Schneller auf die „Couch“: Ein Modellprojekt zeigt, wie die Versorgung psychisch Erkrankter besser funktionieren kann

Julia Rommelfanger

Interessenkonflikte

28. Februar 2018

Düsseldorf – Patienten mit psychischen oder neurologischen Erkrankungen müssen hierzulande häufig sehr lange auf professionelle Hilfe durch einen Arzt oder Psychotherapeuten warten. Das soll sich künftig ändern. Dafür hat die Kassenärztliche Vereinigung (KV) Nordrhein ein Projekt gestartet, das die gestufte und koordinierte Versorgung von Menschen mit depressiven Störungen, Psychosen, Demenz und anderen schweren psychischen und neurologischen Erkrankungen die kommenden 3 Jahre testet.

Kernelement des „Projekts zur neurologisch-psychiatrischen und psychotherapeutischen Versorgung“ (NPPV) ist die enge und berufsübergreifende Vernetzung der am Projekt beteiligten Behandler mit einem Bezugsarzt oder Psychotherapeuten. Er steuert und organisiert die komplette Therapie. Wesentliches Ziel: Die Akuttherapie beschleunigen und Chronifizierungen verhindern.

Bis zu 800 Praxen sollen teilnehmen

„Seit der Einführung in den nordrheinischen Praxen im Dezember 2017 wurden etwa 300 Patienten eingeschrieben, Tendenz stetig steigend“, berichtet der Vorstandsvorsitzenden der KV Nordrhein, Dr. Frank Bergmann, der als niedergelassener Neurologe und Psychiater in Aachen tätig ist.

Depression stellt mit 136 Patienten die mit Abstand häufigste Indikation der bislang registrierten Teilnehmer dar. Danach folgen Schizophrenie, Multiple Sklerose (MS) und Morbus Parkinson. Im Fokus von NPPV stehen Patienten mit hohem, insbesondere auch koordinativem Versorgungsbedarf, die etwa an Psychosen oder Morbus Parkinson leiden.

Ziel sei es, dass 400 bis 800 Praxen und 14.000 Patienten teilnehmen, sagt René Engelmann, Projektleiter NPPV beim Projektpartner IPV Networks in Hamburg, einer Managementgesellschaft, die die Vernetzung der Behandlung koordiniert.

Interessierte Neurologen, Psychiater und Psychotherapeuten, die sich an dem Projekt beteiligen wollen, schließen einen Netzwerk-Partnervertrag mit dem Konsortialpartner IVP Networks ab und können Patienten ab 18 Jahren in 7 Indikationsgruppen in den NPPV-Vertrag einschreiben: Dazu zählen: Depression, Schizophrenie, schizophrene und wahnhafte Störungen/Bipolare Störungen, Demenz, Trauma-Folgestörungen, Multiple Sklerose, Morbus Parkinson und Schlaganfall.

Rund 90 Behandler, 64% davon Fachärzte und 36% Psychotherapeuten, haben bisher einen NPPV-Vertrag abgeschlossen, so auch Prof. Dr. Gereon Nelles, Neurologe in der Gemeinschaftspraxis NeuroMed Campus in Köln. Als Mitglied der Steuerungsgruppe NPPV in Nordrhein hat er das Projekt mit entwickelt.

Mehr Akutsprechstunden und multidisziplinäre Versorgung

„Eine gestufte Therapie braucht Ressourcen und Angebote – beides war bislang häufig Mangelware“, erklärt er im Gespräch mit Medscape. Besonderes Manko waren eng getaktete Sprechstunden in der neurologischen und psychotherapeutischen Versorgung und die unzureichende Einbringung von Schulungsleistungen für die Patienten. Zudem war das Angebot von Gruppentherapien für Patienten mit ZNS-Erkrankungen zu gering.

„Spezielle Symptome einer MS wie Fatigue konnten schlecht oder gar nicht versorgt und Coping-Strategien selten vermittelt werden, weil es keine Therapieangebote gab“, erklärt Nelles. Das lag zum einen an der geringen Zahl der Ärzte mit diesem Angebot, zum anderen an der geringen Vergütung für diese Leistungen.

„Diese Versorgungslücke soll NPPV schließen und so auch die Einweisung der Patienten in eine Klinik vermeiden“, hofft Nelles. Durch das Netzwerk-Management sei eine bessere Koordination der Therapieangebote möglich. „Gibt es etwa in Köln ein Gruppentherapie-Angebot für MS-Patienten, wird das über die Netzwerk-Plattform kommuniziert und Ärzte können die Patienten, die in NPPV eingeschrieben sind, dorthin überweisen.“

Im Rahmen des Projekts sollen vor allem mehr Akut-Sprechstunden zur Verfügung gestellt werden, damit Patienten mit akuten neurologischen und psychologischen Erkrankungen, etwa Depression, schnell geholfen werden kann – „ein bisheriges Manko“, erklärt Neurologe Nelles. Bislang betrug die Wartezeit auf einen Termin 2 bis 3 Monate. „Die Patienten im Programm bekommen innerhalb von 2 Wochen einen Termin“, verspricht der Neurologe.

Zudem soll die multidisziplinäre Versorgung, die die Netzwerk-Struktur des Projekts möglich macht, Chroniker frühzeitig auffangen, beziehungsweise Chronifizierungen einer Krankheit von vorne herein verhindern. „Wir haben jetzt die Möglichkeit, rasch zusätzliche Fachdisziplinen aufzuschalten und viele unterschiedliche Therapieangebote zu machen.“

Mehr honorierte Zeit für Patienten

Weitere Versprechen an die Patienten: mehr Zeit und Zuwendung. „In unserem System wird häufig nur technische Medizin belohnt, aber nicht Zuwendung. Bei NPPV werden deshalb Leistungen und Ressourcen dafür vorgesehen”, sagt Neurologe Dr. Uwe Meier aus Grevenbroich, 1. Vorsitzender des Berufsverbands Deutscher Neurologen (BDN) und Präsident des Spitzenverbands ZNS, die beide das Projekt unterstützen.

 
In unserem System wird häufig nur technische Medizin belohnt, aber nicht Zuwendung. Bei NPPV werden deshalb Leistungen und Ressourcen dafür vorgesehen. Dr. Uwe Meier
 

„Der Bezugsarzt kann seinen Mehraufwand mit 25 Euro Add-on je zusätzlichen Termin im Quartal abrechnen, wenn er den Patienten mehrmals im Quartal sieht“, erklärt Engelmann. „Damit kann er die Zuwendung und Zeit, die Patienten mit akut erhöhtem Koordinations- und Behandlungsbedarf brauchen, zur Verfügung stellen und ein Honorar dafür erhalten.

Zunächst durchlaufen die Patienten ein so genanntes Eingangs-Assessment. „Dabei handelt es sich um eine erweiterte Anamnese, mit psychosozialer und familiärer Komponente, um ein umfassendes Bild über den Patienten zu erhalten und ihm bestmögliche Hilfe anbieten zu können“, erklärt Nelles. Auch hierfür müsse sich der Arzt natürlich Zeit nehmen, was nun in dem Programm auch entsprechend vergütet werde.

„Im Eingangs-Assessment schätzen die Behandler den Patienten IT-gestützt entlang definierter Behandlungspfade ein”, präzisiert Engelmann. Diese Behandlungspfade, erklärt er, wurden von Vertretern der Berufsgruppen auf Basis aktueller Leitlinien definiert. Neben diagnostischen Daten werden im Rahmen des Eingangs-Assessments vom Bezugsarzt oder -Therapeuten unter anderem auch das Funktionsniveau und der Teilhabestatus erfragt.

Vom Pilotprojekt zur Regelversorgung?

Größtes Manko bei NPPV aktuell: Bislang können nur Versicherte der AOK Rheinland/Hamburg und der BKK Nordwest das neue Angebot nutzen. „Jetzt, wo das Projekt Fahrt aufnimmt, hoffen wir auch auf Kassenseite auf weitere Teilnehmer“, sagt Bergmann. „Dass wir aktuell nur die Patienten, die bei diesen beiden Kassen versichert sind, einschreiben können, ist frustrierend“, bemerkt Nelles. „Nähmen alle Kassen teil, könnten wir in der Praxis viel mehr Freiräume für das Projekt schaffen und die Zahl der Patienten, die wir in das Projekt einschließen, würde sprunghaft steigen.“

 
Jetzt, wo das Projekt Fahrt aufnimmt, hoffen wir auch auf Kassenseite auf weitere Teilnehmer. Dr. Frank Bergmann
 

Bis Ende 2020 wird das NPPV-Projekt vom Innovationsfonds des Gemeinsamen Bundesausschusses (GBA) mit fast 13 Millionen Euro gefördert.Wie bei allen Projekten des Innovationsfonds des G-BA findet auch für NPPV parallel zur Projektumsetzung eine umfangreiche Evaluation statt. Um den Projekterfolg bis zum Abschluss am 31. März 2021 zu beziffern, werde zu den eingeschlossenen Patienten (Interventionsgruppe) eine vergleichbare Kontrollgruppe gebildet, erklärt Engelmann gegenüber Medscape. Patienten beantworten Fragen, etwa zur gesundheitsbezogenen Lebensqualität.

Als Teilziel des Projekts nannte Dr. Karlheinz Großgarten, Geschäftsführer der KV Nordrhein und Projektleiter von NPPV, auch Effizienzgewinne, das heißt geringere direkte Krankheitskosten, unter anderem, weil die Anzahl der Therapieabbrüche und Krankenhaus-Aufenthalte verringert werden soll. Auch hierfür wird der Vergleich der Interventions- mit der Kontrollgruppe Daten liefern. Beide Patientengruppen werden hinsichtlich Ihres Ressourcenverbrauchs evaluiert und verglichen, erklärt Engelmann. Auch die Ärzte werden befragt, beispielsweise zu ihrer Zufriedenheit und zum tatsächlichen Aufbau der geplanten Strukturen.

 
Wir haben großes Interesse daran, das Modell über 2021 hinaus fortzuführen – idealerweise in der Regelversorgung. Dr. Frank Bergmann
 

Bei positivem Ergebnis der Evaluation stellt der G-BA eine Überführung in die Regelversorgung in Aussicht. Das entspricht auch den Wünschen Bergmanns. „Wir haben großes Interesse daran, das Modell über 2021 hinaus fortzuführen – idealerweise in der Regelversorgung“, sagt er.

 

Kommentar

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