
Prof. Dr. Stephan Martin
Angesichts der „globalen Adipositas-Epidemie“ und besonders der großen Zahl übergewichtiger Kinder fordern mehr als 2.000 Ärzte gesetzliche Maßnahmen, die vor allem den Zuckerkonsum reduzieren. Die Regierung müsse eine Sonderabgabe auf Limonaden, eine verständliche Lebensmittelkennzeichnung in Form einer Nährwert-Ampel, verbindliche Standards für Kita- und Schulessen sowie ein Verbot von irreführender Werbung, die an Kinder gerichtet ist, durchsetzen, schreiben sie in einem offenen Brief an Kanzlerin Angela Merkel, Bundesminister und Parteispitzen [1]. Prof. Dr. Stephan Martin, Medscape-Blogger und Diabetes-Experte, ist allerdings insbesondere von der Sondersteuer auf Limonaden und der Nährwert-Ampel wenig begeistert.
Diabetologe: Zuckersteuer alleine bringt wenig
„Natürlich ist klar, dass Zucker sehr schädlich ist”, so Martin, Chefarzt für Diabetologie am Verbund der Katholischen Kliniken Düsseldorf. Der übermäßige Verzehr zuckerhaltiger Getränke und Speisen treibe den Blutzucker derart in die Höhe, dass viel Insulin ausgeschüttet werden müsse. Das wiederum blockiere die Fettverbrennung.
„Das gilt aber nicht nur für Zucker, sondern auch für andere Kohlenhydrate. Somit müssten im Grunde auch Kartoffeln, Pasta und Brötchen besteuert werden“, argumentiert Martin. Kartoffelpüree etwa habe einen glykämischen Index von 85, Cola von nur 63. „Eine reine Zuckersteuer halte ich daher für problematisch – damit kommen wir nicht weiter“, so seine Ansicht.
Ein weiteres Argument gegen die spezifische Steuer auf Cola und Fanta: „Ist diese Steuer eingeführt, betrachtet die Politik das Problem wahrscheinlich als gelöst. Dem ist aber bei weitem nicht so.“
Die Verfasser des Briefs versprechen sich von der Abgabe für zuckerhaltige Getränke erstens einen Anreiz für die Lebensmittel-Industrie zuckerärmere Rezepturen zu entwickeln und zweitens eine Einnahmequelle für Präventionsprogramme für gesunde Ernährung. „Bitte ziehen Sie Sonderausgaben/-steuern für gesüßte Getränke und Beschränkungen der an Kinder gerichteten Werbung für Lebensmittel mit einem unausgewogenen Nährstoffprofil in Betracht“, heißt es in dem Dokument, das vom Bundesverband der Kinder- und Jugendärzte (BVKJ), der Deutschen Diabetes Gesellschaft (DDG) sowie der Verbraucherorganisation foodwatch initiiert wurde. Unterschrieben haben unter anderem die Deutsche Gesellschaft für Innere Medizin (DGIM), die Deutsche Gesellschaft für Kardiologie (DGK), die Deutsche Adipositas Gesellschaft (DAG), die Deutsche Herzstiftung sowie der AOK Bundesverband und die Techniker Krankenkasse.
Deutschland hinkt bei der Adipositas-Prävention hinterher
„In Sachen Prävention ist Deutschland ein Entwicklungsland. Während zahlreiche andere Staaten in Europa im Kampf gegen Fehlernährung bei Kindern und Jugendlichen die Lebensmittelwirtschaft in die Pflicht nehmen, setzt die Bundesregierung weiterhin auf freiwillige Vereinbarungen mit der Industrie und auf Programme für Ernährungsbildung. Das ist die falsche Strategie“, erklärt Dr. Thomas Fischbach, Präsident des Berufsverbandes der Kinder- und Jugendärzte (BVKJ).
Problematisch sei etwa, dass „Kinder von Anfang an den Geschmack süßer Getränke gewöhnt sind“, mit fatalen Folgen, kritisiert er. „Jedes fünfte Kind in Deutschland ist übergewichtig – Tendenz steigend! Das ist ein Armutszeugnis für Deutschland.” Kinderärzte, so Fischbach werden heutzutage mit Krankheiten konfrontiert, „die ich in meiner Weiterbildung nie gesehen habe: Altersdiabetes, hoher Blutdruck, Muskel- und Skeletterkrankungen, die auf Übergewicht zurückgehen. Wir haben die Geduld verloren", kritisierte er die Politik, die bislang zu wenig gegen die Volksleiden unternommen habe.
Die Zuckersteuer, so die Unterzeichner des Briefes, könnte helfen „Steuersenkungen für ausgewogene Lebensmittel“ zu finanzieren, schreiben sie. Diesen Ansatz befürwortet Martin ebenfalls. „Ich verfahre gerne nach dem Belohnungsprinzip, spreche mich also für die günstige Verfügbarkeit gesunder Produkte aus.“ An der Salatbar in Kantinen etwa sollten sich Beschäftigte preisgünstiger als bisher bedienen können. Firmen sollten ihren Mitarbeitern eine kostenlose Sprudelbar zur Verfügung stellen und die Mehrwertsteuer auf gesunde Produkte, etwa Gemüse, sollte im Vergleich zu anderen Grundnahrungsmitteln gesenkt werden, zählt Martin auf.
Inaktivitätssteuer für die TV-Sender?
Des Weiteren, so die Ärzte in ihrem Schreiben an die Regierung, sollten an Kinder gerichtete Werbemaßnahmen für Produkte, die einen hohen Fett- und Zuckergehalt haben, verboten werden. Ebenso sollten Nährwerte auf Lebensmittel-Verpackungen einheitlich und für Verbraucher verständlich gekennzeichnet werden, etwa durch eine Ampel. Auch sollten die unverbindlichen Mindeststandards der Deutschen Gesellschaft für Ernährung (DGE) für Kita- und Schulessen verbindlich festgeschrieben werden, fordern die Ärzte.
Eine Ampel-Kennzeichnung, bei der Fett-und zuckerhaltige Lebensmittel gelb oder rot gekennzeichnet werden, hält Martin für irreführend. Olivenöl erhalte dann nämlich, da es ausschließlich aus Fett bestehe, eine rote Kennzeichnung. Das trage jedoch dem hohen Anteil an gesunden ungesättigten Fettsäuren wenig Rechnung. Für die Entwicklung von Adipositas spiele, so Martin, neben der Ernährung zudem auch die Bewegung eine Rolle. „Ein Kind, das sich viel bewegt, kann auch ab und an eine Milchschnitte essen“, sagt er.
Jedoch stellen seiner Erfahrung nach zu viele Eltern ihre Kinder „mithilfe von Süßigkeiten ruhig“, etwa vor dem Fernseher, moniert er. Somit müsse nicht nur die Werbung an Kinder, sondern der gesamte Fernsehkonsum eingeschränkt werden, mahnt der Experte. Martin fordert daher eine „Inaktivitätssteuer“, die TV-Sender auf ihre Werbeeinnahmen abführen sollten.
Übergewicht kostet jährlich 100 Milliarden
Unter den Unterstützern der Initiative gegen Fehlernährung befinden sich mehr als 1.300 Kinder- und Jugendärzte, 222 Diabetologen und 58 Professoren der Medizin. Prominente Unterstützung erfährt die Initiative vom Arzt und Moderator Dr. Eckart von Hirschhausen. Es sei „höchste Zeit für eine wirksame Zuckersteuer, konsequente Werbeverbote und eine sinnliche und humorvolle Vermittlung von Gesundheitskompetenz in den Schulen“, findet er.
Zuckerhaltige Getränke seien „keine Durstlöscher, sondern Dickmacher” und Übergewicht koste die Gesellschaft jährlich 100 Milliarden Euro, erklärte er. Schätzungen zufolge verursacht Adipositas direkte und indirekte Kosten von rund 63, Diabetes von 35 Milliarden pro Jahr, rechnen die Ärzte der Regierung vor. Viele dieser Kosten seien vermeidbar. „Die Kehrtwende in der Adipositas-Epidemie wird nicht mithilfe freiwilliger Selbstverpflichtungen der Lebensmittelwirtschaft gelingen“, behaupten die Initiatoren des Briefs.
Ihre Forderung nach verbindlichen Standards gegen Fehlernährung stützen sie unter anderem auf die Ergebnisse der KiGGS-Welle 2 des Robert-Koch-Instituts (wie Medscape berichtete ). Den Daten zufolge stabilisieren sich Übergewicht und Adipositas auf hohem Niveau – 15% der 3- bis 17-Jährigen gelten als übergewichtig oder adipös, 6,3% aller untersuchten Kinder als adipös. Damit hat der Anteil übergewichtiger Kinder seit den 1980er Jahren um 50% zugenommen. Der Anteil adipöser Kinder hat sich sogar verdoppelt.
Unter Erwachsenen sind 67% der Männer und 53% der Frauen übergewichtig. Der Anteil der Adipösen sei laut Zahlen des RKI innerhalb von 10 Jahren bei Frauen von 22,5 auf 23,9% und bei Männern von 18,9 auf 23,3% gestiegen, argumentieren die Befürworter der Zuckersteuer. Ebenfalls steige die Zahl der Diabetiker kontinuierlich. Im Jahr 2015 waren laut RKI-Gesundheitsreport 6,7 Millionen Menschen in Deutschland an Typ-2-Diabetes erkrankt.
„Den Tsunami der Lebensstilerkrankungen kann man nicht mit kosmetischen Maßnahmen stoppen. Die Bundesregierung sollte endlich umsetzen, was Weltgesundheitsorganisation und Fachleute seit Jahren fordern: Die gesunde Wahl muss zur einfachen Wahl werden. Dazu gehören eine verständliche Lebensmittel-Ampel und eine Abgabe auf gesüßte Getränke“, erklärt D r. Dietrich Garlichs, Beauftragter des Vorstands der DDG.
Cola und Co sollten teurer werden
Um den Konsum zuckerhaltiger Getränke, der aktuell in Deutschland bei etwa 84 Litern pro Kopf und Jahr liegt (Platz 3 in Europa hinter Belgien und den Niederlanden), zu drosseln, rät die WHO in einem Empfehlungsschreiben allen Regierungen zu einer Sondersteuer auf Cola, Fanta und andere Limonaden. Eine 20%ige Abgabe reduziere den Konsum dieser Getränke laut Studien um 20%, erklärt die WHO. Deutschland solle sich hierbei an den Briten orientieren, die im April eine Abgabe von 18 Pence (ca. 20 Cent) pro Liter für Softdrinks eingeführt haben, die 5 g oder mehr Zucker pro 100 ml enthalten, schreiben die Ärzte. Erster Effekt: Mehrere Hersteller haben den Zuckergehalt in ihren Getränken, die sie in Großbritannien vermarkten, deutlich gesenkt.
Medscape Nachrichten © 2018 WebMD, LLC
Diesen Artikel so zitieren: Kritik an Zuckersteuer: Medscape-Experte findet Ärzte-Appell problematisch – „damit kommen wir nicht weiter“ - Medscape - 9. Mai 2018.
Kommentar