Studie stellt „Übergewichts-Paradoxon“ infrage: Schon bei ein paar Kilos zu viel ist das kardiovaskuläre Risiko deutlich erhöht

Julia Rommelfanger

Interessenkonflikte

13. April 2018

Mannheim – Das oft zitierte „Übergewichts-Paradoxon“ scheint – zumindest für Gesunde – wohl doch nicht zu gelten. Das impliziert eine neue Kohortenstudie aus Großbritannien mit fast 300.000 Patienten, in der bereits ab einem Body-Mass-Index (BMI) von 23 kg/m², also in einem Bereich, der noch als Normalgewicht gilt, das Herz-Kreislauf-Risiko signifikant erhöht war [1].

„Mit dem Übergewichts-Paradoxon, dem Glauben also, dass ein bisschen dick zu sein sogar gut ist für die Herzgesundheit, räumt diese Studie eindeutig auf, zumindest bei gesunden Menschen“, kommentierte Prof. Dr. Nikolaus Marx, Direktor der Medizinischen Klinik I – Kardiologie, Pneumologie, Angiologie und Internistische Intensivmedizin am Universitätsklinikum Aachen und Mitglied der Kommission für Klinische Kardiovaskuläre Medizin der Deutschen Gesellschaft für Kardiologie (DGK), der die Studienergebnisse auf der Jahrestagung der DGK in Mannheim präsentierte [2].

Jedes Kilo zu viel schadet dem Herzen

„Fakt ist: Ein erhöhter BMI ist eindeutig mit einem erhöhten Risiko für kardiovaskuläre Krankheiten assoziiert“, betonte Marx. Die Probanden der Studie, hellhäutige Europäer, die im Schnitt 55 Jahre alt waren, hatten zu Studienbeginn keine kardiovaskulären Vorerkrankungen.

„Das Ergebnis lässt an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig“, kommentierte Marx. Bei 3,3% der Frauen und 5,7% der Männer trat im Untersuchungszeitraum ein kardiovaskuläres Ereignis auf. Bei einem BMI zwischen 22 und 23 kg/m2 war das Risiko am geringsten; bereits darüber stieg die Ereigniswahrscheinlichkeit pro 5,2 kg/m2 um jeweils 13% an.

„Das bedeutet, dass sogar innerhalb der bislang als gesund erachteten BMI-Spanne von 18 bis 25 kg/m2 bereits ein Risikoanstieg zu verzeichnen ist“, so Marx. Ähnliche Ergebnisse zeigte die Messung des Bauchumfangs der Studienteilnehmer: Im Vergleich zu einem Bauchumfang von 74 bis83 cm stieg das kardiovaskuläre Risiko bei Frauen pro weiterer 12,6 cm um 10%, bei Männern pro 11,4 cm sogar um 16%.  

Nur bei rund 5 bis 15% aller Übergewichtigen korrespondiert vermehrtes Körperfett nicht mit einem höheren kardiovaskulären Risiko, betonte Marx. Wer also einen BMI von 25 kg/m² hat, dem schade es keinesfalls, diesen auf 22 zu reduzieren.“

 
Das bedeutet, dass sogar innerhalb der bislang als gesund erachteten BMI-Spanne von 18 bis 25 kg/m 2 bereits ein Risikoanstieg zu verzeichnen ist. Prof. Dr. Nikolaus Marx
 

„Jeglichen Mythos über einen möglicherweise schützenden Effekt von Körperfett hinsichtlich des kardiovaskulären Risikos sollte man anzweifeln“, schlussfolgern ebenso die Autoren der Studie um Dr. Stamatina Iliodromiti von der Medizinischen Fakultät der Universityy of Glasgow, Schottland, im European Heart Journal [2].

Fettdepots produzieren Entzündungsstoffe

Prof. Dr. Martin Halle

„Das Grundprinzip ist so banal wie bekannt: Führen wir dem Organismus mehr Energie zu als wir verbrauchen, sammeln sich die überschüssigen Kalorien im Fettgewebe und überschüssiger Zucker und Fette in der Leber“, erklärte Prof. Dr. Martin Halle, Ärztlicher Direktor des Zentrums für Prävention und Sportmedizin an der TU München.

Die überzähligen Fette belasten sowohl die Gelenke als auch das Herz-Kreislauf-System. Zudem entstünden im Fettgewebe Entzündungsstoffe, die zu Gefäßveränderungen und -verkalkungen führten und das kardiovaskuläre Risiko weiter erhöhen könnten. Die kardiovaskulären Folgen von Übergewicht reichten von zunächst reduzierter Belastbarkeit bis hin zu einer Versteifung des Herzmuskels, was schlimmstenfalls zu einer Herzinsuffizienz führen könnte, warnte Halle.

Das bedeute aber im Umkehrschluss auch, dass Gegenmaßnahmen dieses Risiko stoppen könnten: Wer es schaffe, seinen BMI dauerhaft auf einen Wert zwischen 22 und 23 kg/m² zu senken und zudem wenig Bauchfett anzusammeln, könne sein Risiko einer kardiovaskulären Erkrankung deutlich senken, sagte Marx.

Für Übergewichtige wäre die Abklärung weiterer kardiovaskulärer Risikofaktoren – Diabetes, Bluthochdruck oder Fettstoffwechselstörungen – wichtig. „In diesem Zusammenhang sind auch wir Mediziner und die Politik gefordert“, betonte er. „Gemeinsam müssen wir die Anstrengungen in der Gesundheits-Aufklärung und Hilfe bei gegebenenfalls notwendigen Lebensstilumstellungen intensivieren.“ Mit relativ geringen Investitionen ließen sich „potenziell große Effekte erzielen: Sie können lebensrettend sein“.

Weniger Bewegung hilft mehr: 7 Minuten täglich genügen

Eine vielversprechende Gegenmaßnahme für Übergewichtige, die ihr Herz-Kreislauf-Risiko senken wollen, ist neben dem Abnehmen regelmäßige Bewegung. Die Muskelbelastung führe zusätzlich zur Kalorienverbrennung zur Ausschüttung von Myokinen, hormonähnlichen Botenstoffe, die der Produktion von schädlichen Entzündungsfaktoren entgegenwirkten, erklärte Halle. „Mein dringender Appell an alle Betroffenen kann daher nur lauten, zumindest ein Mindestmaß an körperlicher Aktivität zu entwickeln.“

 
Wie wir aus zahlreichen Studien wissen, kann bereits ein Mindestmaß an körperlicher Aktivität die schlimmsten Folgewirkungen der Adipositas mildern und im günstigsten Fall sogar verhindern. Prof. Dr. Martin Halle
 

Seine Betonung lag dabei auf Mindestmaß. Denn die gute Nachricht für Sportmuffel lautet: Schon 7 Minuten täglich könnten ausreichen, um einen Effekt zu erzielen, berichtete der Experte. „Wie wir aus zahlreichen Studien wissen, kann bereits ein Mindestmaß an körperlicher Aktivität die schlimmsten Folgewirkungen der Adipositas mildern und im günstigsten Fall sogar verhindern.“

In der Praxis entsprächen die Ratschläge von Ärzten und Trainern meist nicht der Lebensrealität der Menschen, erklärte Halle. Die übliche Empfehlung etwa, 3 mal wöchentlich 30 Minuten zu joggen ist für die meisten, insbesondere Übergewichtige, nicht praktikabel – also wird resigniert und häufig ganz auf die Bewegung verzichtet.

„Für jemanden mit einem BMI von 30 oder gar mehr kann ein 30-minütiger Spaziergang bereits eine schwere Überforderung darstellen.“ Es sei höchste Zeit mit dem weit verbreiteten Irrtum aufzuräumen, dass Bewegungseinheiten mindestens 30 Minuten dauern müssten, um gesundheitsfördernde Effekte zu erzielen, forderte der Facharzt für Innere Medizin, Kardiologie und Sportmedizin. „Schätzungsweise 80% der Deutschen schaffen dieses Ziel nicht.“

Deutliche Anpassungen nach 6 Wochen

Wer dagegen täglich nur 7 bis 8 Minuten zügig spazieren gehe, reduziere sein Risiko für kardiovaskuläre Erkrankungen und Diabetes bereits um 20%, erklärte Halle. Noch effektiver sei allerdings ein „Trip-Trab-Lauf“, bei dem beide Füße kurzzeitig den Boden verlassen. Auf diese Weise werden die Kniegelenke weniger belastet als beim Joggen, man erreicht jedoch eine höhere kardio-pulmonale Aktivität als beim Spazieren. In jedem Fall müsse die Bewegung wirklich „zügig“, das heißt mit deutlich erhöhtem Pulsschlag, und wirklich jeden Tag durchgeführt werden, da nur auf diese Weise die hormonellen Prozesse im Muskel angeregt werden, sagte Halle.

„Wer das schafft, darf schon nach 6 bis 8 Wochen mit erheblich verbessertem Muskelstoffwechsel, höherer Gefäßelastizität und einer gesteigerten diastolischen Herzfunktion rechnen.“ Nach Halles Ansicht könnte man mit einem solchen Programm den gleichen kardiovaskulären Effekt erzielen wie mit einer über 2 Jahre verteilten kontinuierlichen Gewichtsabnahme von 20 Kilo.

Adipositas-Chirurgie in Deutschland seltener als anderswo

Schlagen alle lebensstilverändernden Maßnahmen fehl, können letztendlich auch Chirurgen stark adipösen Menschen helfen, bemerkte zum Abschluss auf dem DGK-Kongress Prof. Dr. Dieter Birk, Ärztlicher Direktor der Klinik für Allgemein- und Viszeralchirurgie am Krankenhaus Bietigheim-Vaihingen und Vorsitzender der Chirurgischen Arbeitsgemeinschaft Adipositas-Therapie und metabolische Chirurgie der Deutschen Gesellschaft für Allgemein- und Viszeralchirurgie . Er geht von 1,4 Millionen Menschen in Deutschland mit einem BMI von über 40 kg/m2 aus – doppelt so viele wie noch vor 10 Jahren.

 
Wer schon im Alter von 30 Jahren einem BMI von 40 oder mehr hat, lebt nachweislich 15 Jahre kürzer. Prof. Dr. Dieter Birk
 

„In diesem Stadium von einer schweren Erkrankung zu sprechen, ist keineswegs übertrieben“, sagt Birk. Infolge von Begleiterkrankungen wie Diabetes oder Schädigungen des Herz-Kreislauf-Systems senke das Übergewicht die Lebenserwartung „dramatisch“. „Wer schon im Alter von 30 Jahren einem BMI von 40 oder mehr hat, lebt nachweislich 15 Jahre kürzer.“ Er fordert daher die Gleichstellung von Adipositas mit anderen chronischen Erkrankungen.

Birk wies darauf hin, dass diesen Menschen heute mit einer „Reihe von chirurgischen Verfahren“ geholfen werden könnte, allen voran Magenbypass und Magenverkleinerung, Methoden, die, so Birk, eine Reduktion von 50 bis 80% des Übergewichts erreichen. „Nach fast 15 Jahren angewendeter Adipositas-Chirurgie wissen wir mittlerweile auch, dass … diese Effekte auch 10 Jahre nach der Operation erhalten bleiben.“

Es sei daher „mehr als fragwürdig“, dass bariatrische Eingriffe in Deutschland im Vergleich etwa zu anderen europäischen Ländern wie der Schweiz, Frankreich oder Belgien so selten durchgeführt würden, monierte Birk. In den deutschlandweit rund 100 zertifizierten Adipositas-Zentren werden jährlich etwa 100.000 dieser Operationen vorgenommen. In anderen Ländern werde im Verhältnis zur jeweiligen Einwohnerzahl bis zu 30 Mal häufiger operiert.

„Das liegt zum einen daran, dass schätzungsweise nur jeder fünfte Betroffene den Ernst seiner Lage erkennt“ und zu einer OP bereit wäre, vermutete Birk. „Das zeigt uns, dass wir die Aufklärungsbemühungen sowohl auf ärztlicher Seite wie auch in der Gesundheitspolitik allgemein deutlich verstärken müssen.“ Die Behandlung einer Adipositas sei aber nach wie vor nicht im Abrechnungskatalog vorgesehen, kritisierte er.

Noch gravierender wirke sich jedoch die restriktive Haltung der Krankenkassen zur Kostenübernahme des Eingriffs aus. Obwohl eine Operation für diese Patienten in den Leitlinien „ganz klar vorgesehen ist“, würden die meisten Einzelfallgenehmigungen zunächst verweigert – „oft aus fadenscheinigen Gründen“, meinte Birk.

Das sei aus medizinischer Sicht „nicht nachvollziehbar und absolut inakzeptabel“, auch, da ab einem gewissen Stadium ein „Point of no Return“ erreicht sei, ab dem Diäten, wenn überhaupt, nur noch kurzfristig wirkten. Der Körper, erklärte Birk, stelle sich hormonell auf das Maximalgewicht ein und versuchte diesen „vermeintlichen Idealzustand immer wieder zu erreichen“.

Allerdings, räumte er auch ein, ist auch die OP „keine allein selig machende Maßnahme“. Vielmehr müssen die Patienten danach lebenslang nachbetreut werden, da sie durch den Eingriff nicht von ihrer Krankheit geheilt sind. „Hier gibt es aktuell eine enorme Versorgungslücke“, so Birk. Das Problem sei einmal mehr das fehlende Budget für Hausärzte für die Betreuung adipöser Patienten.

 

REFERENZEN:

1. 84. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Kardiologie, 5. bis 7. April 2018, Mannheim. Pressekonferenz zu Übergewicht und Herzgesundheit, 6. April 2018

2. Iliodromiti S, et al: European Heart Journal (online) 16. März 2018

 

Kommentar

3090D553-9492-4563-8681-AD288FA52ACE
Wir bitten darum, Diskussionen höflich und sachlich zu halten. Beiträge werden vor der Veröffentlichung nicht überprüft, jedoch werden Kommentare, die unsere Community-Regeln verletzen, gelöscht.

wird bearbeitet....