Mannheim – Die Adipositas-Chirurgie wird in vielen Veröffentlichungen als Erfolgs-Story gefeiert. Immer mehr Chirurgen bieten bariatrische Eingriffe an. In manchen Bundesländern sind die Kassen sehr leicht zu überzeugen, die hohen Kosten für den Eingriff zu übernehmen. In anderen, wie etwa in Bayern, ist dies sehr viel schwieriger. Über die Schattenseiten spricht man wenig. Wie es Patienten, die nicht an Studien mit intensiver Betreuung teilnehmen, nach einer solchen Operation geht, wird kaum über einen langen Zeitraum beobachtet.

Dr. Klaus Winckler
Wenn man die Folge-Probleme einer OP nicht rechtzeitig erkennt und behandelt, droht vielen Patienten ein zweiter Eingriff, sagt der Internist und Hausarzt Dr. Klaus Winckler. Er leitet eine Schwerpunktpraxis für Ernährungsmedizin in Frankfurt. Der Mediziner hat sich als einer von wenigen Niedergelassenen in Deutschland auf die Nachbetreuung nach Adipositas-Chirurgie spezialisiert und arbeitet mit 3 chirurgischen Zentren im Raum Frankfurt zusammen. Auf der Jahrestagung der Gesellschaft für Innere Medizin in Mannheim warnte Winckler in seinem Vortrag, dass der Leidensweg vieler XXL-Patienten nach einer OP noch lange nicht zu Ende ist. Auch weil sich um die Nachsorge bisher kaum jemand kümmert. Erst langsam entstehen Modellprojekte, die operierte Patienten mit Problemen in einem Netzwerk aus Spezialisten auffangen wollen.
Medscape: Mit welchen Folgen haben Patienten nach einer bariatrischen OP zu kämpfen?
Dr. Winckler: Die Portionen, die man essen darf, sind sehr, sehr klein. Der Restmagen hat die Größe einer Espressotasse. Es können zum Beispiel neue Nahrungsmittel-Unverträglichkeiten auftreten. Vielen fällt es schwer, eine bedarfsgerechte, ausgewogene Ernährung hinzubekommen.
Medscape: Worauf sollten Hausärzte besonders achten, wenn Sie einen Patienten mit einem verkleinerten Magen betreuen?
Dr. Winckler: Er sollte sich kundig machen über die besonderen Bedürfnisse solcher Patienten und dass sie dauerhaft ihre Supplemente nehmen. Bei den geringen Nahrungsmengen essen die Patienten oft zu wenig Eiweiß. Alle müssen zudem Vitamine und Mineralstoffpräparate einnehmen, um nicht in einen Mangel zu geraten.
Medscape: Oft bleibt es nicht bei einer Operation …
Dr. Winckler: Es gibt leider erst wenige Studien dazu. Eine aktuelle Analyse zeigt, dass die Rate der Re-Operationen nach 10 Jahren bei 20% liegt [2]. Manche Chirurgen sagen zu ihren Patienten, dass sie sich alle 7 Jahre wieder sehen würden.
Medscape: Was muss denn in der Regel bei solchen Re-Operationen korrigiert werden?
Dr. Winckler: Beim Schlauchmagen entsteht manchmal eine Reflux-Problematik. Es können sich innere Hernien bilden. Viele Patienten erleben nach einiger Zeit wieder eine Gewichtszunahme, weil sich der Magen wieder ausgedehnt hat. Dann erfolgen Umwandlungsoperationen. Bei anderen entwickeln sich so genannte „blind loops“, ausgeschaltete Darmschlingen, die sich dann wieder vergrößern. Die bariatrischen Operationen sind eben nur eine symptomatische Behandlung der Adipositas. Das eigentliche Grundproblem wird nicht behoben.
Medscape: Das heißt der Hausarzt sollte nicht den Irrtum begehen zu glauben, dass sich das Adipositas-Problem seines Patienten nach einer OP erledigt hat?
Dr. Winckler: Auf keinen Fall. Ich beobachte seit 10 Jahren selbst ein Kollektiv mit 119 Patienten, die eine bariatrische Operation erhalten haben. Von diesen mussten in diesem langen Zeitraum sogar 40 Prozent mindestens ein weiteres Mal operiert werden. Manche sogar öfter. Zugegeben, ich betreue sicher eine Auswahl an komplizierten Verläufen, weil es kaum Niedergelassene gibt, die sich mit der Thematik befassen. Und die Chirurgen wollen meistens in das Follow-up auch nicht allzu viel Zeit investieren.
Medscape: Mit welchen Problemen haben die operierten Patienten langfristig noch zu kämpfen?
Dr. Winckler: Die OPs ziehen viele Folgen nach sich. In den ersten zwei Jahren geht es den Patienten meistens sehr gut. Sobald das Plateau erreicht wird, die Gewichtsabnahme stoppt, oder die Patienten wieder zunehmen, kippt aber die positive Stimmung. Es kommen Essstörungen hinzu, Depressionen kehren zurück. Das ist eine sehr kritische Phase. Ganz wichtig ist, dass der Arzt mit seinem Patienten ein realistisches Ziel erarbeitet und ihn begleitet, damit er ihm rechtzeitig Unterstützung anbieten kann.
Medscape: Sind denn die Probleme den Patienten bewusst, die mit einer OP liebäugeln? Werden sie im Vorfeld von den Chirurgen, die in dem boomenden Geschäft tätig sind, auch ausreichend kommuniziert?
Dr. Winckler: In einem Register, das das Deutsche Ärzteblatt veröffentlicht hat, wurde aufgeführt, dass im Zeitraum von 2005 bis 2016 in Deutschland 45.000 Patienten eine bariatrische Operation erhalten haben. Wir gehen davon aus, dass pro Jahr inzwischen sogar 12.000 bis 15.000 neue Patienten operiert werden. Es gibt inzwischen rund 40 von der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie zertifizierte Zentren. Von daher werden die Zahlen mit Sicherheit noch steigen. Entscheidend ist, dass Patienten gut darauf vorbereitet werden, was auf sie zukommt, und das geschieht momentan häufig leider nicht so.
Ein Pilotprojekt zur besseren Vorbereitung der Patienten läuft derzeit in einigen chirurgischen Zentren, wie etwa der Uniklinik Leipzig. Dort bekommen die Patienten eine Schulung mit 7 Modulen à 90 Minuten (B.M.I.-Zirkel), die interaktiv auf die Operation und das Leben danach vorbereiten. Das findet aber bisher an viel zu wenigen Zentren statt. Auch bleibt die Frage, wie man diese Vorbereitung künftig finanziert.
Medscape: Ein Vorwurf ist, dass man versucht, mit dem Skalpell eine psychische Erkrankung zu therapieren. Halten Sie, als Ernährungsmediziner, die Eingriffe für einen Irrweg?
Dr. Winckler: Die Psyche spielt eine große Rolle, das gestörte Essverhalten kann durch Depressionen oder Traumata getriggert werden. Aber ich glaube nicht, dass Adipositas als psychische Erkrankung betrachtet werden sollte. Auch nicht als Suchterkrankung, wie oft behauptet wird. Die Krankheit hat sehr viele Ursachen: Genetik, Lebensumfeld, Erziehung, Lebensveränderungen – bei jedem sind diese Faktoren etwas anders ausgeprägt. Aber: Das Versprechen „Wir operieren Sie schlank“ wäre die falsche Botschaft. Da werden Hoffnungen geweckt, dass die Patienten nach der OP alle Probleme los sind. Und das ist einfach nicht der Fall.
Medscape: Ist denn das Spektrum der Probleme bei den verschiedenen OP-Varianten unterschiedlich, schneiden manche Methoden langfristig besser ab?
Dr. Winckler: Das kann man so nicht sagen. Entscheidend ist, wie gut der Patient mitarbeitet, wie intensiv die Nachsorge ist. Dadurch lässt sich die Rate der Komplikationen auch senken.
Medscape: Was kritisieren Sie an der Nachsorge?
Dr. Winckler: Ich kritisiere, dass es keine echte Nachsorge gibt. In dem Magdeburger Register wird schon eine einzige Follow-up Untersuchung nach der OP in 10 Jahren als „Nachsorge“ definiert [3]. Und diese Minimalversion haben auch nur die Hälfte der Patienten erhalten. Es gibt also bestenfalls eine Spar-Nachsorge in chirurgischen Kliniken. Wenn eine Klinik mal 1.000 Operationen gemacht hat, dann ist ihre Nachsorge-Sprechstunde voll.
Medscape: Die Chirurgen haben demnach keine offizielle Verpflichtung zur Nachsorge?
Dr. Winckler: Nein. Im kassenärztlichen Bereich haben wir jedoch für die Nachsorge wenig Expertise und die meisten sagen, lass mich damit in Ruhe. Dadurch fallen viele Patienten mit Problemen durchs Raster. Ich kenne Todesfälle, die hätten nicht sein müssen, wenn man die Patienten besser betreut hätte.
Medscape: Wie wollen Sie und einige Kollegen dies nun ändern?
Dr. Winckler: Wir haben im Bundesverband Deutscher Ernährungsmediziner (BDEM) einen ernährungsmedizinischen Behandlungspfad zur Adipositas ausgearbeitet. Ein erster IV-Vertrag für die Umsetzung dieses Behandlungspfades wird gerade vereinbart, leider mit regionaler Begrenzung (Westfalen-Lippe). Wir wissen, dass auch Krankenkassen an einer guten Nachsorge interessiert sind. Denn Komplikationen sind ja teuer.
Die Nachsorge werden Ernährungsmediziner aber nur übernehmen, wenn sie künftig dafür eine angemessene Bezahlung erhalten. Es braucht wohnortnahe Zentren, die diese Patienten übernehmen. Auch im hausärztlichen Bereich muss man eine Expertise herstellen. Der Hausarzt muss wissen, worauf es ankommt, damit er den Patienten bei Problemen rechtzeitig an ein ambulantes Zentrum mit einem Netzwerk von psychologisch geschulten Experten und Ernährungsberatern überweisen kann. Also z.B. an Schwerpunktpraxen Ernährungsmedizin.
Medscape: Veranstalten die operierenden Kliniken denn für Niedergelassene in der Nähe keine Schulungen zur Nachbetreuung solcher Patienten?
Dr. Winckler: Es gibt bisher keine systematische Fortbildung. Aber dies muss das Ziel sein. Wir werden es aber erst dann erreichen, wenn eine solche Behandlung auch bezahlt wird. Davon sind wir leider noch weit entfernt. Die Nachsorge kann ein Hausarzt nicht in seinem Budget einfach so unterbringen, weil er es häufig mit schwierigen, gesprächsintensiven Patienten zu tun hat. Und man braucht die anderen Fachgruppen dazu.
Medscape: Wie sollte die Nachsorge aussehen?
Dr. Winckler: Die ideale Nachsorge beginnt schon vor der OP und bei der Indikationsstellung. Man erarbeitet realistische Ziele, initiiert eine Psychotherapie, wenn nötig. Unser Behandlungspfad, den wir als Schema entwickelt haben, orientiert sich an den internationalen Leitlinien der European Association for the Study of Obesity (EASO). Jeder Patient sollte demnach im 1. Jahr nach der OP 2-3 Nachsorge-Termine haben. Außerdem fordern wir, alle ein bis 2 Monate eine Ernährungsberatung.
Medscape: Sie haben sich auf die Nachsorge von bariatrisch operierten Patienten spezialisiert. Wie bekommen Sie die Betreuung in Ihrer Schwerpunkt-Praxis für Ernährungsmedizin bezahlt?
Dr. Winckler: Im Jahr 2005 hat mich zum ersten Mal ein Chirurg kontaktiert, der Hände ringend einen Arzt gesucht hat, der seine Patienten nachbetreut. Die Kassen honorieren uns heute zumindest die Ernährungsberatungen durch Ernährungsfachkräfte nach einem Kostenerstattungsverfahren.
Medscape: Das sind aber in der Regel nur 5 Sitzungen, reicht das?
Dr. Winckler: Die klugen Kassen, wie die AOK Hessen, erstatten auch mal 10 bis 15 Beratungen. Damit kann man den Patienten schon eher helfen.
Medscape: Sie haben in Ihrem Vortrag Daten gezeigt, dass nur jeder 2. operierte Adipositas-Patient in Ihrer Kohorte vor der bariatrischen OP eine ausführliche konservative Therapie und Beratung zur Ernährungsumstellung erhalten hatte. Nach den geltenden Leitlinien und den Vorgaben der Kassen ist das eine Voraussetzung für den Eingriff. Hätte demnach die andere Hälfte eigentlich nicht operiert werden dürfen?
Dr. Winckler: Das ist schon richtig. Die Entscheidung, ob jemand die Genehmigung zur Kostenerstattung für die OP bekommt, ist relativ willkürlich. Einer der Hauptgründe bei einer Ablehnung ist die fehlende konservative Therapie. Da beißt sich aber die Katze in den Schwanz, weil diese auch nur in Ausnahmefällen bezahlt wird.
Medscape: Die positiven gesundheitlichen Auswirkungen einer bariatrischen OP, auch auf Gewichtsabnahme und Lebensqualität, sind ja für die allermeisten Patienten unbestritten. Fallen diese Vorteile nur mittelfristig ins Gewicht und nach 5 Jahren überwiegen dann die Nachteile?
Dr. Winckler: Die Operationen führen sicher über die Reduktion von Begleiterkrankungen zu einem Lebenszeitgewinn. Es gibt viele Patienten die relativ gut damit klarkommen und wenig Unterstützung brauchen. Andere benötigen aber ein Netzwerk für eine langfristige Betreuung, damit die Vorteile überwiegen. Die Eingriffe allein bieten keine dauerhafte Lösung des Problems Adipositas.
Medscape: Wenn Patienten erst mit Hilfe einer Magen-Verkleinerung abnehmen konnten, schämen Sie sich dafür, dass sie es nicht selbst geschafft haben?
Dr. Winckler: Wir erleben alle möglichen Reaktionen. Manche erzählen es nur ihren besten Freunden. Oft haben Menschen, die schon vor einer OP unter Stigmatisierung und Depressionen gelitten haben, auch nach einer OP größere Probleme. Andere gehen ganz offen damit um.
Medscape: Wie zum Beispiel der Ex-Außenminister Sigmar Gabriel?
Dr. Winckler: Auch er wird sehr wahrscheinlich wieder zunehmen. Die spannende Frage ist, wann. Vor eineinhalb Jahren ist er operiert worden. Seine Honey-Moon-Phase, so nennen wir den Zeitraum, wenn nach einer OP die schnelle Gewichtsabnahme für ein gutes Lebensgefühl sorgt, ist bald vorbei. Dies ist oft der Zeitpunkt, wenn operierte Adipositas-Patienten wieder Gewicht zulegen. Es handelt sich auch nach der Operation noch um eine chronische Krankheit. Aber ich gehe mal davon aus, dass Herr Gabriel in seiner Position eine optimale Nachbetreuung bekommt.
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Diesen Artikel so zitieren: Die Adipositas-Chirurgie boomt – aber viele Operierte haben Probleme. Wie können Niedergelassene die Nachsorge übernehmen? - Medscape - 9. Mai 2018.
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