Der Einsatz von Statinen zur Primärprävention erhitzt schon lange die Gemüter. Aber dieses Mal geht die Diskussion in eine andere Richtung. Nicht die unnützen oder schädlichen Verordnungen sind der Streitpunkt. Stattdessen lautet der Vorwurf, dass zu wenig Statine verschrieben werden und dadurch Patienten womöglich früher sterben könnten, weil mehr Menschen kardiovaskuläre Ereignisse in Kauf nehmen müssen.
Eine aktuelle Studie, die erstmals die verschiedenen internationalen Empfehlungen zur Primärprävention mit Statinen in einer sehr großen Kohorte verglichen hat, legt nahe, dass Patienten, deren Ärzte sich bei der Primärprävention an den Empfehlungen aus dem angelsächsischen Raum (ACC/AHA, NICE) orientieren, besser fahren als jene, die primärpräventiv nach den europäischen Empfehlungen (ESC/EAS) behandelt werden (Medscape berichtete). Ziel des Vergleiches war, herauszufinden, wie sich kardiovaskuläre Ereignisse in einer solchen Population am wirksamsten verhindern lassen.

Prof. Dr. Francois Schiele
Allerdings sind die Schlussfolgerungen der dänischen Autoren dieser aktuellen Studie, ebenfalls umstritten. Prof. Dr. Francois Schiele, Klinik für Kardiologie und vaskuläre Erkrankungen am Krankenhaus Jean-Minjoz, Universitätsklinik Besancon, Frankreich, hat im Namen der Europäischen Gesellschaft für Kardiologie (ESC) und auf Anfrage von Medscape zu der aktuellen Veröffentlichung Stellung genommen.
Die dänische Studie in Kürze:
Population: Eine Kohorte von Erwachsenen aus der allgemeinen dänischen Bevölkerung (40 bis 75 Jahre alt) ohne kardiovaskuläre Vorerkrankungen und ohne Vormedikation mit Statinen (n=45.750, mittleres Alter 56 Jahre, Frauenanteil 57%).
Die wichtigsten Ergebnisse:
Bei Anwendung der in den jeweiligen Empfehlungen unterschiedlichen Scores zur Bestimmung des kardiovaskulären Risikos und der verschiedenen Grenzwerte für Cholesterin kommen die Autoren zu der Einschätzung, dass nach den kanadischen Empfehlungen 44% der Kohorte für eine Primärprävention in Frage kommen. Nach den US-amerikanischen Empfehlungen (ACC/AHA) wären es 42%, nach den NICE-Empfehlungen 40%, nach den Empfehlungen der USPSTF (United States Preventive Services Task Force) 31% und nach den europäischen ESC/EAS-Kriterien 15%.
Berechnet anhand der kardiovaskulären Ereignisse, die in der nationalen dänischen Datenbank erfasst sind, würden durch eine 10-jährige primärpräventive Behandlung mit Statinen nach den Empfehlungen der CCS und ACC/AHA 34% der kardiovaskulären Ereignisse verhindert, nach NICE-Kriterien 32%, nach USPSTF-Kriterien 27% und nach den europäischen Empfehlungen der ESC/EAS nur rund 13%.
3 Fragen an die ESC
Medscape: Der Anteil der erwachsenen Patienten, die für eine Primärprävention mit Statinen in Frage kommen, scheint grundverschieden zu sein, je nachdem, ob man die Empfehlungen der ACC/AHA, des NICE oder der ESC/EAS zugrunde legt. Überrascht Sie das?
Prof. Dr. Schiele: Es in der Tat interessant, wie diese Studie basierend auf der dänischen Kohorte zeigt, dass der Anteil der Patienten, für die eine Therapie mit Statinen empfohlen wird, derart differiert – je nachdem, welche Empfehlung man anwendet.
Bei 4 der 5 untersuchten Leitlinien-Empfehlungen würde der Anteil an Statin-Verordnungen in der untersuchten Kohorte in Dänemark zwischen 40 und 45% liegen, während nach den europäischen Empfehlungen nur 15% Kandidaten für die Primärprävention mit Statinen wären.
Diese Zahlen sind hochinteressant, zeigen sie doch beeindruckenden Unterschiede zwischen den Empfehlungen hinsichtlich der Verordnung von Statinen auf: Es ist nunmal nicht dasselbe, ob man 15% oder 40 bis 45% der Bevölkerung im Alter zwischen 40 und 75 Jahren behandelt.
Die Erklärung hierfür findet sich in der Einschätzung des Risikos (die ESC nutzt hierzu die SCORE-Auswertung, die auf europäischen Populationen basiert und den Alterseinfluss nach 60 Jahren eingrenzt) und der festgelegten Grenzwerte für das Risiko und das LDL-Cholesterin, ab dem ein Statin empfohlen wird.
Vom Konzept her legt die ESC im Vergleich zu anderen Empfehlungen den Schwerpunkt auf die Veränderung des Lebensstils, etwa Maßnahmen zum Abnehmen, bevor sie die Verordnung von Statinen nahe legt. Mit einem Satz: Nach Ansicht der ESC gehört zur Prävention kardiovaskulärer Ereignisse mehr als die Einnahme von Statinen.
Medscape: Der Prozentsatz kardiovaskulärer Ereignisse, der durch die Gabe von Statinen über 10 Jahre im Rahmen der Primärprävention verhindert wird, läge, folgt man den Empfehlungen der ACC/AHA, bei 34%, folgt (NICE bei 32%). Im Gegensatz dazu aber nur bei 13%, wenn man die Leitlinien der ESC/EAS zu Rate zieht. Was halten Sie von dieser Hochrechnung?
Prof. Dr. Schiele: Sie tun gut daran, hier den Konjunktiv zu verwenden, denn diese Zahlen sind diskussionswürdig. Es handelt sich nämlich nicht um einen Wert beobachteter, kardiovaskulärer Ereignisse, sondern um einen theoretischen Effekt, der auf 3 Annahmen basiert:
1. Ein Statin mit mäßiger Wirksamkeit reduziert das LDL-Cholesterin um rund 30%, eins mit starker Wirksamkeit um etwa 50%;
2. Jede Senkung des LDL-Cholesterins um 38 mg/dl entspricht einer Reduktion kardiovaskulärer Ereignisse um rund 20% pro Jahr und
3. Alle Patienten nahmen auch tatsächlich die Therapie über die gesamten 10 Jahre ein.
Selbst wenn die ersten beiden Hypothesen richtig sind, so ist die 3. zu diskutieren. Denn die Compliance ändert sich in Abhängigkeit des Risikoprofils der Patienten: Solche mit niedrigem Risiko – die nach den Empfehlungen des NICE oder der ACC/AHA behandelt werden – sind sicherlich weniger motiviert und daher weniger compliant als Hochrisikopatienten.
Zum Beispiel müsste ein 70 Jahre alter Patient ohne jeglichen Risikofaktor und mit einem normwertigen LDL-Cholesterin nach den Empfehlungen des NICE oder der ACC/AHA ein Statin nehmen. Doch ist es sehr wahrscheinlich, dass er seine Behandlung bei Schmerzen, Muskelbeschwerden oder Zweifel bezüglich der Wirksamkeit oder Sicherheit der Statine sehr viel eher abbrechen wird als z.B. jemand, der bereits einen Infarkt überstanden hat. Wenn man die Compliance in Bezug auf das Risikoprofil nicht in die Überlegungen mit einzubezieht, entsteht unserer Ansicht nach hier eine wichtige Fehlerquelle.
Und selbst wenn der Patient compliant ist, haben Hausarzt und Kostenträger auch ihre Aspekte beizusteuern: Wenn es stimmt, dass die Senkung des LDL-Cholesterins das Risiko für ein kardiovaskuläres Ereignis unabhängig vom Risiko des Einzelnen reduziert, so ist doch die Anzahl verhinderter Ereignisse bei den Niedrigrisiko-Patienten numerisch gesehen gering.
Anders herum ist die Zahl der Patienten mit niedrigem Risiko, die behandelt werden müssen, um ein Ereignis zu verhindern (NNT), beträchtlich. In einer Population mit mäßigem Risiko scheint es eindeutig vernünftiger zu sein, den Akzent auf allgemeine und diätetische Maßnahmen zu legen.
Medscape: Wird diese Studie bei der Erstellung der nächsten Empfehlungen der ESC hinsichtlich der Primärprävention mit Statinen trotzdem Berücksichtigung finden?
Prof. Dr. Schiele: Die Empfehlungen der ESC zur Primärprävention datieren aus dem Jahr 2016. Ihre Aktualisierung ist vorgesehen. Ob diese Studie berücksichtigt werden wird? Das ist möglich, aber nicht sicher. Denn sie liefert nicht wirklich neue klinische Beobachtungsdaten.
Auch wenn diese Studie sozusagen mit dem Finger auf einen wichtigen Unterschied zwischen den Empfehlungen der ESC und denen anderer Gesellschaften zeigt, sagt sie doch nicht aus, welches die bessere Strategie ist.
Für Patienten mit mäßigem Risiko gilt, dass die Einnahme eines Statins zwar ihren Platz hat – aber dies nach Berücksichtigung anderer Maßnahmen. Außerdem scheint mir eine Verordnungsrate von Statinen von 15% der Erwachsenenpopulation über 40 ohne kardiovaskuläre Vorerkrankungen sowohl medizinisch vernünftig als auch „kosteneffektiv“ zu sein.
Medscape © 2018 WebMD, LLC
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Diesen Artikel so zitieren: Statin-Streit: Braucht jeder 2. oder nur jeder 7. über 40 Jahre Primärprävention? Europäer verteidigen ihre Leitlinien - Medscape - 21. Feb 2018.
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