Nach mehr als 4-jähriger Arbeit hat die Deutsche Gesellschaft für Neurologie (DGN) nun doch noch pünktlich zu Beginn der diesjährigen Zeckensaison die erste S3-Leitlinie zur Neuroborreliose veröffentlicht [1]. Ein Rechtsstreit vor dem Landgericht Berlin hatte die Publikation mehrere Monate verzögert. 2 Patientenverbände, die Deutsche Borreliose-Gesellschaft sowie der Borreliose-und-FSME-Bund Deutschland, hatten eine einstweilige Verfügung erwirkt, weil sie sich mit ihren kritischen Positionen nicht adäquat vertreten fanden.
Das 81 Seiten starke Papier enthält alle aktuellen Erkenntnisse zur Diagnose und Therapie der Erkrankung, die durch Bakterien der Art Borrelia burgdorferi verursacht und durch Zecken übertragen wird. Die aktuellen Empfehlungen lösen die bisherige S1-Leitlinie ab.

Prof. Dr. Sebastian Rauer
„Die neue S3-Leitlinie erläutert, welche diagnostischen Schritte und Labortests die Diagnose Neuroborreliose sichern, und bietet einen Überblick über wirksame Therapien“, berichtet Prof. Dr. Sebastian Rauer, der federführende Koordinator der Empfehlungen, im Gespräch mit Medscape. Zudem enthalte sie ein Informationsblatt für Patienten zur Nachbeobachtung eines Zeckenstichs und gebe Empfehlungen zur Prävention einer Borrelien-Infektion, so der Leitende Oberarzt an der Neurologischen Universitätsklinik Freiburg. Erstmals gelte die Leitlinie auch für die Erkrankung im Kindes- und Jugendalter.
Hinter den Empfehlungen stehen mehr als 20 Expertengruppen
An der Erarbeitung der neuen Leitlinie waren 19 wissenschaftliche medizinische Fachgesellschaften beteiligt, die mit dem Krankheitsbild Neuroborreliose zu tun haben, sowie das Robert Koch-Institut (RKI), die Paul Ehrlich Gesellschaft (PEG), 3 Patientenorganisationen und die Deutsche Borreliose-Gesellschaft (DBG), eine Vereinigung von Wissenschaftlern und Ärzten, die sich mit der Borreliose und assoziierten Infektionskrankheiten befasst.
„Alle Empfehlungen wurden in einem strukturierten Evidenz- und Konsensusprozess nach den methodischen Vorgaben der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften, der AWMF, erstellt“, sagt Rauer. Es habe 5 Konsensus-Konferenzen und eine außerordentliche Konferenz gegeben, bei denen die vorhandenen wissenschaftlichen Studien sowie die Erfahrungen der Experten ausführlich diskutiert worden seien.
Ein Rechtsstreit war der Veröffentlichung der Leitlinie vorausgegangen
„Nicht zu allen Punkten konnte jedoch ein Konsens gefunden werden“, berichtet Rauer. „Im Hinblick auf die späte Neuroborreliose und vermeintliche latente Langzeit-Infektionen besteht zwischen den wissenschaftlichen Fachgesellschaften einerseits und der DBG sowie den Patientenorganisationen andererseits nach wie vor eine große Kontroverse.“ Die DBG und die Patientenorganisation „Borreliose und FSME Bund Deutschland“ hatten versucht, die Leitlinie deswegen mit einer einstweiligen Verfügung zu stoppen.
Zuvor hatten sie gemeinsam Sondervoten verfasst, die als Dissensberichte im Leitlinien-Report veröffentlicht werden sollten. Diese Platzierung war den beiden Gruppen jedoch nicht prominent genug. Sie hatten eine Publikation in der Leitlinie selbst beabsichtigt. Aus diesem Grund hatten sie das Landgericht Berlin angerufen, das im Dezember 2017 mit einer einstweiligen Verfügung die Publikation der Leitlinie vorerst untersagte.
In dem Streit ging es vor allem um die Spätfolgen einer Borrelieninfektion
Mit einem Urteil vom 12. März 2018 hob das Gericht die einstweilige Verfügung zwar wieder auf und wies zudem den Antrag der Kläger zurück, die Sondervoten in den Leitlinientext aufzunehmen. Dennoch verzögerte der Rechtsstreit die geplante Veröffentlichung der Empfehlungen um mehrere Monate.
„Dieser Versuch, nach wissenschaftlichen Kriterien nicht haltbare Ansichten und damit für Patienten mitunter gefährliche Therapieformen per Jurisdiktion durchzusetzen, ist unserer Kenntnis nach ein einmaliger Vorgang“, sagt Rauer. Glücklicherweise sei das nicht gelungen. „Die fachliche Mehrheitsmeinung, die nach größtmöglicher Objektivität strebt, ist nun publiziert worden – zum Wohle der Patienten“, betont der Neurologe.
Die aktuelle Leitlinie bezieht klar Stellung zu den vermeintlichen Spätfolgen einer Borrelieninfektion, die Jahre nach dem Zeckenstich auftreten sollen. „Krankheitsbilder mit anhaltenden unspezifischen oder untypischen Symptomen sind meistens keine Borreliosen“, erklärt Rauer. Es sei daher auch nicht gerechtfertigt, Patienten mit derartigen Symptomen über viele Wochen oder gar Monate hinweg antibiotisch zu behandeln, wie es vor allem Ärzte der DBG propagieren.
Höchstens 15 Prozent der Borrelien-Infektionen betreffen das Nervensystem
Die Lyme-Borreliose ist die am häufigsten durch Zecken übertragene Krankheit in Europa. In Deutschland erkranken jährlich zwischen 60.000 und mehr als 200.000 Menschen. Eine frühzeitige Entfernung der Zecke, bevor sie sich mit Blut vollgesaugt hat, kann die Übertragung der Erreger verhindern. Die spiralförmigen Borrelien befallen überwiegend die Haut. Das typischste Symptom ist die Wanderröte: Um den Zeckenstich herum bildet sich ein roter Rand, der sich langsam nach außen ausbreitet. Hinzu kommen oft Muskel- und Gelenkschmerzen sowie andere grippeähnliche Beschwerden. Im übrigen Körper können die Borrelien Gelenke, das Nervensystem und selten auch das Herz befallen.
In 3 bis 15% der Fälle kommt es zu einer Neuroborreliose. Typisch für die akute Erkrankung sind Entzündungen der Nervenwurzeln, die sich durch brennende und stechende Schmerzen bemerkbar machen, die vor allem nachts auftreten, oft gürtelförmig verteilt sind und schlecht auf Schmerzmittel ansprechen. Auch Lähmungen der Gesichtsnerven, Arme und Beine können vorkommen. Bei Kindern äußert sich eine akute Neuroborreliose am häufigsten in einer Gesichtsnervenlähmung oder einer Hirnhaut-Entzündung. Im sehr seltenen Spätstadium der Krankheit ist meist das Rückenmark betroffen. Mögliche Spätfolgen einer unbehandelten akuten Infektion sind zunehmende Spastiken in den Beinen und Blasenschwäche.
„Anhand der typischen Symptome in Verbindung mit entzündlichen Veränderungen im Nervenwasser und dem positiven Antikörper-Nachweis lässt sich eine Neuroborreliose in der Regel zweifelsfrei feststellen“, sagt Rauer. Von Blut- oder Liquortests auf Borreliose bei unspezifischen Beschwerden rät der DGN-Experte ab: „Laboruntersuchungen sind nur bei ausreichendem klinischen Verdacht sinnvoll.“
Schlechte Langzeitverläufe beruhen oft auf Fehldiagnosen
Zu den vermeintlichen chronischen Neuroborreliosen liefert die neue S3-Leitlinie eindeutige wissenschaftliche Fakten. Nicht haltbar ist demnach die Theorie, nach der Erschöpfung, Konzentrationsstörungen, chronische Müdigkeit, wandernde Schmerzen, Gedächtnisstörungen, Kopfschmerzen und andere schwer greifbare Beschwerden trotz unauffälliger Liquordiagnostik auf eine nicht erkannte oder unzureichend behandelte Infektion des Nervensystems mit Borrelien zurückzuführen sind.
„Die Neuroborreliose verläuft überwiegend gutartig“, betont Rauer. Schlechte Langzeitverläufe, von denen immer wieder berichtet werde, seien zum erheblichen Teil auf Fehldiagnosen zurückzuführen. „Das Nichtansprechen auf die Therapie liegt in diesen Fällen also nicht daran, dass die Borrelien überleben“, erklärt er. Der Grund sei vielmehr, dass die Patienten keine Neuroborreliose hätten, sondern eine andere Erkrankung, die nicht auf Antibiotika anspreche. Den Lymphozyten-Transformationstest, der bei diffusen Beschwerden eine chronische Borreliose nachweisen soll, hält Rauer im Einklang mit den Fachgesellschaften für nicht aussagekräftig.
Eine maximal 3-wöchige Antibiotika-Therapie ist ausreichend
Die Antibiotika-Behandlung sollte den Empfehlungen der Leitlinie zufolge mit Doxycyclin, Penicillin G, Ceftriaxon oder Cefotaxim erfolgen. „Diese Substanzen sind bei gleicher Verträglichkeit gleich gut wirksam gegen Borrelien“, sagt Rauer. „Zu der Wirksamkeit von anderen Medikamenten oder Antibiotika-Kombinationsbehandlungen liegen dagegen zu wenig auswertbare Studiendaten vor.“
Die Leitlinie betont, dass eine medikamentöse Therapiedauer von 14 Tagen bei der akuten und von 14 bis 21 Tagen bei der späten Neuroborreliose im Regelfall ausreichend ist. „Eine längere Behandlung bringt keinen Mehrwert, sondern setzt die Patienten einem unnötigen Risiko von schweren Nebenwirkungen aus“, betont Rauer. „Wenn Antibiotika nach 2 bis 3 Wochen nicht anschlagen, bringen auch weitere Wochen oder gar Monate nichts.“
Der DGN-Experte hofft, dass die neue Leitlinie nun diejenigen Ärzte, die ihren Patienten solche Langzeittherapien bislang angeraten haben, zumindest dazu bringen wird, ihre bisherige Praxis zu überdenken. „Die aktuellen Empfehlungen werden ihnen ihr – wissenschaftlich nicht zu rechtfertigendes – Handeln jedenfalls erschweren“, sagt er. Spätestens wenn infolge einer mehrmonatigen Antibiotika-Behandlung Komplikationen aufträten, würden die Ärzte ihre Therapieentscheidung rechtfertigen müssen, sagt Rauer. „Und vor dem Hintergrund der neuen S3-Leitlinie dürfte das sehr schwer werden.“
REFERENZEN:
1. S-3-Leitlinie Neuroborreliose der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN), Stand 21. März 2018
Medscape Nachrichten © 2018 WebMD, LLC
Diesen Artikel so zitieren: Gut Ding … S3-Leitlinie Neuroborreliose nach 4 Jahren und Rechtsstreit nun rechtzeitig zur Zecken-Saison publiziert - Medscape - 19. Apr 2018.
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