errechneten 10-Jahres-Risiko für eine kardiovaskuläre Erkrankung über 10%, mit einer kardiovaskulären Vorerkrankung, Nierenerkrankung oder Diabetes – sollen ab diesem Wert bereits behandelt werden. Hypertensive Patienten, die kein hohes kardiovaskuläres Risiko haben, sollen ab 140/90 mmHg therapiert werden.
In der Vorgängerleitlinie – herausgegeben vom Joint National Committee on Prevention, Detection, Evaluation, and Treatment of High Blood Pressure (JNC7) – lag der diagnostische Grenzwert noch bei 140/90 mmHg, ebenso wie der Grenzwert für eine Behandlung. Nur für Patienten mit Diabetes oder Nierenerkrankung wurde eine Behandlung ab 130/80 mmHg empfohlen.
„Krank“, aber nur mit geringem Erkrankungsrisiko
„ACC und AHA haben den Grenzwert für die Diagnose einer Hypertonie für alle Menschen gesenkt, doch den Grenzwert für die Behandlung bzw. den Zielwert bei laufender Behandlung nur für diejenigen mit hohem kardiovaskulären Erkrankungsrisiko“, schreiben Bell und ihre Kollegen. Eine in dieser Weise erweiterte Definition führe dazu, dass Menschen als krank eingestuft würden, die in Wirklichkeit nur ein geringes Erkrankungsrisiko hätten.
Anhand von publizierten Studiendaten rechnen Bell und ihre Kollegen vor, welche absolute Risikoreduktion Patienten, die den neuen Richtlinien zufolge hypertensiv sind, zu erwarten haben.
Grundsätzlich hänge der Nutzen einer Blutdrucksenkung vom bestehenden kardiovaskulären Erkrankungsrisiko des Patienten ab, so die australischen Wissenschaftler. In einer Metaanalyse der Blood Pressure Lowering Treatment Trialists’ Collaboration (BPLTTC) hatten die Patienten – in Quartile eingeteilt – etwa ein 10-Jahres-Risiko von 12%, 24%, 35% und 54%.
Bei einer Blutdrucksenkung um 5 bis 7 mmHg über 5 Jahre sank das absolute kardiovaskuläre Erkrankungsrisiko um 1,4%, 2,0%, 2,4% und 3,8%. „Anders ausgedrückt: Man muss bei 27, 42, 50 und 72 Patienten den Blutdruck um 5 bis 7 mmHg senken, um bei einer Person ein kardiovaskuläres Ereignis zu verhindern“, so Bell und ihre Kollegen.
Absolute Risikoreduktion meist gering
Eine besonders große Rolle spielte die SPRINT-Studie für die neuen US-Empfehlungen (wie Medscape berichtete). Das 10-Jahres- Risiko der teilnehmenden Patienten lag bei über 20%. Durch eine Senkung des Blutdruckes um 15 mmHg über 3,3 Jahre wurde eine absolute Risikoreduktion um 1,6% erreicht. In SPRINT mussten somit 63 Personen behandelt werden, um ein kardiovaskuläres Ereignis zu verhindern.
Im Gegensatz dazu zeigten die Teilnehmer der HOPE-3-Studie – sie hatten ein 10-Jahres-Risiko von 10% – mit einer Blutdrucksenkung um 6 mmHg über 5,6 Jahre keine kardiovaskuläre Risikoreduktion (wie Medscape berichtete).
„Die neue US-Leitlinie bezieht sich zu einem großen Teil auf die SPRINT-Studie“, so Krämer. Doch obwohl die Publikation schon Jahre zurück liegt, gibt es zu SPRINT auch heute noch Unklarheiten.“ Größter Kritikpunkt sei die Uneinheitlichkeit der Messmethode in den verschiedenen Studienzentren, berichtet der Direktor der V. Medizinischen Klinik (Nephrologie, Hypertensiologie, Endokrinologie, Diabetologie, Rheumatologie) am Universitätsklinikum Mannheim.
Messung entscheidend
Die Messung des Blutdruckes ist auch Bell und ihren Kollegen zufolge ein Knackpunkt, sowohl in der SPRINT-Studie als auch im Praxisalltag. „Der systolische Blutdruck ist nur schlecht reproduzierbar, bei wiederholten Messungen in verschiedenen Kliniken liegt die Standardabweichung bei 10 mmHg.“
Ein großer Teil aller erwachsenen Menschen habe einen systolischen Blutdruck nahe des Grenzwertes von 130 mmHg. Die inhärente Variabilität des Blutdruckes erhöhe deshalb die Wahrscheinlichkeit, dass eine Hypertonie diagnostiziert wird.
„Um Patienten richtig einzustellen, ist deshalb ein Blutdrucktagebuch mit Selbstmessungen des Patienten sehr wichtig“, betont Krämer. „Diese Blutdruckwerte sind viel repräsentativer für die Einstellung und für das Risiko des Patienten, als der Blutdruck, der sporadisch in der Sprechstunde gemessen wird.“
80 Prozent ohne Nutzen
Bell und ihre Koautoren zitieren eine in Circulation erschienene Arbeit: Bereits kurz nach dem Erscheinen der neuen Empfehlungen rechnete eine US-Arbeitsgruppe darin aus, dass sie für 80% der betroffenen Menschen – diejenigen mit einem 10-Jahres-Risiko unter 10% – keinen Nutzen haben würden.
Weitere 11% der neu diagnostizierten Patienten – diejenigen mit einem 10-Jahres-Risiko von 10 bis 20% – werden demnach einen bescheidenen Benefit davontragen, eine absolute Risikoreduktion über 5 Jahre um 1,4%.
Nur bei den restlichen 9% ist den Berechnungen zufolge ein größerer Benefit zu erwarten, eine absolute Risikoreduktion über 5 Jahre um 2,0 bis 3,8%: Das sind die Patienten mit einem 10-Jahres-Risiko über 20% oder mit einer kardiovaskulären Vorerkrankung.
Negative Konsequenzen berücksichtigen
Bell und ihre Kollegen plädieren allerdings dafür, nicht nur den möglichen Nutzen für die Patienten, sondern auch negative Konsequenzen von Diagnose und Behandlung zu berücksichtigen. „Einer Person den Stempel ‚Bluthochdruck‘ aufzudrücken, erhöht das Risiko von Angstzuständen und Depressionen im Gegensatz zu Personen mit demselben Blutdruck, denen kein Bluthochdruck attestiert wird“, nennen sie einen potenziellen Nachteil einer erweiterten Hochdruck-Definition.
Manche argumentieren an dieser Stelle, dass die Diagnose Hypertonie als eine Art Schuss vor den Bug auch dazu dienen könnte, Patienten zur Umsetzung von Lebensstiländerungen zu motivieren. Allerdings sei es auch ohne das Label Bluthochdruck möglich, Patienten mit hochnormalen Blutdruckwerten von der Notwendigkeit eines gesünderen Lebensstils zu überzeugen, meint Krämer. „Das hängt davon ab, wie ich mich als Arzt kümmere und wie ich versuche, es meinem Patienten zu erklären.“
Die Autoren um Bell weisen darüber hinaus darauf hin, dass eine blutdrucksenkende Therapie mit Medikamenten bzw. eine Therapieintensivierung auch mit Nebenwirkungen assoziiert sei. „In SPRINT war die Rate schwerwiegender Nebenwirkungen in der intensiv behandelten Gruppe um 2 Prozent höher als in der Gruppe mit Standardtherapie. In HOPE-3 war die Rate an Patienten, die die Einnahme von Medikamenten dauerhaft einstellten, unter aktiver Therapie um 0,8 Prozent höher“, so Bell und ihre Kollegen.
Die Bilanz der australischen Wissenschaftler lautet: Die meisten Patienten, die nur nach der neuen Leitlinie hypertensiv sind, werden keinen Nutzen hinsichtlich kardiovaskulärer Risikoreduktion haben, aber potenzielle Nachteile durch die Diagnose und Behandlung.
Kein Label verpassen!
„Ärzte sollten diesen Menschen nicht das Label hypertensiv verpassen. Sie sollten sie weiterhin zu einem gesunden Lebensstil ermuntern, und dies unabhängig davon, ob der systolische Blutdruck des Patienten über oder unter 130 mmHg liegt“, so Bell und ihre Kollegen.
Bei Menschen mit hohem kardiovaskulärem Risiko oder kardiovaskulärer Vorerkrankung überwiegen die Vorteile möglicherweise die Nachteile, sie könnten netto betrachtet von der neuen Leitliniendefinition profitieren. Bei Menschen mit neu diagnostizierter Hypertonie, die zwischen diesen beiden Extremen liegen, werden sich Vor- und Nachteile der neuen ACCF/AHA-Leitlinie wohl grob die Waage halten.
„Einige Menschen sind bereit, ein moderat erhöhtes kardiovaskuläres Risiko in Kauf zu nehmen, wenn sie dafür nicht täglich Medikamente, höhere Dosen oder mehr Pillen schlucken müssen und andere nicht“, so Bell und ihre Kollegen. Eine sorgfältige Aufklärung des Patienten und eine gemeinsame Entscheidungsfindung über das weitere Vorgehen seien deshalb essentiell.
Ob die niedrigeren Grenzwerte für Bluthochdruck auch etwas für Europa bzw. Deutschland wären, wird derzeit noch diskutiert. Krämer geht allerdings davon aus, dass „alles im Wesentlichen so bleiben wird, wie es ist. Es gibt eine Subgruppe von Patienten mit sehr hohem Risiko, für die ein etwas niedrigerer Zielblutdruck von 135/85 empfohlen wird, doch für alle anderen Patienten bleibt es bei einem Grenzwert von 140/90 mmHg.“
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Diesen Artikel so zitieren: US-Leitlinie mit niedrigeren Hypertonie-Grenzwerten: 3 von 4 neu als hochdruckkrank Eingestufte profitieren nicht - Medscape - 15. Mai 2018.
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