Es hat sich nichts geändert: Kinder und Jugendliche sind heute genauso übergewichtig wie schon vor 10 Jahren. Dies zeigen die aktuellen Daten der KiGGS-Welle 2 des Robert Koch-Instituts (RKI) [1]: 15,4% der 3- bis 17-Jährigen – und damit jedes 7. Kind in Deutschland – ist zu dick, 5,9% sind gar adipös. Das sind fast 2 Millionen Kinder und Jugendliche. Kinder aus Familien in schwieriger sozialer Lage sind weiterhin ca. 3-mal so häufig übergewichtig. Experten fordern nun konkrete Schritte seitens der Politik.
Die Daten seien mit Spannung erwartet worden, sagt PD Dr. Burkhard Rodeck, Generalsekretär der Deutschen Gesellschaft für Kinder-und Jugendmedizin (DGKJ): „Mit der KiGGS-Kohortenstudie erhalten wir aussagekräftige Daten seit 2003, die z.B. Rückschlüsse darauf erlauben, ob die bisherigen Präventionsmaßnahmen greifen, ob sie die richtige Altersgruppe erreichen und ob sie nachhaltig sind“, so Rodeck gegenüber Medscape.
„Leider lässt sich – trotz insgesamt erfreulicher Tendenzen – wieder der unglückselige Zusammenhang von Sozialstatus und Gesundheit ablesen“, bedauert Rodeck: „Die KiGGS-Studie gibt uns hier konkrete Hinweise z.B. zum Themenkomplex Übergewicht: Jedes 10. Kind aus Familien mit niedrigem sozialökonomischen Status nimmt täglich 4 oder mehr zuckerhaltige Getränke zu sich. Der Konsum von Cola, Malzbier, Energydrinks ist hier entschieden zu hoch! Zudem ist unsere Ernährung viel zu zuckerhaltig.“
Politik muss sich zu konkreten Schritten durchringen
Der Stillstand bei der Verbreitung von Übergewicht und Adipositas ist für die Arbeitsgemeinschaft Adipositas im Kindes-und Jugendalter (AGA) „kein Grund zur Entwarnung“. Dass ein weiterer Anstieg im Durchschnitt vermieden werden konnte, werte man zwar zunächst als gute Nachricht, „allerdings sehen wir eine dramatische Zunahme der Prävalenzzahlen mit steigendem Alter, die bei Jugendlichen 17% für Übergewicht und 8% für Adipositas erreichen“, sagt PD Dr. Susanna Wiegand, Sprecherin der AGA.
Wie Prof. Dr. Matilde Kersting, Vorstand der AGA in einer Stellungnahme betont, „wird die Rolle der zuckergesüßten Erfrischungsgetränke für die Energiezufuhr immer noch unterschätzt“.
Allein die Menge an zuckergesüßten Getränken, die nach den Daten bereits im Alter von 11 bis 13 Jahren im Schnitt täglich konsumiert wird, erhöhe auf Dauer das Risiko, übergewichtig zu werden und das Typ-2-Diabetesrisiko steige damit um rund 20%, so Kersting. Der Konsum der 14- bis 17-Jährigen ist sogar noch höher.
Rodeck betont: „Hier müssen wir zeitnah und konsequent handeln – und zwar gemeinsam mit der Politik, die sich hier zu konkreten Schritten durchringen muss, will sie diese Kinder nicht außen vor lassen.“ Für die DGKJ kündigt Rodeck eine konzertierte Aktion an, die schon im April gezielt das Problem der zuckerhaltigen Getränke aufgreifen wird.
AGA-Sprecherin Wiegand macht zudem der deutliche Rückgang von Anbietern ambulanter Adipositas-Therapien für Kinder und Jugendliche in den letzten Jahren Sorgen: „Unsere AGA-Mitglieder berichten uns von anhaltenden Schwierigkeiten bei der Kostenübernahme durch die Krankenkassen – und zwar selbst dann, wenn die Therapien an spezialisierten Einrichtungen durchgeführt werden, die ihre hohe Behandlungskompetenz in einem aufwendigen Zertifizierungsverfahren nachgewiesen haben.
Dies erschwert die Arbeit der qualifizierten und äußerst engagierten Behandlungsteams. Hier benötigen wir unbedingt mehr Unterstützung, gerade um unsere Therapieangebote für die besonders schwer betroffenen Kinder und Jugendlichen zu erhalten und dem wachsenden Bedarf entsprechend auszubauen“, fordert die Pädiaterin.
Risikogruppen bislang weder mit Prävention, noch Therapie erreicht
„Übergewicht ist nicht die Schuld der Kinder, sondern wird vor allem durch ihre Lebensbedingungen hervorgerufen. Die Daten sind daher ein Ausdruck erschreckender sozialer Ungleichheit und mangelnder staatlicher Fürsorge für die sozial Schwächeren in unserem Land. Risikogruppen werden mit den präventiven und therapeutischen Maßnahmen bislang nicht erreicht. Die bisherigen Maßnahmen sind demnach völlig unzureichend“, kritisiert Wiegand.
„Maßnahmen zur Adipositas-Prävention, die darauf setzen, individuelles Verhalten zu ändern (Verhaltensprävention), haben bisher leider nicht zum gewünschten Erfolg geführt. Verhältnispräventive Maßnahmen, die die Umwelt gesundheitsförderlicher machen und es so dem Einzelnen erleichtern, gesundheitsbewusste Entscheidungen zu treffen und diese im Alltag umzusetzen, sind daher zwingend erforderlich“, betont PD Dr. Susann Weihrauch-Blüher, Sprecherin der AG Prävention in der AGA.
Daten von mehr als 25.000 Teilnehmern
Mit der KiGGS-Welle 2 hatte das RKI umfassende Daten zur Gesundheit der in Deutschland lebenden Kinder, Jugendlichen und jungen Erwachsenen im Zeitraum 2014 bis August 2017 erhoben. Das Studienprogramm umfasste neben Befragungen auch körperliche Untersuchungen, Tests sowie Laboruntersuchungen von Blut- und Urinproben. Die aktuelle Untersuchung wurde an 167 Orten durchgeführt, mit 10.853 Teilnehmenden aus der ersten KiGGS-Studie und einer neuen Stichprobe 0- bis 17-Jähriger (n = 15.023).
Die neuen Ergebnisse geben damit erstmals Antworten aus der Untersuchung und Befragung von Teilnehmenden, die bereits an der ersten, 2006 beendeten, KiGGS-Studie teilgenommen haben. Mit solchen Längsschnittdaten lassen sich die Ursachen von Erkrankungen, Risiko- und Schutzfaktoren untersuchen. „Die KiGGS-Daten sind wichtige Grundlage für evidenzbasierte Maßnahmen zur Verbesserung der Gesundheit der Bevölkerung“, sagt Prof. Dr. Lothar H. Wieler, Präsident des RKI.
„Vor allem die Frage, wann entscheidende Weichen für die körperliche und seelische Gesundheit gestellt werden, können wir mit den neuen Längsschnittdaten besser untersuchen", unterstreicht Wieler. So zeigten die KiGGS-Daten, dass mehr als die Hälfte der 2- bis 6-jährigen Kinder mit Übergewicht oder Adipositas auch noch als Jugendliche übergewichtig beziehungsweise adipös sind und daher eine frühe Vorbeugung notwendig sei, betont er.
Zuckerhaltige Getränke vor allem bei den 14- bis 17-Jährigen beliebt
Insgesamt ist der Konsum zuckerhaltiger Getränke in den vergangenen Jahren zurückgegangen. Wie die KiGGS-Welle 2 zeigt, trinken 16,9% der Mädchen und 22,2% der Jungen im Alter zwischen 3 und 17 ein- oder mehrmals täglich gezuckerte Erfrischungsgetränke.
Der Konsum steigt mit dem Alter und erreicht zwischen 14 und 17 Jahren die höchsten Werte: Bei den Mädchen 21,2% und bei den Jungen 32,2%. Auch hier fällt auf, dass Kinder und Jugendliche aus sozial schwachen Familien häufiger zuckerhaltige Getränke konsumieren als Gleichaltrige aus Familien mit höherem sozioökonomischem Status.
„Als positiv werten wir, dass in den letzten 11 Jahren der Anteil der Kinder, die täglich zuckerhaltige Erfrischungsgetränke konsumieren, rückläufig ist … Möglicherweise ist dieser positive Trend schon der Erfolg von Präventionsmaßnahmen, die von der AGA intensiv unterstützt werden: z.B. Wasser als Regelgetränk zu etablieren, etwa durch Wasserspender in Bildungseinrichtungen für Kinder (AGA-Präventionspreis 2017 für gesundekids®) und der Appell an Eltern, Kinder frühzeitig an das Wassertrinken zu gewöhnen. Diese Entwicklung müssen wir weiter fördern“, appelliert Kersting an die politischen Entscheider.
Bewegung, Allergien, Rauchen und psychische Probleme
KiGGS untersuchte auch das Bewegungsverhalten. Die WHO empfiehlt Heranwachsenden mindestens 60 Minuten Bewegung pro Tag. Das schaffen aber nur 22,4% der Mädchen und 29,4% der Jungen. Die Bewegungszeit nimmt mit zunehmendem Alter (bei den 14-bis 17-Jährigen) sogar noch ab. Dabei zeigt sich ein deutlicher Geschlechterunterschied: Doppelt so viele Mädchen wie Jungen im Alter von 14 bis 17 sind nur gering aktiv: 22 vs. 10,8%,
Dagegen schaffen es junge Frauen deutlich häufiger, mit dem Rauchen aufzuhören als junge Männer. KiGGS zeigt aber auch: 85% der rauchenden Jugendlichen rauchen auch später als Erwachsene. Jedes 9. Kind zwischen 0 und 6 Jahren hat eine Mutter, die während der Schwangerschaft geraucht hat. Dennoch ist auch der Anteil der rauchenden Schwangeren seit 10 Jahren um fast die Hälfte gesunken.
Auf hohem Niveau stabilisiert hat sich die Zahl der an Asthma und Heuschnupfen erkrankten Kinder: Nach wie vor leiden mehr als 1 Million Heranwachsende in Deutschland daran.
18% der befragten Kinder haben psychische Auffälligkeiten – Jungen wesentlich häufiger als Mädchen. Laut KiGGS sind vor allem Kinder zwischen 3 und 11 Jahren anfällig für psychische Probleme.
REFERENZEN:
1. Robert Koch-Institut: Journal of Health Monitoring 1/2018
Medscape Nachrichten © 2018 WebMD, LLC
Diesen Artikel so zitieren: Zahl adipöser Kinder stagniert laut KiGGS-Studie auf hohem Niveau – Experten besorgt über Konsum zuckerhaltiger Getränke - Medscape - 29. Mär 2018.
Kommentar