Das Reizdarm-Syndrom (und die Colitis ulcerosa) zeichnen sind durch charakteristische Veränderungen in der Proteinsignatur aus – dies im Vergleich zu Proben gesunder Teilnehmer. Das hat Prof. Dr. Michael Schemann, Inhaber des Lehrstuhls für Humanbiologie an der Technischen Universität München, anhand von Biopsien herausgefunden [1]. Dabei identifizierte er beim Reizdarm Proteasen, die am Protease-aktivierten Rezeptor vom Typ 1 (PAR1) andockten. Damit könnte sich PAR1 als Zielstruktur für neue Arzneistoffe eignen.
Welche Chancen sich aus der Arbeit ergeben, erklärt Schemann im Gespräch mit Medscape. „Bis heute handelt es sich beim Reizdarm-Syndrom um eine Ausschlussdiagnose“, erklärt der Experte. „Das heißt: Ärzte müssen schwerwiegende Erkrankungen wie Entzündungen, Krebs oder Nahrungsmittelallergien ausschließen. Erst dann kommt Reizdarm als Diagnose.“
Aber: Die Kollektive seien keineswegs gleich. „Patienten haben zwar ähnliche Symptome, können von der Pathophysiologie aber völlig unterschiedlich sein“, ergänzt Schemann. Bislang sei das Vorgehen aber zeit- und kostenaufwendig. „Die Diagnose Reizdarm-Syndrom kann als praktisch gesichert betrachtet werden, wenn die relevanten Differenzialdiagnosen ausgeschlossen sind“, heißt es in der zugehörigen S3-Leitlinie. Schemann: „Deshalb wünschen sich Ärzte natürlich neue Möglichkeiten für eine Positiv-Diagnose.“
Biomarker für das Reizdarm-Syndrom
Er und sein Team haben Schleimhautbiopsie-Überstände von 12 Patienten mit Colitis ulcerosa in Remission und von 20 Patienten mit Reizdarm-Syndrom untersucht. Als Vergleich dienten Proben von 7 gesunden Studienteilnehmern. Per Neuroimaging fanden Wissenschaftler heraus, welchen Effekt diese Proben auf submuköse Neurone von Menschen oder Meerschweinchen haben. Außerdem wurde das Proteom aller Proben analysiert.
Die Ergebnisse: Die Überstände von Reizdarm-Patienten oder Patienten mit Colitis ulcerosa erhöhten die Nervenaktivität, während Überstände von gesunden Probanden dies nicht taten. Die Forscher erklären dies in erster Linie mit Enzymen aus der Protease-Familie, speziell mit Elastasen. Sie potenzieren den Effekt von Serotonin und Histamin, den wichtigsten neuroaktiven Substanzen in Biopsie-Überständen beim Reizdarm.
Dabei gab es jedoch entscheidende Unterschiede. In Überständen von Patienten mit Reizdarm-Beschwerden waren Proteasen von Bedeutung, die am Protease-aktivierten Rezeptor vom Typ 1 (PAR1) binden. Dadurch wird PAR1 aktiviert. PARs sind generell an der pro-inflammatorischen Immunantwort beteiligt. Bei Colitis ulcerosa spielt Schemann zufolge dagegen PAR1 keine Rolle.
Die Wissenschaftler identifizierten 204 charakteristische Proteine, deren Konzentration bei gesunden Probanden, bei Patienten mit Reizdarm oder mit Colitis ulceros unterschiedlich war. 17 gehörten zur Familie der Proteasen. Sie waren mit dem Reizdarm-Syndrom assoziiert. Darunter befanden sich u.a. die Elastase-3A, Chymotrypsin C, PSMB2 (Proteasome subunit beta type-2) und eine nicht näher spezifizierte Isoform des Komplementfaktors C3.
Kombinierten die Forscher bei Tests die Elastase-3A, Cathepsin L und PSMA4 (Proteasome subunit alpha type-4), gelang es bei 98% aller Proben, zwischen gesunden Probanden und Patienten mit Reizdarm zu unterscheiden. „Für die routinemäßige Diagnostik eignet sich unser aufwendiges, massenspektrometrisches Verfahren aber nicht“, schränkt Schemann ein. Es sei aber denkbar, auf Basis der nun erkannten Protein-Unterschiede ELISA-Tests zu entwickeln.
Neue Zielstrukturen für die Therapie
Und nicht nur das: Auch für die Therapie könnten sich neue Möglichkeiten eröffnen. „Momentan ist die Behandlung rein Symptom-orientiert“, weiß Schemann. „Fast alle Patienten haben Bauchschmerzen. Ansonsten können Blähungen, Verstopfungen oder Durchfall zum Krankheitsbild gehören.“ Ärzte wählen anhand der S3-Leitlinine geeignete Medikamente oder Psychotherapien aus. „Das führt nicht immer zum Erfolg“, so der Experte.
PAR1 könnte sich als Target für Pharmakotherapien eignen. Auf dem Markt gibt es bereits Antagonisten. Vorapaxar wurde von der FDA und der EMA bei schwersten Gerinnungsstörungen zugelassen. Der Wirkstoff hemmt die Thrombozyten-Aggregation und ist damit keine Option beim Reizdarm. „Neue Pharmaka dürften diese systemische Wirkung nicht haben“, so Schemann. „Ihre Bioverfügbarkeit müsste sich auf das Lumen des Darms beschränken.“
Als zweite Strategie sei möglich, die Protease-Aktivität zu hemmen. „Es gibt Keime, etwa Probiotika, die solche Moleküle produzieren.“ Forscher haben aus dem Bifidobacterium-longum-Stamm NCC 2705 einen Serinproteinase-Inhibitor isoliert. Er verhinderte als PAR1-Antagonist in vitro, dass Neuronen aktiviert wurden. Schemann: „Der Schritt zur Anwendung ist aber noch weit.“ Empfehlungen ließen sich daraus momentan noch nicht ableiten.
Stärken und Schwächen
Bleibt als Fazit: Den Forschern ist es gelungen, PAR1-Signalwege als spezifische Muster beim Reizdarm-Syndrom zu identifizieren. Gleichzeitig fanden sie Proteinmarker als Ansatz einer künftigen Labordiagnostik. Doch ihre Studie basiert auf einer vergleichsweise geringen Zahl an Proben. Weitere Untersuchungen sollten größere Patientenzahlen erfassen. Hinzu kommt, dass fast alle Biopsien beim Reizdarm-Syndrom von Patienten mit Durchfall kamen.
„Wir können nicht ausschließen, dass Patienten mit Verstopfung auch andere Muster bei der Protein-Expression zeigen“, schreiben die Autoren im Artikel. Frühere Arbeiten hätten jedoch gezeigt, dass die Aktivierung von Nerven unabhängig vom Reizdarm-Subtyp sei.
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Diesen Artikel so zitieren: Ist „Reizdarm“ bald keine aufwendige Ausschlussdiagnose mehr? Münchner Forscher identifizieren Biomarker - Medscape - 3. Mai 2018.
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