Anticholinergika, die gegen Depressionen, Blasenschwäche oder Morbus Parkinson eingenommen werden, wirken sich nicht nur unmittelbar und reversibel auf die kognitive Leistungsfähigkeit aus. Die Medikamente erhöhen auch das Risiko für eine spätere Demenz um bis zu 30%. Das geht aus einer Studie hervor, die Wissenschaftler aus Großbritannien, Irland und den USA jetzt im British Medical Journal (BMJ) vorgestellt haben [1].
Wie das Team um die Erstautorin der Publikation, Dr. Kathryn Richardson von der School of Health Sciences der University of East Anglia (UEA) im britischen Norwich, berichtet, war das erhöhte Demenzrisiko noch bis zu 20 Jahre nach der Einnahme der Wirkstoffe auszumachen. Andere Anticholinergika, wie sie gegen Heuschnupfen, Reiseübelkeit und Magenkrämpfe zum Einsatz kommen, scheinen solche unerwünschten Langzeiteffekte dagegen nicht aufzuweisen.
Die Studie enthält Daten von mehr als 300.000 Probanden
„Das Risiko, an einer altersabhängigen Demenz zu erkranken, wird durch eine Vielzahl von Umweltfaktoren beeinflusst“, sagt Prof. Dr. André Fischer vom Deutschen Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen (DZNE) in Göttingen im Gespräch mit Medscape. Dazu gehöre auch die Einnahme von Medikamenten bei chronischen Erkrankungen.
„Es gab bereits vor der Veröffentlichung der aktuellen Studie eine Reihe von Hinweisen, dass die Einnahme anticholinerger Medikamente das Demenzrisiko erhöhen kann“, so Fischer. Bisher sei es allerdings schwierig gewesen, zwischen dem Effekt der Wirkstoffe und dem Einfluss der jeweiligen Erkrankungen zu unterscheiden. „Richardson und ihr Team haben nun mithilfe der Daten von mehr als 300.000 Personen überzeugend darstellen können, dass es tatsächlich die Einnahme bestimmter anticholinerger Medikamente zu sein scheint, die das Demenzrisiko erhöht“, so der Neurowissenschaftler.
Das Demenzrisiko stieg mit der Einnahmemenge und -dauer
Die Forscher um Richardson griffen für ihre Studie auf Daten aus dem britischen Clinical Practice Research Datalink (CPRD) zurück, der anonymisierte Daten zu Diagnosen, Überweisungen und Verordnungen von mehr als 11 Millionen Patienten aus knapp 700 hausärztlichen Praxen enthält. Die Wissenschaftler werteten Daten von 40.770 Probanden im Alter von 65 bis 99 Jahren aus, bei denen zwischen April 2006 und Juli 2015 eine Demenz diagnostiziert worden war. 283.933 nicht demente Personen im gleichen Alter dienten als Vergleichsgruppe.
Bei allen Probanden prüften die Forscher, ob diese in der Vergangenheit Medikamente eingenommen hatten, die sich gegen den Neurotransmitter Acetylcholin richten. Auch die Menge und der Zeitraum der Einnahme sowie die Art des Anticholinergikums wurden bestimmt. Bei den Demenzpatienten verfolgten Richardson und ihre Kollegen die Einnahme der Wirkstoffe 20 bis 4 Jahre vor der Erstdiagnose. Insgesamt analysierten sie auf diese Weise rund 27 Millionen Verordnungen.
Wie sich herausstellte, erhöhten nicht alle anticholinergen Medikamente das Demenzrisiko – sondern nur jene, die gegen Depressionen, Blasenprobleme und Parkinson verordnet wurden. Zu den häufig verschriebenen Antidepressiva, die den Botenstoff Acetylcholin in seiner Wirkung unterdrücken, gehören unter anderem die Substanzen Amitriptylin, Dosulepin and Paroxetin. Anticholinergika, die bei Blasenschwäche zum Einsatz kommen, sind beispielsweise Tolterodin, Oxybutynin and Solifenacin. Ein häufig verordnetes anticholinerges Parkinson-Medikament ist Procyclidin. Die genannten Wirkstoffe erhöhten das Demenzrisiko in der Studie um bis zu 30%, wobei die Gefahr mit zunehmender Einnahmemenge und -dauer stieg.
Ein kausaler Zusammenhang ist nicht belegt, gilt aber als wahrscheinlich
Aus der Untersuchung könne man allerdings noch nicht mit Sicherheit ableiten, dass die Einnahme von Anticholinergika ursächlich eine Demenz hervorrufe, betont der Seniorautor der Studie, Dr. George Savva von der School of Health Sciences der UEA. Denn es sei nicht auszuschließen, dass die Medikamente gegen sehr frühe Symptome einer sich bereits entwickelnden Demenz verordnet worden seien, sagt er. Die Tatsache, dass ein Zusammenhang auch dann gefunden worden sei, wenn die Einnahme der Anticholinergika bereits 15 oder 20 Jahre zurückgelegen habe, deute allerdings darauf hin, dass es tatsächlich einen kausalen Zusammenhang gebe, so Savva.
„Die Arbeit von Richardson und ihren Kollegen ist insofern von großer Bedeutung, da die Interdependenz von komplexen Erkrankungen mit Blick auf die Wahl geeigneter Medikamente bisher nur unzureichend verstanden ist“, sagt der Göttinger Wissenschaftler Fischer. Es sei daher entscheidend, solche Zusammenhänge, wie in der vorliegenden Arbeit geschehen, eindeutig zu beschreiben. „Im nächsten Schritt müssen diese Zusammenhänge nun mechanistisch verstanden werden“, betont Fischer. „Unser Ziel sollte es sein, insbesondere chronische Erkrankungen so zu behandeln, dass ein späteres Demenzrisiko vermindert oder zumindest nicht erhöht wird.“
Sicherere Alternativen zu Anticholinergika sind nun verstärkt gefragt
Auch andere Experten sind der Ansicht, dass die aktuelle Studie das ärztliche Verschreibungsverhalten ändern sollte. „Die bisherigen Empfehlungen besagen, dass anticholinerge Medikamente wegen ihres Einflusses aufs Denken und auf das Gedächtnis gebrechlichen älteren Leuten nicht verordnet werden sollten“, sagt Dr. Doug Brown von der britischen Alzheimer's Society. Die jetzigen Ergebnisse würden allerdings darauf hindeuten, dass eine langfristige Gabe der Wirkstoffe bei allen Über-65-Jährigen das Risiko für eine Demenz erhöhe.
Man solle daher sichereren Alternativen zu anticholinergen Medikamenten den Vorzug geben – und zwar lange bevor erste Symptome einer Demenz sichtbar würden, betont auch einer der US-Autoren der Studie, Dr. Noll Campbell vom College of Pharmacy der Purdue University in West Lafayette. Einig sind sich die Experten allerdings auch darin, dass Patienten, die zurzeit Anticholinergika gegen Depressionen, Blasenschwäche oder Parkinson einnehmen, diese Arzneien nun nicht vorschnell und ohne ärztlichen Rat absetzen sollten.
Medscape Nachrichten © 2018 WebMD, LLC
Diesen Artikel so zitieren: Viele anticholinerge Medikamente (aber nicht alle) erhöhen wohl das Demenzrisiko – und das noch bis zu 20 Jahre später - Medscape - 8. Mai 2018.
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