Über 100 Patientenmorde werden dem Pfleger Niels H. angelastet – Staatsanwalt sieht Mitschuld von Kollegen und Ärzten

Christian Beneker

Interessenkonflikte

20. März 2018

Mehr als 100 Menschen soll der ehemalige Krankenpfleger Niels H. auf den Intensivstationen zweier Krankenhäuser getötet haben, im Niedersächsischen Oldenburg und in Delmenhorst. Wegen 6 Taten ist H. inzwischen zu lebenslanger Haft verurteilt worden und sitzt im Gefängnis. Doch Niels H. soll laut Staatsanwaltschaft in den beiden Krankenhäusern 97 weitere Patientinnen und Patienten unter anderem mit Überdosen von Ajmalin, Sotalol, Lidocain, Kalium oder Amiodaron getötet haben.

Was haben H.s Kollegen von den Tötungen bemerkt? Warum haben sie ihn nicht gestoppt? Mehr noch: Haben sie unter Umständen die Tötungen bemerkt und dann nicht nur Hilfe unterlassen, sondern sich dadurch auch des Totschlags schuldig gemacht, wie das Oberlandesgericht Oldenburg jetzt meint?

Der anstehende Prozess ist offenbar eine Rarität. Es sei vielleicht das erste Mal, dass bei einem „Todesengel-Prozess“ auch gegen die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Beschuldigten prozessiert werde, sagt der Wiesbadener Strafrechtler Prof. Dr. Hendrik Schneider. „Mir ist jedenfalls kein anderer Fall bekannt“, sagt Schneider. „Normalerweise wird nur der Begehungstäter beschuldigt.“

OLG: Totschlag durch Unterlassen

Bereits im vergangenen Jahr hat die Oldenburger Staatsanwaltschaft Anklage auch gegen ärztliche und pflegerische Kollegen von Niels H. erhoben, und zwar gegen 4 Pfleger und 2 Ärzte. Aber das Landgericht Oldenburg wollte nicht gegen alle von der Staatsanwaltschaft Beschuldigten ein Hauptverfahren eröffnen, sondern nur gegen die beiden Ärzte und den Leiter der Intensivstation, einen Pfleger.

 
Mir ist kein anderer Fall bekannt. Normalerweise wird nur der Begehungstäter beschuldigt. Prof. Dr. Hendrik Schneider
 

Nun hat das Oldenburger Oberlandesgericht nach einer entsprechenden Beschwerde der Staatsanwaltschaft das Landgericht Oldenburg dazu verpflichtet. Es muss nun auch gegen die erste Stellvertreterin der Stationsleitung im Krankenhaus Delmenhorst (heute St. Josef Hospital) die Hauptverhandlung eröffnen. Der Vorwurf wiegt schwer. Sie soll die Tötungen durch Niels H. billigend in Kauf genommen haben.

Im Juristen-Deutsch: Totschlag durch Unterlassen. Damit werden vor dem Landgericht nun gegen insgesamt 4 ehemalige Mitarbeiter des Krankenhauses die Hauptverhandlungen eröffnet.

Ihrer Schutzpflicht nicht nachgekommen

Aber wessen genau könnten sich die Kollegen von Niels H. schuldig gemacht haben? Laut Oberlandesgericht hätten sie ihre Patienten schützen müssen und H. nicht gewähren lassen dürfen. Das OLG sei überzeugt, dass die stellvertretende Stationsleiterin im Krankenhaus Delmenhorst (heute St. Josef Hospital) ihrer Schutzpflicht aber nicht nachgekommen sei, hieß es. Die Beschuldigten „sollen im Anschluss an den Tod von Patienten die Begehung weiterer Tötungsdelikte durch Niels H. tatsächlich für möglich gehalten haben, jedoch nicht eingeschritten sein und somit – bis zu fünf – weitere Taten billigend in Kauf genommen haben“, teilt das OLG mit [1].

Zu den Aufgaben der stellvertretenden Stationsleitung habe es gehört, die Patienten der Intensivstation als so genannte Beschützergarantin vor Gefahren zu bewahren, erklärt die Richterin am Oberlandesgericht, Bettina von Teichmann, gegenüber Medscape. Außerdem hätte die Stellvertreterin als so genannte Bewachergarantin dafür sorgen müssen, dass Niels H. keinen Schaden anrichtet.

„Diesen Pflichten ist die Angeschuldigte nicht vollständig nachgekommen“, so von Teichmann. Zwar habe die Angeschuldigte ihren unmittelbaren Vorgesetzten über konkrete Verdachtsmomente informiert. Als er nicht reagierte, hätte sie aber an die nächste Führungsebene herantreten müssen – auch dann, wenn sie zum Beispiel dienstrechtliche Konsequenzen gefürchtet hätte.

Der Strafrechtler Schneider aus Wiesbaden bestätigt, dass Ärzte und Pfleger eine Garantenstellung haben, sobald der Patient einen Behandlungsvertrag abschließt. Deshalb sind Ärzte und Pfleger auf ihren Posten dafür verantwortlich, dass ihren Patienten nichts zustößt. „Da genügt es aber nicht, dass sich die Kollegen von Niels H. lediglich bemüht haben, eine Gefahr abzuwenden“, sagt Schneider zu Medscape. „Sondern sie müssen die Gefahr für die Anvertrauten auch tatsächlich abwenden, wenn dies möglich und zumutbar ist.“

Was hielten die Kollegen für möglich?

Laut Schneider ist Totschlag durch Unterlassung auch immer eine Sache des Vorsatzes. So müsse die Anklage nachweisen, dass die beschuldigten Ärzte und Pfleger es für möglich hielten, dass Niels H. auf ihrer Station Patienten tötet, und dennoch nicht handelten, um ihn zu stoppen.

 
Es genügt aber nicht, dass sich die Kollegen von Niels H. lediglich bemüht haben, eine Gefahr abzuwenden. Prof. Dr. Hendrik Schneider
 

„Hier wird wahrscheinlich die Verteidigung ansetzen“, vermutet Schneider. „Sie müsste nun darlegen, dass es keinen Vorsatz zu den Taten geben konnte, weil die Kollegen von H. die Morde für unmöglich gehalten haben.“

Bei der zweiten stellvertretenden Stationsleiterin erkannte das OLG im Übrigen keinen hinreichenden Tatverdacht. Sie war gegenüber Niels H. misstrauisch geworden und hatte ihre Beobachtungen ihren Vorgesetzten weitergeleitet. Die Klinikleitung habe daraufhin das weitere Vorgehen erörtert, wie das OLG mitteilt. Auch gegen einen weiteren Pfleger wurden die Anschuldigungen fallen gelassen.

Der Prozess gegen Niels H. wegen des Vorwurfs der 97-fachen Tötung von Patienten (zusätzlich zu den 6 bereits abgeurteilten Fällen) soll im Herbst stattfinden. Erst danach soll der Prozess gegen die Klinikmitarbeiter beginnen.

 

REFERENZEN:

1. Pressemitteilung des Oberlandesgerichtes Oldenburg, 9. März 2018

 

Kommentar

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