Menschen, die bei ihrer Arbeit oft Dieselabgasen ausgesetzt sind, haben womöglich ein erhöhtes Risiko, an einer Amyotrophen Lateralsklerose (ALS) zu erkranken. Darauf weisen US-Forscher um Dr. Aisha Dickerson von der Harvard T.H. Chan School of Public Health in Boston in einer Pressemitteilung der American Academy of Neurology (AAN) hin [1]. Die Details der Studie, die vom National Institute of Environmental Health Sciences und von den National Institutes of Health unterstützt wurde, sollen im April auf dem jährlichen Kongress der AAN in Los Angeles bekannt gegeben werden.
Umweltfaktoren wohl zu 30 Prozent beteiligt

Prof. Dr. Albert Ludolph
Prof. Dr. Albert Ludolph von der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN) steht der Untersuchung von Dickerson und ihrem Team allerdings sehr skeptisch gegenüber. „Das sind interessante wissenschaftliche Ergebnisse“, sagt der Ärztliche Direktor der Klinik für Neurologie am Universitätsklinikum Ulm im Gespräch mit Medscape. „Allerdings müssten die Daten dringend reproduziert werden, ansonsten sind sie meiner Ansicht nach nicht belastbar.“ Mechanistisch sei ein Zusammenhang zwischen Dieselabgasen und einer Amyotrophen Lateralsklerose sehr unwahrscheinlich, betont der ALS-Experte.
Über die Ursachen der Amyotrophen Lateralsklerose ist nach wie vor wenig bekannt. „Man geht heute davon aus, dass zu 70 Prozent die Gene und zu 30 Prozent Umweltfaktoren am Entstehen der Krankheit beteiligt sind“, sagt Ludolph. Konkrete Umweltfaktoren seien schon häufig als mögliche ALS-Verursacher diskutiert worden, unter anderem Quecksilberverbindungen, Aluminium und Arsen. „All diese vermuteten Zusammenhänge gelten aber inzwischen als widerlegt“, so der Neurologe.
ALS-Risiko stieg mit der Menge der eingeatmeten Abgase
Dickerson und ihr Team prüften nun, ob und inwieweit Dieselabgase am Arbeitsplatz das Risiko für eine ALS erhöhen könnten. Es habe einige Hinweise aus früheren Studien gegeben, dass Menschen, die in ihrem Job vermehrt Dieselabgasen ausgesetzt seien, ein erhöhtes Risiko für die Krankheit besäßen, wird die Epidemiologin, die sich viel mit den Zusammenhängen zwischen Umweltfaktoren und neurologischen Erkrankungen beschäftigt, in der Pressemitteilung der AAN zitiert.
Allerdings habe keine der Studien konkret die Zusammenhänge zwischen dem Einatmen von Dieselabgasen zu verschiedenen Zeitpunkten des Lebens und der ALS untersucht, sagt Dickerson. Das absolute Risiko, eine ALS zu entwickeln, sei zwar gering – aber ihre Ergebnisse deuteten darauf hin, dass das Risiko umso höher sei, je stärker jemand Dieselabgasen ausgesetzt sei, betont die Forscherin.
Daten von mehr als 165.000 Probanden
Für ihre Studie verwendeten Dickerson und ihre Kollegen Daten des nationalen dänischen Patientenregisters. Sie identifizierten darin 1.639 Patienten mit einem Durchschnittsalter von 56 Jahren, die zwischen 1982 und 2013 eine ALS-Diagnose erhalten hatten. Verglichen wurde jeder Patient mit 100 Menschen im gleichen Alter und des gleichen Geschlechts, die nicht an ALS erkrankt waren.
Von allen Probanden ermittelten die Forscher mithilfe der dänischen Rentenkasse den beruflichen Werdegang. Die Belastung mit Dieselabgasen bis zum Beginn der Erkrankung – beziehungsweise bei den nicht an ALS erkrankten Probanden für einen identischen Zeitraum – schätzten Dickerson und ihr Team anhand von Richtwerten für die einzelnen Berufe ab, da sich die tatsächliche Belastung rückwirkend nicht ermitteln ließ.
Zudem berechneten sie auf diese Weise, welcher Menge an Dieselabgasen die erkrankten Studienteilnehmer 5 beziehungsweise 10 Jahre vor ihrer Diagnose ausgesetzt gewesen waren. Anschließend teilten die Wissenschaftler die Probanden basierend auf deren Belastung mit Dieselabgasen in 4 Gruppen ein.
Bei Frauen fand sich kein Zusammenhang
Wie die Berechnungen zeigten, hatten Männer, die bei der Arbeit mindestens 10 Jahre lang zumindest manchmal Dieselabgasen ausgesetzt gewesen waren, gegenüber Männern, die in ihrem Job diese Abgase nie einatmen mussten, ein um 20% erhöhtes Risiko, eine ALS zu entwickeln. Bei Männern aus der Gruppe mit den höchsten Abgaswerten war das Risiko schon nach 5 Jahren um 34% erhöht und nach 10 Jahren um 46%.
Noch klarer zeigte sich der Zusammenhang den Forschern zufolge bei Männern, die an ihrer Arbeitsstätte mit einer Wahrscheinlichkeit von 50% Dieselabgasen ausgesetzt gewesen waren. Bei ihnen war das Risiko sowohl nach 5 als auch nach 10 Jahren um 45% erhöht.
Bei Frauen hingegen konnte das Team um Dickerson keine entsprechenden Zusammenhänge ausmachen. Andere Faktoren, die das ALS-Risiko beeinflussen könnten, etwa der sozioökonomische Status oder die Region, in der die Probanden lebten, wurden in den Analysen berücksichtigt.
Kausaler Zusammenhang eher unwahrscheinlich
Die Belastung mit Dieselabgasen verdiene mehr Beachtung und weitere Studien, wenn es darum gehe, ein besseres Verständnis für das Entstehen der ALS zu entwickeln, sagt Dickerson. Dies sei vor allem deshalb wichtig, da auch die Allgemeinbevölkerung Dieselabgasen durch die allgemeine Luftverschmutzung aufgrund von Dieselfahrzeugen ausgesetzt sei. Ob diese Form der Belastung das ALS-Risiko ebenfalls erhöhe, sei nun eine wichtige Frage, die es als nächstes zu untersuchen gelte. Die AAN betont in ihrer Pressemitteilung allerdings, dass die Studie nur einen Zusammenhang zwischen Dieselabgasen und ALS aufzeige. Sie sei nicht so zu interpretieren, dass Dieselabgase eine ALS verursachen könnten.
Der deutsche Experte Ludolph hält einen solch kausalen Zusammenhang auch aufgrund epidemiologischer Daten ohnehin für extrem unwahrscheinlich. „Wenn man die Entwicklungen der zurückliegenden 50 Jahre beurteilt, ist sogar ein gegensätzlicher Trend zu beobachten“, sagt der Neurologe.
Mit der Industrialisierung habe sich der Erkrankungsbeginn der ALS in China und Indien in die höheren Altersränge verschoben und in noch weniger entwickelten Teilen der Welt wie auf den Marianen-Inseln oder Neuguinea sei die Erkrankung zuletzt deutlich seltener aufgetreten als früher. „Diese Tendenzen stehen im Gegensatz zu der jetzt behaupteten Assoziation“, sagt Ludolph – und daher müsse diese überprüft werden.
REFERENZEN:
1. American Academy of Neurology: Pressemitteilung, 27. Februar 2018
Medscape Nachrichten © 2018 WebMD, LLC
Diesen Artikel so zitieren: Dieselabgase auch Gift fürs Nervensystem? Studie findet Zusammenhang zwischen Exposition im Job und dem Risiko für ALS - Medscape - 1. Mär 2018.
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