Mannheim – Die Forschung zum Mikrobiom hat das Potential, die Medizin in vielen Fächern zu revolutionieren. Fast jede Woche erscheinen neue Fachartikel über die Besiedlung des Darms, der Mundhöhle oder der Haut und dessen Bedeutung für zahlreiche Volkskrankheiten. Gleichzeitig bieten bereits einige Firmen Tests an, die eingesendete Stuhlproben auf deren Bakterien-Zusammensetzung untersuchen. Viele Ärzte leiten daraus Therapie- oder Lebensstil-Empfehlungen ab.

Prof. Dr. Gerhard Rogler
Prof. Dr. Gerhard Rogler, Direktor der Klinik für Gastroenterologie und Hepatologie am Universitäts-Spital Zürich in der Schweiz, kritisiert in einem Gespräch mit Medscape auf dem Kongress der Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin in Mannheim dieses Vorgehen aufs Schärfste und erklärt, worauf es bei den Analysen ankommt.
Medscape: Wie groß ist das Interesse der Patienten an ihren Darmbakterien?
Prof. Dr. Rogler: Das ist ein ganz großes Thema. Viele Patienten kommen zum Arzt und fragen: „Müsste ich nicht mal meine Darmbakterien testen lassen, vielleicht habe ich Pilze oder eine Fehlbesiedlung?“ Vor allem sind dies Patienten mit Reizdarm-Symptomen.
Medscape: Häufig bekommen Sie dann einen Test angeboten, mit dem eine Stuhlprobe analysiert wird. Was kosten solche Tests?
Prof. Dr. Rogler: Die Kassen übernehmen solche Tests aus guten Gründen nicht. Die fallen natürlich unter die sogenannten IGeL-Leistungen. Sie kosten zwischen 200 und 2.500 Euro. Der Patienten zahlt privat. Da kann man viel Geld investieren und bekommt Befunde über 2 oder sogar 10 Seiten mit abenteuerlichen Interpretationen.
Medscape: Das heißt man kann diese Befunde nicht für die Therapie verwenden?
Prof. Dr. Rogler: In den Auswertungen wird häufig ausgeführt, dass von manchen Bakterienarten zu viele und von anderen zu wenige im Darm vorhanden sind. Dabei wird völlig ignoriert, dass jeder Mensch ein sehr individuelles Spektrum an Bakterien besitzen kann. Die Quantität einer bestimmten Spezies sagt überhaupt nichts aus. Man interpretiert aus den Testergebnissen pathologische Effekte, ohne dass die funktionellen Auswirkungen des Mikrobioms gemessen werden.
Medscape: Heißt das, eine Liste über die Arten von Bakterien im Darm eines Patienten sagt nicht viel aus?
Prof. Dr. Rogler: Jedes Bakterium kann in verschiedenen Ökosystemen unterschiedliche Funktionen erfüllen und andere Metabolite synthetisieren. Ohne dass Mediziner also die Rolle einer Spezies in seiner Umgebung verstehen, ist eine Quantifizierung eine sinnlose Information.
Medscape: Ist so ein Mikrobiom-Test nicht wie ein Blutbild eine sehr momentane Aufnahme, sodass sich nach dem Essen von drei Dönern ein anderes Bild ergibt als an Tagen mit normaler Ernährung?
Prof. Dr. Rogler: Die Test-Hersteller geben Anleitungen aus, unter welchen Bedingungen man die Stuhlprobe durchführt. Man soll zum Beispiel die Ernährung eine Woche vor der Testung stabil halten und nichts außergewöhnliches Essen, wie etwa zum Chinesen gehen...
Medscape: ...warum nicht zum Chinesen?
Prof. Dr. Rogler: Weil zum Beispiel Glutamat und andere Stoffe die tatsächliche Zusammensetzung des Mikrobioms für ca. 24 Stunden drastisch verändern.
Medscape: Welche Nahrungsmittel beeinflussen denn noch das Mikrobiom – nur durch eine Mahlzeit?
Prof. Dr. Rogler: Das Mikrobiom ändert sich, wenn ich große Mengen Milch zu mir nehme, oder bestimmte Zusätze wie z.B. Zucker-Austauschstoffe. Ebenso nehmen Emulgatoren oder ungewohnte Gewürze Einfluss. Auch wenn ich plötzlich 3 Tage auf vegane Ernährung umsteige, prägt dies das Mikrobiom. Wenn die Institute eine konstante Ernährung empfehlen, ändern viele Patienten vor einem Test ihre Essgewohnheiten. Allein dadurch wird er fragwürdig.
Medscape: Was muss denn eine Mikrobiom-Analyse erfüllen, damit sie Forscher wie Sie als aussagekräftig einstufen?
Prof. Dr. Rogler: In den meisten aktuellen und guten wissenschaftlichen Studien verwenden Forscher keine reinen Stuhltests mehr, weil sie zu variabel sind. Sie werden durch die aktuell konsumierte Nahrung verfälscht – und weil man sie als Arzt nicht standardisiert entnehmen kann. Bei einem harten Stuhl, sehe ich am Rand schon eine andere Mikrobiota-Zusammensetzung als bei weichem Stuhl in der Mitte. Ich müsste also den Stuhl gut durchmischen, bevor ich eine Probe entnehme. Das macht doch niemand.
Die guten Studien entnehmen per Endoskopie Schleimhautproben und isolieren daraus die Bakterien – weil die entscheidende Schutzfunktion jene Mikrobiota-Keime haben, die auf der Schleimhaut sitzen. Bei einer Biopsie werden diese sofort stabilisiert.
Im Gegensatz zu vielen Stuhlproben, die erstmal bei Raumtemperatur gelagert oder mit der Post verschickt werden. Die meisten anaeroben Bakterien zerfallen so, Enzyme bauen bestimmte Bakterien ab. Pilze wachsen unter diesen Bedingungen häufig erst richtig an. Somit ist ein realistisches Bild der realen Darmschleimhaut-Besiedlung nicht mehr möglich.
Medscape: Gibt es die Möglichkeit, solche Biopsien auch außerhalb von Studien bei einer Darmspiegelung zu entnehmen?
Prof. Dr. Rogler: Es gibt einige wenige Firmen, die Auswertungen von Biopsien anbieten. Zu 90% bieten Hersteller aber Tests mit Stuhlproben an. Wohlwissend, wie fragwürdig diese ist.
Medscape: Das heißt, Stuhltests sind rausgeworfenes Geld?
Prof. Dr. Rogler: Ich würde dringend dazu raten, das Geld zu sparen. Die Aussagekraft ist sehr gering. Es gibt nur 2 oder 3 Tests die eher Sinn machen, weil dabei keine DNA sequenziert wird, die Proben standardisiert entnommen werden und sie validiert sind. Wichtig ist, dass ein Test auch für bestimmte Krankheiten in einem sorgfältigen Prozess geprüft werden muss. Das erfolgt bei 99% nicht.
Medscape: Ärzte und Forscher betonen ständig die große Bedeutung des Mikrobioms. Was empfehlen sie also niedergelassenen Ärzten?
Prof. Dr. Rogler: Wir besitzen momentan kein Test-Tool für die breite Masse. Wir haben auch noch nicht die wissenschaftlichen Daten, die es erlauben würden, daraus eine Behandlung abzuleiten. Oder dem einen Patienten zu raten, er solle mehr Milch trinken oder mehr Fasern essen.
Faseraufnahme ist nicht für jeden wichtig. Ein Viertel bis eine Drittel der Menschheit tut es nicht gut, zu viele Fasern aufzunehmen, weil sie in ihrem Darm mit den Bakterien aus den Fasern mehr Gas produzieren als andere. Diese funktionellen Eigenschaften – ob sie Gasfermentierer sind oder nicht – kann ich beim herkömmlichen Mikrobiom-Test mit der 16s-RNA den Bakterien aber nicht ansehen.
Wir fangen im Moment erst an, neben der qualitativen Testung auch funktionelle Analysen des Mikrobioms zu starten. Bevor das nicht validiert ist, würde ich keinen Cent für Mikrobiom-Tests ausgeben.
Medscape: Ist es nicht generell riskant, das Mikrobiom zu verändern, da der menschliche Körper sich ja sehr geschickt an die verschiedensten Lebensräume angepasst hat?
Prof. Dr. Rogler: Zum Glück ist das Mikrobiom relativ stabil. Es ignoriert viele Interventionen und kehrt nach einer Weile zum Ausgangspunkt zurück.
Medscape: Wie dauerhaft schädige ich denn das Mikrobiom durch Antibiotika?
Prof. Dr. Rogler: Nach ein paar Wochen kehren wir meist zu unserem Ausgangsmikrobiom zurück. In dieser Hinsicht ist die Gabe nicht wahnsinnig gefährlich. Es gibt wenige Antibiotika, die zu einer längerdauernden Veränderung führen.
Medscape: Welche Risiken nehmen Patienten in Kauf, wenn sie einen Stuhltest machen?
Prof. Dr. Rogler: Es schränkt bei vielen Patienten die Lebensqualität noch mehr ein. Oft wird nach einem solchen Tests empfohlen, eine bestimmte Diät einzuhalten. Es geht ihnen damit meist nicht besser, eher schlechter. Trotzdem verteidigen Patienten eisern das Testergebnis, wenn ich ihnen erkläre, es sei unsinnig, sich zu kasteien.
Aber viele Menschen mit Beschwerden sind eben sehr testgläubig. Wenn sie dann einen Bericht haben, der wissenschaftlich klingt, aber überinterpretiert wird, ist es sehr schwierig sie wieder davon abzubringen.
Also psychologisch wird da Einiges an Schaden angerichtet, physiologisch eher weniger. Die Tests sind ein Beispiel für absolut sinnlose Diagnostik, mit der man viel Geld in den Wind schießen kann.
Medscape: Bedeutet dies als logische Folge, dass Stuhltransplantationen, die aufgrund solcher Tests durchgeführt werden, genauso sinnlos sind?
Prof. Dr. Rogler: Absolut. Da gibt es sogar schon Internetseiten, auf denen Stuhltransplantationen gegen alle möglichen Krankheiten empfohlen werden. Man weiß doch gar nicht, ob der Spender zum Patienten wirklich passt und ob die Bakterien eines Fremden für ihn gut sind.
Das gleiche Mikrobiom kann nach der Transplantation bei jedem Patienten, entsprechend dessen eigener genetischer Ausstattung, individuell unterschiedliche Effekte erzeugen. Auch die Interaktion mit den vorhandenen Bakterien kann dazu führen, dass ein transplantiertes Mikrobiom andere Funktionen ausüben. Das kann gut ausgehen oder schlecht, wie beim Würfeln.
Die meisten Patienten wünschen sich, dass man in einer Therapie nicht mit Zufallseffekten spielt. Sie erwarten, dass eine Intervention gezielt ist. Und das beherrschen wir noch nicht.
Medscape: Wie lange müssen wir uns noch gedulden, bis wir das Mikrobiom behandeln können?
Prof. Dr. Rogler: Ich bin überzeugt, dass wir in 5 bis 10 Jahren die Erkenntnisse haben, um gezielter einzugreifen. Es war doch schon immer so: Wenn etwas Sinnvolles passiert, gibt es 10 Jahre vorher jene, die aus der Innovation schon Geld rausschlagen wollen. Bis es dann funktioniert, ist die Luft raus. Ich hoffe, dass es diesmal nicht so sein wird.
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Diesen Artikel so zitieren: Sinnlose Diagnostik: Die meisten Mikrobiom-Tests führen zu „abenteuerlichen Interpretationen“. Aber es gibt Alternativen - Medscape - 25. Apr 2018.
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