Der Flug soll 4 Stunden dauern, die Hälfte ist fast geschafft. Einem Passagier geht es plötzlich schlecht. Die Chef-Flugbegleiterin macht eine Durchsage und fragt: „Ist ein Arzt an Bord?“
Nun haben Sie als zufällig mitreisender Mediziner die Möglichkeit, ein weiteres Mal intensiv den Duty-free-Katalog zu studieren. Schließlich ist es möglicherweise gefühlt 10 Jahre her, dass Sie eine Vene punktiert haben. Mit der Dosierung von Notfallmedikamenten kennen Sie sich sowieso nicht aus. Und sie haben die Sorge, dass sie am Ende noch verklagt werden, wenn irgendetwas – verschuldet oder nicht – schiefläuft. Also einfach den Kopf senken und bloss nicht melden? Oder doch ärztliche Hilfe anbieten?
Für Letzeres sprechen 3 Dinge:
Erstens sind 90% der medizinischen Zwischenfälle eher harmlos.
Zweitens ist die Wahrscheinlichkeit, dass sich unter hunderten Passagieren (mindestens) ein Arzt befindet, sehr hoch.
Drittens gibt es in Deutschland wie in anderen Ländern, unter deren Flagge man gegebenenfalls fliegt, die strafbewerte Verpflichtung zur Hilfe.
Und was die Haftung angeht: In Flugzeugen des Lufthansa-Konzerns genießen Ärzte und andere hilfeleistende Personen vollständigen Haftpflichtversicherungsschutz. Andere Fluggesellschaften, etwa in Kanada, haben ähnliche Regelungen. „Nach Angaben der Aerospace Medical Association sind bislang keine Ärzte, die freiwillige Hilfe an Bord geleistet haben, angeklagt worden, obwohl Fluggesellschaften wegen medizinischer Notfälle durchaus verklagt worden sind“, erklären Dr. David Kodama vom St. Michael’s Hospital an der Universität Toronto und seine Kollegen im Canadian Medical Association Journal [1]. In der Aerospace Medical Association sind Mitglieder aus weltweit über 70 Ländern organisiert.
Die „Top Five“ medizinischer Zwischenfälle an Bord von Flugzeugen sind folgende:
Synkopen/Präsynkopen (37,4%) und
Atemprobleme (12,1%) machen etwa die Hälfte aller Ereignisse aus.
Hinzu kommen Übelkeit und Erbrechen (9,5%),
erstaunlich selten kardiale Symptome (7,7%) und
plötzliche Anfälle (5,8%).
Nachrichten über Todesfälle an Bord verbreiten sich zwar rasch, sind mit 0,3% aber selten.
Bei einer Häufigkeit von etwa einem medizinischen Zwischenfall pro 600 Flügen gilt es also, vorbereitet zu sein. Kodama und sein Koautoren haben für ihre kanadischen Kollegen dafür einige Tipps zusammengestellt, ähnliche Publikationen gibt es im deutschsprachigen Bereich.
Trockene Luft und hypobare Hypoxie
Zunächst sollte dem Arzt bewusst sein, dass der Kabinendruck etwa dem Luftdruck auf 2.400 m über dem Meeresspiegel entspricht und die Luftfeuchtigkeit bei lediglich 5 bis 10% liegt. Bereits das erklärt Symptome, besonders bei chronisch Kranken: Die Volumenzunahme luftgefüllter Räume im Körper wie Nasennebenhöhlen, Mittelohr oder Darm führt zu entsprechenden Befindlichkeitsstörungen – wird kurze Zeit nach einer Darmoperation geflogen, kann die frische Anastomose womöglich dieser Belastung nicht standhalten.
Die trockene Luft wirkt reizend und kann bei Asthma-Patienten einen Anfall auslösen und bei Kindern mit Atemweginfekten zur Atemnot führen. Für COPD-Patienten ist der erniedrigte Sauerstoffpartialdruck unter Umständen ein Problem.
Die Fluggesellschaften führen außer Erste-Hilfe-Utensilien und gegebenenfalls einer „Hausapotheke“ mit Mitteln für kleinere Unpässlichkeiten auch einen Notfallkoffer mit (Doctor’s Kit). Dieser ist verplombt und darf nur von approbierten Ärzten genutzt werden. Der Inhalt dieser Koffer variiert von Fluggesellschaft zu Fluggesellschaft, auch was die Dosen und Konzentrationen parenteral zu applizierender Medikamente angeht. In Fachpublikationen werden die üblicherweise mitgeführten Arzneimittel gelistet.
„Unserer Meinung nach birgt Epinephrin in der Konzentration von 1:1.000 das höchste Fehlerrisiko im Medikationskit“, so Kodama. Üblicherweise sei diese Konzentration für die intramuskuläre Anwendung bei Anaphylaxien vorgesehen. Die intravenöse Gabe von 0,3 bis 0,5 ml kann schwere Arrhythmien oder eine hypertensive Krise auslösen. Nur im Falle von Herzkreislaufstillständen ist die intravenöse Gabe gerechtfertigt.
Das Stethoskop, so erfahrene Flugmediziner, könne man gleich im Koffer liegen lassen: Die Lautstärke an Bord verhindert, dass man auch nur irgendetwas hört oder damit den Blutdruck messen kann. Letzteres sollte durch Palpation der Arteria radialis oder mit Hilfe des Pulsoximeters geschehen. Die mit Pulsoximeter gemessene Sauerstoffsättigung beträgt bei Gesunden im Flugzeug 90%. Ist bei chronisch Kranken eine Sauerstoffgabe erforderlich, kann mit den an Bord verfügbaren Sauerstoff-Flaschen mit einem fest eingestellten Fluss von 4 l/min der Sauerstoffanteil im inspiratorischen Atemgasgemisch auf etwa 60% angehoben werden.
Unterstützung durch Kollegen per Satellitentelefon
In vielen Flugzeugen werden automatische externe Defibrillatoren (AED) mitgeführt. „Eine Defibrillation ist an Bord jedoch nur selten nötig. Meist dient das Gerät zum Monitoring bei unklaren Bewusstseins- oder Rhythmusstörungen“, erklärt Dr. Andreas Gabel, Internist und Flugmediziner aus Karlsruhe. Gabel macht darauf aufmerksam, dass eine R-Zacken-getriggerte Kardioversion oder eine Defibrillation bei Kammerfrequenzen von unter 180 Schlägen/min mit den verfügbaren AED technisch nicht möglich sei.
Flugmediziner fordern dazu auf, sich Unterstützung zu holen, wenn man sich selbst mit der Situation überfordert fühlt. Dass kann weiteres Fachpersonal an Bord sein, also Ärzte, Krankenschwestern, Rettungssanitäter. Per Satellitentelefon lässt sich ebenfalls medizinischer Rat einholen: Große Luftfahrtunternehmen haben Call-Center unter Vertrag, über die man sich mit erfahrenen Notärzten beraten kann.
Entlastend wirkt auch, dass das Kabinenpersonal regelmäßig für medizinische Notfälle trainiert wird; es kennt sich mit der Ausrüstung, etwa der Bedienung des jeweiligen AED, sowie mit den räumlichen Gegebenheiten aus. Im Falle einer potenziell kritischen Situation oder einer Reanimation ist es günstig, den Patienten zu einer Stelle mit mehr Platz zu transportieren, etwa zur Bordküche. „Die meisten Patienten können aber sicher an ihrem Platz versorgt werden“, so der Erfahrung von Kodama und seinen Kollegen.
Im Falle eines potenziell lebensbedrohlichen medizinischen Notfalls und je nach Dynamik der Erkrankung muss entschieden werden, den nächsten Flugplatz anzufliegen (‚aircraft diversion‘). Die Entscheidung darüber fällt letztlich der Flugkapitän. Dieser hat dabei, außer der Sicherheit für sämtliche Passagiere, verschiedene Gesichtspunkte zu betrachten: zum Beispiel die vorhandene medizinische Infrastruktur in der potenziellen Landeregion, passende Voraussetzungen am Flugplatz bis hin zur geopolitischen Stabilität.
Immer mehr Menschen fliegen trotz hohen Alters und chronischer Krankheiten teils weite Strecken, Familien leben über verschiedene Länder und Kontinente verstreut, die Globalisierung der Wirtschaft macht Geschäftsreisen per Flugzeug erforderlich. Zugleich sind Flüge kostengünstiger als früher zu haben. Bis 2036 soll sich die Zahl der pro Jahr beförderten Passagiere auf weltweit 7,8 Milliarden verdoppeln. Kurz: die zivile Luftfahrt boomt. Damit nimmt die Wahrscheinlichkeit für medizinische Zwischenfälle an Bord zu. Ärztinnen und Ärzte müssen damit rechnen, in solchen Situationen in Anspruch genommen zu werden.
REFERENZEN:
1. Kodama D, et al: CMAJ 2018;190:E217-E222
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Diesen Artikel so zitieren: Ist ein Arzt an Bord? Keine Angst vor medizinischen Notfällen in Flugzeugen - Medscape - 14. Mär 2018.
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