Mannheim – Was die 2017 publizierte neue Leitlinie des ESC/EACTS für die Behandlung von Herzklappenerkrankungen für die interventionelle und chirurgische Praxis bedeutet, haben 2 ihrer Verfasser, der Kardiologe Prof. Dr. Helmut Baumgartner sowie der Herzchirurg Prof. Dr. Volkmar Falk sowie weitere Experten, in einer Leitliniensitzung auf dem Kongress der Deutschen Gesellschaft für Kardiologie (DGK) erläutert [1].
„Erstmals wurden für alle Klappendefekte so genannte ,Gaps in Evidence‘ formuliert“, berichtete Baumgartner. Das heißt: Es werden die Bereiche definiert, in denen die Evidenz aus randomisierten Studien bislang noch Lücken aufweist – und das sind einige, teilte er den zahlreichen Besuchern der Leitliniensitzung im bis auf den letzten Platz (und darüber hinaus) gefüllten Sitzungssaal mit.
Mitralklappen-Defekte: OP ohne Überlebensvorteil
Zum Beispiel ist die Studienlage hinsichtlich der Behandlung einer Insuffizienz der Mitralklappe für die perkutanen Alternativen im Vergleich zur Operation noch schwach. So bleibe die OP der Standard für Patienten mit dieser Erkrankung, sagte Baumgartner. Die Mitralklappen-Insuffizienz ist nach der Aortenklappen-Stenose der zweithäufigste Klappendefekt, unter dem rund 10% der älteren Menschen leiden. „Wann immer möglich, sollte bei einer primären Mitralklappen-Insuffizienz die Rekonstruktion der Klappe versucht werden.“ Allerdings, räumte Baumgartner ein, könne etwa die Hälfte der vorwiegend älteren Patienten einer solchen Operation nicht mehr unterzogen werden.
Nichtsdestotrotz wurde die Empfehlung zur Rekonstruktion der Klappe für Patienten mit asymptomatischer schwerer primärer Mitralklappen-Insuffizienz im Vergleich zur Leitlinie von 2012 aufgewertet, erklärte Mitverfasser Baumgartner. Mit einem IIa C- statt bislang IIb C-Empfehlungsgrad versehen heißt es seit 2017: „Ein Eingriff sollte in Betracht gezogen werden bei asymptomatischen Patienten mit erhaltener LVEF >60% und LVESD 40-44 mm.“
Voraussetzung ist jedoch ein niedriges OP-Risiko und die Durchführung des Eingriffs in einem „Herzklappenzentrum“. In den „Gaps of Evidence“ fordern die Verfasser der Leitlinie eine randomisierte Studie zu chirurgischen Eingriffen bei asymptomatischen Patienten. „Wir wissen nicht, wer von einer frühen Intervention profitiert und können bis heute keine sichere Aussage darüber machen, ob wir den Patienten etwas Gutes tun“, sagte Baumgartner.
Noch schwieriger gestaltet sich eine evidenzbasierte Behandlung der sekundären Insuffizienz der Mitralklappe. „Im Allgemeinen wissen wir bislang nicht, ob die Elimination der sekundären Mitralklappen-Insuffizienz für den Patienten überhaupt einen Überlebensvorteil bedeutet“, so Baumgartner.
Daher sei „die Schwelle, chirurgisch zu intervenieren, hoch. Hinsichtlich interventioneller Verfahren sinkt sie“, bemerkte Baumgartner. Somit habe die Katheter-gestützte Intervention auch in den Leitlinien einen höheren Stellenwert als bislang erlangt. Bei einem „nicht niedrigen“ OP-Risiko empfiehlt die neue Leitlinie ein perkutanes „Edge-to-Edge“-Verfahren (IIb C-Empfehlungsgrad) in Betracht zu ziehen – dies bei Patienten, die trotz medikamentöser Therapie symptomatisch bleiben.
Dies sei eine „sehr zurückhaltende“ Empfehlung, die jedoch der fehlenden Evidenz aus randomisierten Studien geschuldet sei, erklärte Baumgartner. Retrospektive Analysen zum Mitra-Clip, etwa eine 2016 publizierte italienische Studie, und zum Cardioband hätten zwar „gute Erfolge“ gezeigt. Jedoch sei die Datenmenge mit diesen Verfahren „für eine Erwähnung in den Leitlinien zu gering“.
Was tun bei Defekten der „vergessenen Herzklappe“?
Noch dünner werde die Evidenz allerdings bei der Behandlung von Trikuspidal-Insuffizienzen, erklärte Prof. Dr. Georg Nickenig, Direktor der Medizinischen Klinik II am Universitätsklinikum Bonn. „Wir sprechen bei der Trikuspidal-Insuffizienz auch von der ‚vergessenen Klappe‘, obwohl die Erkrankung relativ häufig auftritt.“
Ursache für einen Defekt des „Ventils“ zwischen dem rechten Vorhof und dem rechten Ventrikel ist in mehr als 60% der Fälle chronisches Vorhofflimmern. In 80 bis 90% der Insuffizienzen handele es sich um eine Erkrankung des rechten Ventrikels; in nur 10% der Fälle sei die Klappe selbst defekt, sagte Nickenig. Die perioperative Mortalität bei Patienten, die einem chirurgischen Klappenersatz unterzogen werden, liege bei 20%. Klinische Outcomes seien bis heute unklar, auch, da die Funktionsstörung der Trikuspidal-Klappe fast nie alleine behandelt werde.
„Wir haben das Riesen-Problem, dass wir für die Behandlung einer sekundären Insuffizienz keine guten Antworten haben“, sagte Nickenig. Die Frage nach Alternativen zur Operation stelle sich, auch vor dem Hintergrund der hohen perioperativen Sterblichkeit. Jedoch würden Katheter-basierte Eingriffe an der Trikuspidal-Klappe aktuell nur im Rahmen klinischer Studien durchgeführt, erklärte der Bonner Kardiologe.
TAVI weiter auf dem Vormarsch
Anders gestaltet sich die Situation seit einigen Jahren bei Patienten mit symptomatischer Aortenstenose. Bei deren Behandlung läuft die interventionelle Transkatheter-Aortenklappen-Implantation (TAVI) dem chirurgischen Eingriff mit Herz-Lungen-Maschine immer mehr den Rang ab, auch in den Leitlinien, aufgrund der zahlreichen, in den letzten 5 Jahren veröffentlichten Studien zu den Katheter-basierten Verfahren.
Lediglich bei Patienten mit niedrigem OP-Risiko empfehle die aktuelle Leitlinie derzeit noch einen chirurgischen Klappenaustausch, erklärte Prof. Dr. Wolfgang Rottbauer, Leiter der Klinik für Innere Medizin II am Universitätsklinikum Ulm. Alle anderen, deren OP-Risiko „nicht niedrig“ ist, sollen nach „gründlicher individueller Evaluation der technischen Eignung und des Risiko-Nutzen-Verhältnisses des jeweiligen Verfahrens durch das Herz-Team“ der TAVI zugeführt werden.
Unklar sei weiterhin die Vorgehensweise bei Patienten mit asymptomatischer Aortenstenose, bemerkte Rottbauer. „Warum spricht man bei diesen Patienten nur vom chirurgischen Verfahren“, monierte er. Die Evidenzlücke hinsichtlich der Behandlung dieser Erkrankung sei auch in den „Gaps of Evidence“ formuliert, ebenso wie die fehlenden Langzeit-Daten für TAVI-Klappen. „Die 5-Jahres-Daten sind aber sehr valide“, sagte Baumgartner gegenüber Medscape.
Ebenso sei fraglich, ob Patienten mit niedrigem Operationsrisiko grundsätzlich dem chirurgischen Verfahren zugeführt werden müssten. „Wird die Tatsache, dass für diese Patienten nicht das TAVI-Verfahren empfohlen wird, ausschließlich durch fehlende Studien begründet oder gibt es andere Argumente dagegen?“, fragte der Sitzungs-Vorsitzender Prof. Dr. Steffen Massberg, Direktor der Medizinischen Klinik und Poliklinik I der LMU München.
Die C-Empfehlung für den chirurgischen Eingriff beruhe „ausschließlich auf Expertenmeinung“, es gebe keine randomisierten Studien, sagte Rottbauer. „Es gab für diese Patientengruppe mit asymptomatischen Aortenstenosen eine Zurückhaltung, was TAVI betrifft, jedoch laufen mittlerweile randomisierte Studien“, räumte Baumgartner ein. Deren Veröffentlichung werde jedoch noch einige Zeit dauern, da aktuell erst Patienten aufgenommen würden.
„Wir sind als Chirurgen mit dieser Empfehlung in den aktuellen Leitlinien ganz glücklich“, bemerkte Falk, Direktor der Klinik für Kardiovaskuläre Chirurgie an der Charité – Universitätsmedizin in Berlin.
Patientenwunsch beachten?
Generell, sagte Rottbauer, solle die Wahl zwischen chirurgischem oder interventionellem Verfahren nicht ausschließlich auf dem Risiko-Score und dem Alter der Patienten basieren. „Eine Referenz hinsichtlich des Patientenwunsches fehlt mir in den ESC-Leitlinien“, bemerkte auch Prof. Dr. Norbert Frey, Direktor der Klinik für Innere Medizin III mit den Schwerpunkten Kardiologie, Angiologie und internistische Intensivmedizin am Universitätsklinikum Schleswig-Holstein in Kiel, ebenfalls im Vorsitz der Leitliniensitzung.
Zumindest wäre die Frage nach den Patientenwünschen erstmals in die Vorbemerkungen zu den ESC-Leitlinien aufgenommen worden, sagte Rottbauer, nicht jedoch in die späteren Aufstellungen zu TAVI versus Operation. „Das wäre ökonomisch auch problematisch und würde der Kostenträger nicht mitmachen”, bemerkte Mitverfasser Baumgartner hierzu. Zudem wäre der Patientenwunsch immer auch abhängig von dessen Führung durch den Arzt.
Allerdings haben Kardiologen und Herzchirurgen in ihrer gemeinsamen Stellungnahme zur ESC-Leitlinie vom 4. April 2018 (wie Medscape berichtete) präzisere Angaben zum Patientenwunsch veröffentlicht. Kommen gemäß der Leitlinien und nach Ansicht des Heart Teams beide Methoden gleichermaßen in Betracht, sei „der Wille des informierten und umfassend aufgeklärten Patienten maßgebend“. „In aller Regel entscheiden sich die Patienten dann für die Intervention“, sagte Baumgartner im Gespräch mit Medscape.
Herzchirurgen im Rückzugsgefecht
Ohnehin führten die Chirurgen zumindest bei der Behandlung der Aortenstenosen ein „Rückzugsgefecht“, bemerkte Leitlinien-Mitverfasser Falk süffisant in seinem Vortrag „Was bleibt für den Chirurgen?“ Es mache den Eindruck, dass TAVI die Chirurgie verdrängte. „Das muss auch so sein“, kommentierte Falk.
Jedoch sei die Chirurgie bei allen Neuerungen „immer der Geburtshelfer der Kardiologie“ gewesen. „Somit können auch wir Chirurgen diese minimalinvasiven Eingriffe vornehmen“, sagte er. „Ich bin ja für diese Technologie und habe sie mit auf den Weg gebracht“, erklärte er gegenüber Medscape. Jedoch hätten viele insbesondere ältere Kollegen „diesen Zug verpasst und wollen diese Eingriffe nicht machen“, erklärte der Herzchirurg. „Die jüngeren wachsen aber damit auf. Machen wir uns keine Illusionen – der Trend hin zu TAVI wird anhalten und auch Niedrigrisiko-Patienten wird dieses Verfahren empfohlen werden.“
Bei schweren Komplikationen sei der Kardiologe allerdings froh, wenn sich ein Chirurg im Haus befinde. „Diese Komplikationen sind aber Gott sei Dank seltener geworden“, ergänzte Falk. Laut IQTIG Bundesauswertung war 2016 bei 0,51% der TAVI-Verfahren eine herzchirurgische Konversion notwendig.
Im Kommentar der Herzchirurgen und Kardiologen, den Falk ebenfalls mit verfasste, wurde betont, dass TAVI nur in Zentren mit kardiologischer und herzchirurgischer Fachabteilung durchgeführt werden soll. „Es ist davon auszugehen, dass die Mehrzahl der Standorte in Deutschland, die TAVI durchführen, die strukturellen Anforderungen ... erfüllen“, heißt es in dem Kommentar. Etwa 80 Herzklappenzentren mit ‚Chirurgie on Site‘ gebe es aktuell in Deutschland, sagte Falk.
Die Ergebnisse der TAVI hängen nicht zuletzt von der Erfahrung der Ärzte, sprich, von den Fallzahlen der Zentren, ab, so die Experten. In einem Positionspapier der DGK werden 50 TAVI pro Jahr als Mindestzahl empfohlen – zu wenig, finden Baumgartner und Falk. „Meine persönliche Meinung: Die Zahlen sollten eher im dreistelligen Bereich liegen“, sagte er gegenüber Medscape. Falk ist der gleichen Ansicht: „Liegen die Fallzahlen bei etwa 200 Interventionen pro Jahr, wird eine bessere Performance erreicht.“
REFERENZEN:
1. 84. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Kardiologie, 5. bis 7. April 2018, Mannheim
Medscape Nachrichten © 2018 WebMD, LLC
Diesen Artikel so zitieren: Herzklappen-Erkrankungen: Katheter oder Skalpell – welches Verfahren für welchen Patienten? - Medscape - 20. Apr 2018.
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