Seit 10 Jahren machen Wissenschaftler in aller Welt am letzten Februar-Tag mit dem Internationalen Tag der Seltenen Erkrankungen („Rare Disease Day“) auf die rund 6.000 „Orphan Diseases“ aufmerksam, unter denen insgesamt rund 350 Millionen Menschen leiden. Seltene Erkrankungen treten jeweils bei weniger als 5 von 10.000 Menschen auf. 80% von ihnen sind genetischen Ursprungs. Erforscht und behandelt werden sie etwa im Freiburger Zentrum für Seltene Erkrankungen (FZSE) am Universitätsklinikum Freiburg [1].
Seltene Immunschwäche erklärt Schlaganfälle in jungen Jahren

Prof. Dr. Bodo Grimbacher
Eine seltene Erkrankung, die auf einem Gendefekt basiert, hat Prof. Dr. Bodo Grimbacher zum Beispiel bei einer 21-jährigen Frau diagnostiziert. Er ist Wissenschaftlicher Direktor des Centrums für Chronische Immundefizienz (CCI) am Universitätsklinikum Freiburg. Die junge Patientin hatte schon 5 Schlaganfälle überlebt und wies zudem hohe Entzündungswerte im Blut auf. „Die Werte waren seit der Kindheit bekannt, wurden jedoch nicht weiter beachtet“, erklärt Grimbacher, der seit vielen Jahren Krankheiten erforscht, die zu schweren Immunstörungen führen.
Ein Gentest erbrachte bei der Patientin die Diagnose ADA2-Defizienz, eine Mutation des CECR1-Gens. Es kodiert das Enzym Adenosin-Desaminase 2. Erstmals entdeckt wurde die Krankheit 2014 und in einer Publikation im New England Journal of Medicine beschrieben. Die Krankheit, die vermehrt unter Juden in Georgien auftritt, findet man aber auch bei Familien in Deutschland.
„Bei der jungen Frau mussten wir die verschiedenen Informationen zusammenführen, auswerten und mögliche Diagnosen abgleichen“, erklärt Grimbacher. „Das war alles andere als einfach“, da weltweit nur etwa 100 Menschen diesen Erbgutfehler aufweisen.
Die ADA2-Defizienz führt zu Entzündungen der Blutgefäße, auch im Gehirn. „Das wiederum verursachte die Schlaganfälle der jungen Patientin, die wir untersucht hatten“, erklärt Grimbacher im Gespräch mit Medscape. Das schwierigste an der Erkrankung sei die Diagnose. Das heißt, dass man diese seltene Immunstörung als Ursache eines Schlaganfalls überhaupt in Betracht zieht.
„Bei einer Kombination von erhöhten Entzündungswerten und mehreren Schlaganfällen sollten Ärzte bei jungen Patienten an diese seltene Immunerkrankung als Auslöser der Schlaganfälle denken“, betont Grimbacher. Da sein Zentrum über Erfahrung mit ADA2-Defizienz verfüge, sei es für Ärzte ratsam, bei Verdachtsfällen dort Unterstützung zu suchen. Dann könnten weitere Untersuchungen, etwa ein Gentest, durchgeführt werden.
Um Immundefekte besser erforschen und behandeln zu können, wurde das CCI 2008 gegründet. Es wird vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) gefördert.
ADA2-Defizienz: Knochenmarkspende oder Anti-TNF-alpha-Therapie hilft
Helfen kann Patienten mit ADA2-Defizienz entweder eine Knochenmarkspende oder – wie im konkreten Fall in Freiburg – eine Anti-TNF-alpha-Therapie, die auch bei Autoimmunerkrankungen wie rheumatoider Arthritis, Psoriasis oder Morbus Crohn angewendet wird. Seit Therapiebeginn mit dem Entzündungshemmer habe die junge Patientin keinen Schlaganfall mehr erlitten, berichtet Grimbacher. Neurologisch habe sich die Patientin erholt und keine bleibenden Schäden davongetragen.
„Erhalten diese Patienten einen Blutverdünner, etwa Phenprocoumon, erleiden sie erst recht Schlaganfälle“, warnt er. Manche Patienten werden zusätzlich mit Interleukin-6-Blockern behandelt. Die Einnahme der Medikamente, die die Entzündungskaskade unterbrechen, führe jedoch zu Nebenwirkungen, die nicht zu vernachlässigen seien. Vor allem drohen bakterielle oder virale Infekte der oberen Atemwege und aufgrund der unterdrückten Immunabwehr auch schwere Infektionen wie Sepsis oder Tuberkulose.
„Ist der Patient – wie die Frau, die wir behandeln – mit der Anti-TNF-alpha-Therapie gut eingestellt, treten wenige Nebenwirkungen auf und erreicht man eine gute Lebensqualität, kann man bei der medikamentösen Therapie bleiben“, erklärt Grimbacher. Bei einem kleinen Kind etwa sei jedoch eine Knochenmarktransplantation erfolgsversprechender.
Der jungen Frau, die der Experte im Uniklinikum Freiburg bis heute betreut, gehe es zwar aufgrund der medizinischen Therapie körperlich gut. Sie sei jedoch psychisch labil, wahrscheinlich aufgrund der besonderen Belastung, die die seltene Immunerkrankung mit sich bringt. Gegen die depressiv-euphorischen Stimmungsschwankungen erhalte die Patientin Antidepressiva. „Zudem geben wir bei Infekten schneller als bei anderen Patienten ein Antibiotikum“, sagt Grimbacher.
Stoffwechselstörung verursacht fauligen Körpergeruch

Prof. Dr. Karl Otfried Schwab
Auch Grimbachers Kollege Prof. Dr. Karl Otfried Schwab, Leiter der Pädiatrischen Endokrinologie und Diabetologie am Uniklinikum Freiburg, erforscht eine seltene Erkrankung und deren Behandlung. Bei einem Geschwisterpaar, das unter einem faulig-schwefeligen Körpergeruch leidet, hat er die Stoffwechselerkrankung extraorale Halitosis diagnostiziert. „Stoffwechselstörungen machen sich häufig durch einen ungewöhnlichen Körpergeruch bemerkbar. Abbaustoffe sammeln sich im Körper an und gelangen dann über Urin, Schweiß und Atemluft nach außen.“ Darum sollten solche Personen einen Stoffwechselexperten aufsuchen, rät Schwab.
Bei dem Geschwisterpaar ergab nach vielen Untersuchungen schließlich eine Genanalyse Klarheit: Eine Mutation in dem Gen, das das Protein und Enzym Selen-bindendes Protein 1 (SELENBP1) kodiert, führt dazu, dass Methanthiol im Körper der Kinder nicht mehr abgebaut werden kann. Stattdessen wird es über Körpersekrete ausgeschieden.
Weltweit waren die Geschwister die ersten Patienten, bei denen die Krankheit festgestellt und deren Ursache aufgedeckt wurde. Messbar seien bei den Patienten die organischen Schwefelverbindungen Dimethylsulfit (DMS), Dimethylsulfoxid (DMSO) und Dimethylsulfon (DMSO2). Schwefelwasserstoff (H2S) und Methanethiol seien dagegen nicht messbar, erklärt Schwab.
Mit welchen Einschränkungen die Patienten ansonsten rechnen müssen, sei noch unklar. Ein weiterer deutscher Patient zeige eine geistige Retardierung. Ein Zusammenhang der Behinderung mit der Stoffwechselerkrankung sei jedoch nicht gesichert. „Es kann schon sein, dass die große Menge an Abbauprodukten in irgendeiner Weise toxisch ist – das können wir aber momentan nicht genauer einschätzen“, bemerkt Schwab. Für weitere Untersuchung möglicher Komplikationen der extraoralen Halitosis seien weitere Patienten nötig.
Extraorale Halitosis: Ernährungsumstellung lindert Symptome
Schwab schätzt, dass in Deutschland etwa 910 und weltweit mehr als 80.000 Menschen unter der unangenehmen Störung leiden – die meisten von ihnen unwissentlich, auch, da der Körpergeruch nicht bei allen Patienten gleich stark ausgeprägt sei. „Es wäre toll, wenn wir weitere Patienten mit extraoraler Halitosis finden könnten“, bemerkt er. Daher bittet er Mediziner, Verdachtsfälle an die Uniklinik Freiburg zu überweisen. „Wenn wir auch noch keinen medikamentösen Ansatz haben, können wir zumindest eine Diätberatung anbieten“, bemerkt er gegenüber Medscape. Eine Ernährungsumstellung lindere auch die Symptome der Freiburger Geschwister.
Als Quelle für die ausgeschiedenen Stoffwechselprodukte gelten Bier, Portwein, Reis und gekochtes Gemüse. „Erster Schritt wäre, die aufgeführten Dinge wegzulassen. Der zweite Schritt ist komplizierter, nämlich Methionin in der Nahrung zu reduzieren.“ Reich an der schwefelhaltigen Aminosäure sind etwa Rind- und Schweinefleisch, viele Fischarten wie Forelle oder Lachs, Edamer-Käse und Soja-Bohnen.
„Der dritte Schritt, die enterale Produktion der Vorläufersubstanzen im Darm zu reduzieren, ist ein medikamentöser Ansatz”, erklärt Schwab. Den gebe es jedoch bislang nicht, da die Krankheit gerade erst beschrieben wurde. „Das wäre aber mein Ziel“, ergänzt er.
Diagnose und Therapie von seltenen Erkrankungen oft problematisch – Netzwerke helfen
Damit solche Stoffwechselstörungen, Immundefekte und andere seltene Erkrankungen besser bekannt werden und gründlicher erforscht werden können, hat die Europäischen Allianz der Patientenvereinigungen rund um seltene Erkrankungen, EURORDIS, 2008 den internationalen Tag der Seltenen Erkrankungen ins Leben gerufen.
Unter seltenen Erkrankungen leiden rund 4 Millionen Deutsche. In rund 50% der Fälle einer seltenen Erkrankung sind Kinder betroffen; viele sterben noch im ersten Lebensjahr an der Erkrankung. Seltene Erkrankungen werden häufig erst spät diagnostiziert, auch aufgrund oft fehlender spezifischer Symptome. Sie verlaufen häufig chronisch.
„Seltene Erkrankungen sind eine Herausforderung für die Medizin und für die Forschung“, sagt Dr. Roman Stampfli, Geschäftsführer der Amgen GmbH. „Die geringe Anzahl an Fällen und die individuellen Unterschiede von Patient zu Patient erschweren es häufig, die Krankheit zu entschlüsseln.“
In den letzten 10 Jahren sei viel erreicht worden, sagt Prof. Dr. Leena Bruckner-Truderman, Sprecherin des FZSE und Ärztliche Direktorin der Klinik für Dermatologie und Venerologie am Universitätsklinikum Freiburg. Patienten mit seltenen Erkrankungen „finden heute viel schneller kompetente Hilfe. Das ist vor allem dem Aufbau von spezialisierten Zentren und Experten-Netzwerken sowie einer verstärkten Zusammenarbeit mit den Haus- und Fachärzten geschuldet.” Durch die Vernetzung sei auch die Zahl der Patienten gestiegen, denen durch eine wirksame Therapie geholfen werden könne.
REFERENZEN:
1. Universitätsklinikum Freiburg: Pressemitteilung, 20. Februar 2018
Medscape Nachrichten © 2018 WebMD, LLC
Diesen Artikel so zitieren: 4 Millionen Deutsche betroffen: Der Tag der Seltenen Erkrankungen soll Ärzte für ihr schwieriges Schicksal sensibilisieren - Medscape - 28. Feb 2018.
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