Tödliches Blei: US-Statistik vermutet 10-mal mehr Tote durch Intoxikation mit dem Umweltgift als bisher angenommen

Dr. Angela Speth

Interessenkonflikte

9. April 2018

Das Umweltgift Blei verursacht einer neuen Statistik zufolge in den USA 10-mal mehr Todesfälle als bisher berechnet, nämlich rund ein Fünftel aller Todesfälle. Erstmals wurde außerdem nachgewiesen, dass sogar geringfügige Bleiwerte im Blut die Mortalität erhöhen.

Dieses Ergebnis könnte für Deutschland ebenfalls relevant sein, da auch die hiesige Bevölkerung mit dem Schwermetall belastet ist. Das geht aus einer Tabelle hervor, die das Umweltbundesamt UBA Medscape auf Anfrage zur Verfügung gestellt hat. Demnach haben beauftragte Forscher  sowohl bei Erwachsenen als auch bei Kindern im Blut nicht unerhebliche Mengen Blei nachgewiesen.

Die Studie, die Prof. Dr. Bruce P. Lanphear und seine Kollegen von der Universität in Vancouver, Kanada, jetzt vorgestellt haben, basiert auf einer repräsentativen Stichprobe von 14.289 erwachsenen US-Bürgern [1]. Sie waren zwischen 1988 and 1994 in das Forschungsprogramm NHANES-III (Third National Health and Nutrition Examination Survey) aufgenommen worden. Nach einer ärztlichen Untersuchung und einem Interview zum demographischen und sozioökonomischen Status, zu Ernährung und Gesundheit wurden sie bis Ende 2011 medizinisch beobachtet.

Zusammenhang zwischen Blei-Blutwerten und Sterberate

Zu Beginn variierten die Bleispiegel im Blut zwischen 1 und 56 μg/dl, mit einem Mittelwert von 2,71 μg/dl. Ein Fünftel der Teilnehmer hatte Konzentrationen höher als 5 μg/dl, nur bei 9% lagen sie unterhalb der Nachweisgrenze.

Fast derselbe Zeitraum wird in Deutschland durch die Bleianalysen des UBA abgedeckt: So hatten dem Survey 1998 zufolge Frauen im Schnitt 7 μg/dl Blei im Blut, Männer 9 μg/dl, jeweils bezogen auf die Altersgruppe zwischen 18 und 69 Jahren. Bei Kindern von 3 bis 14 Jahren wurden im Kinder-Umwelt-Survey 3,5 μg/dl für den Zeitraum 2003/2006 gemessen.

Wieviel Blei die Menschen in Deutschland heutzutage im Blut haben, ist nicht bekannt, denn aktuelle Zahlen sind laut UBA nicht verfügbar. Zwar habe die Kommission Human Biomonitoring, die Körperflüssigkeiten und -gewebe auf Umwelteinflüsse beobachtet, neuere Angaben zur Bleibelastung aus den Bundesländern gesammelt. Jedoch kamen die Experten im Oktober 2011 zu dem Schluss, dass die Daten nicht als repräsentativ gelten könnten. Dennoch vermuteten sie, dass die Belastung gegenüber 1998 deutlich abgenommen hat und die Referenzwerte sowohl für Frauen als auch für Männer mittlerweile unter 5 μg/dl liegen.

Die US-Wissenschaftler fanden nach dem Studienzeitraum von median 19,3 Jahren heraus: Zwischen den anfänglichen Blutwerten für Blei und den Sterberaten bestanden enge Korrelationen. In der 90. Perzentile – entsprechend Bleiwerten ab 6,7 μg/dl – war die allgemeine Mortalität im Vergleich zur 10. Perzentile – bei bis zu 1 μg/dl – um 40% erhöht, die kardiovaskuläre Mortalität um 70% und die Mortalität durch ischämische Herzkrankheiten mehr als verdoppelt. Ein ähnliches Muster ergab sich, selbst dann, wenn die Analyse auf Konzentrationen unter 5 μg/dl begrenzt blieb.

Jüngere Menschen und Nichtraucher sind besonders gefährdet

Auf Grundlage ihrer Daten haben Lanphear und seine Mitarbeiter kalkuliert, dass 18% der Menschen in den USA an den langfristigen Folgen einer Blei-Intoxikation sterben, und zwar jährlich 412.000 von insgesamt 2,3 Millionen. Davon geht der Hauptanteil, nämlich 250.000, auf das Konto von kardiovaskulären Erkrankungen.

Eine überraschende Entdeckung: Die Assoziation zu diesen Krankheiten ist bei niedrigen Spiegeln proportional größer als bei höheren, das heißt, die Mortalität steigt schärfer an – eine sogenannte supralineare Dosis-Wirkungs-Beziehung.

Weiterhin sind Personen unter 50 Jahre im Vergleich zu älteren anfälliger gegen die Schädigung durch Blei. Die Wahrscheinlichkeit, mit der im Beobachtungszeitraum das jeweilige Ereignis bei den beiden Altersgruppen eintrat (Hazard Ratio, HR), betrug für Todesfälle gleich welcher Ursache 2,24 versus 1,53, für die kardiovaskuläre Mortalität 2,93 versus 2,08 und für die Mortalität infolge ischämischer Herzerkrankungen 4,68 versus 2,46.

Ähnlich übertraf bei Nichtrauchern die Blei-assoziierte kardiovaskuläre Mortalität mit einem HR-Wert von 2,19 die Marke von 1,32 bei Rauchern beträchtlich. Wie die kanadischen Forscher erläutern, erreicht die allgemeine und kardiovaskuläre Mortalität, die auf Blei zurückgeht, ein ähnliches Ausmaß wie die Gefahr durch Zigaretten. Dabei sei in Rechnung zu stellen, dass nur 20% der US-Bürger rauchen, aber der Studie zufolge 90% mit Blei belastet sind. Das bedeutet: Selbst wenn das relative Risiko eines Giftstoffs geringer ist als das eines anderen, kann er größeren Schaden anrichten, wenn die Exposition mehr Menschen betrifft.

 
Die Ergebnisse legen nahe, dass selbst eine geringfügige Blei-Exposition ein wichtiger, weithin übersehener Risikofaktor für Todesfälle in den USA ist … Prof. Dr. Bruce P. Lanphear und Kollegen
 

Bei ihrer Auswertung hatten die Wissenschaftler auch verschiedene Variablen daraufhin abgeklopft, ob sie die Ergebnisse verfälschen könnten. Aber weder für Alter, Geschlecht, ethnische Herkunft, Lage des Wohnorts oder Einkommen, noch für Diabetes, Hypertonie, Serumcholesterin, Alkoholkonsum oder Rauchen ließ sich eine Verzerrung herausfiltern.

Bislang ging man von nur 558.000 Todesfällen aus – weltweit

Die ermittelten Zahlen lagen um das 10-fache höher als jene, die vorangehende Analysen berechnet hatten. Einen Eindruck von den früheren Schätzungen gibt eine große Studie, worin die Todesfälle durch Blei für 2015 weltweit mit „lediglich“ 558.000 veranschlagt worden waren. Bemerkenswert: Die Hälfte der Gestorbenen hatte das 70. Lebensjahr überschritten.

Die eklatante Unterschätzung, argumentieren die Autoren, rühre daher, dass Toxikologen bis dato Bleikonzentrationen erst ab 5 μg/dl berücksichtigt hätten. Der Grund: Es herrschte die Ansicht vor, niedrigere Werte würden sich nicht auf die Mortalität auswirken.

„Die Ergebnisse legen nahe, dass selbst eine geringfügige Blei-Exposition ein wichtiger, weithin übersehener Risikofaktor für Todesfälle in den USA ist, besonders für Todesfälle aus kardiovaskulärer Ursache“, schreiben sie.

Damit werde auch die Hypothese, für toxische Substanzen – ob Blei, Tabak oder Luftschadstoffe – existierten Schwellenwerte, immer hinfälliger. Mittlerweile seien toxische Effekte auf viele Organe bereits ab Mengen nachgewiesen, die lange als unbedenklich galten. So zeigten sich kognitive Defizite und Verhaltensstörungen bei Kindern bereits bei geringer Exposition.

 
Bisher hat man die Gefahr, die von Blei ausgeht, weitgehend ignoriert. Prof. Dr. Philip John Landrigan
 

Die Schlüsselerkenntnis der Studie liege darin, dass Blei kardiovaskuläre Störungen in einer bisher unerkannten Größenordnung verschlimmere, bekräftigt Prof. Dr. Philip John Landrigan in seinem Kommentar den Standpunkt der kanadischen Autoren [2].

Der Kinderarzt und Epidemiologe an der Mount Sinai School of Medicine in New York, USA, plädiert dafür, die Daten als Mahnung aufzufassen. „Bisher hat man die Gefahr, die von Blei ausgeht, weitgehend ignoriert. Und das ist ja nur ein Teil der allgemeinen Vernachlässigung, die allen Formen schleichender Vergiftung und ihren Folgen für die Mortalität durch Herz- und Gefäßkrankheiten entgegengebracht wird“, moniert Landrigan.

In armen Ländern ist Blei eine größere Gefahr als Rauchen oder Übergewicht

Dabei seien die Ergebnisse von globaler Bedeutung, betont der Experte. Denn Todesfälle aus kardiovaskulärer Ursache seien weltweit von 2002 bis 2015 um 12,5% gestiegen, und zwar am steilsten in Ländern mit niedrigem bis mittleren Einkommen. Frühere Analysen hätten das dem Bevölkerungszuwachs und den Verschiebungen der Alterspyramide zugeschrieben, weiterhin der Ausbreitung verhaltensbedingter und metabolischer Risiken wie Rauchen, Hypertonie, ungesunder Ernährung, Bewegungsmangel, Übergewicht und Alkoholmissbrauch.

Diese Fehleinschätzung dauere an, obwohl Vergiftungen weltweit einen erheblichen Teil der Todesfälle ausmachten: bei nicht-übertragbaren Krankheiten schätzungsweise 16%, bei kardiovaskulären Krankheiten, ischämischen Herzkrankheiten und Schlaganfällen jeweils rund ein Viertel. Besonders ausgeprägt geschehe dies in Ländern mit niedrigem bis mittleren Einkommen, wo der Effekt alle anderen Risikofaktoren auf hintere Plätze verweise.

Blei – eine Karriere

Blei ist ein altes Gift, so Landrigan. Schon um 200 v. Chr. habe ein griechischer Arzt namens Discorides notiert, Blei lasse den Geist schwinden. Und vom Anfang des 17. Jahrhunderts datieren präzise Beschreibungen von Blei-Intoxikationen bei Malern und Töpfern.

Bis in die Moderne waren Vergiftungen hauptsächlich auf solche beruflichen Expositionen begrenzt. Ab dem späten 19. Jahrhundert jedoch verbreitete sich Blei weit über einzelne Arbeitsplätze hinaus, als Bleiminen im Westen der USA, in Australien und Sambia eröffnet und durch Produktionsprozesse beispiellose Mengen freigesetzt wurden. 

Denn zunehmend begann man, Konsumprodukte mit dem Schwermetall zu versetzen, berichtet Landrigan. So wurde es ab 1922 vor allem Kraftstoffen beigemischt, um die Motorleistung zu steigern, eine Praxis, die nach 1950 drastisch um sich griff, bis sie in den frühen 1970ern mit 100.000 Tonnen jährlich allein in den USA ihren Höhepunkt erreichte.

Als die Warnrufe vor der Verseuchung von Luft, Boden und Wasser immer lauter wurden, kam es dort 1986 zum Verbot verbleiten Benzins, woraufhin der Bleigehalt im Blut fast sofort um 80% sank. In Deutschland wurde die Anreicherung von Kraftstoffen mit Blei schrittweise erst ab 1988 untersagt, in der EU ab 2001 völlig verboten.

„Obwohl die Exposition der Bevölkerung in den vergangenen 50 Jahren drastisch abgenommen hat, liegen die Blutwerte heute 10- bis 100-mal höher als in der vorindustriellen Ära“, berichten Lanphear und seine Mitarbeiter. Die Erklärung: Das Schwermetall bleibt in der Umwelt dauerhaft erhalten. Hinzu kommt, dass die globale Bleiproduktion weiterhin ansteigt, getrieben hauptsächlich von der starken Nachfrage nach Autobatterien (Bleiakkumulatoren).

Die Toxizität des Schwermetalls für Herz und Gefäße ist experimentellen Studien zufolge damit zu erklären, dass es oxidativen Stress, Bluthochdruck, Entzündungen, Atherosklerose und Thrombosen begünstigt. Außerdem hemmt es die Blutbildung, beeinträchtigt die Nierenfunktion und schädigt die Nerven. Und seit langem ist bekannt, dass es das Risiko für Schlaganfall und chronische Nierenerkrankungen erhöht.

Seit 2006 werden einatembare Fraktionen von Blei und anorganische Bleiverbindungen von der MAK-Kommission der Deutschen Forschungsgemeinschaft als krebserzeugend eingestuft.

 

REFERENZEN:

1. Lanphear BP, et al: Lancet Public Health (online) 12. März 2018

2. Landrigan PJ: Lancet Public Health (online) 12. März 2018

 

Kommentar

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