AdAM – digitale Unterstützung für die Arzneimitteltherapie älterer multimorbider Patienten in der Praxis

Dr. Klaus Fleck

Interessenkonflikte

15. Februar 2018

Berlin – Der demographische Wandel ist mit großen Chancen für eine alternde Gesellschaft, doch gleichzeitig mit ebensolchen Herausforderungen für die ärztliche Versorgung verbunden. Dabei wird eine deutlich intensivere altersmedizinische Forschung gebraucht, um die wachsende Gruppe geriatrischer Patienten besser und evidenzbasiert behandeln zu können, betonten Vertreter der Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin (DGIM) auf einer Pressekonferenz in Berlin [1].

Kritik an bestehenden Leitlinien

Prof. Dr. Cornel Sieber

„Unsere Gesellschaft sollte glücklich sein, dass die meisten von uns hochbetagt werden können und den demographischen Wandel vor allem auch als Chance betrachten“, sagte der DGIM-Vorsitzende Prof. Dr. Cornel Sieber, Chefarzt der Klinik für Allgemeine Innere Medizin und Geriatrie am Krankenhaus Barmherzige Brüder Regensburg und Direktor des Instituts für Biomedizin des Alterns. Dank besserer sozioökonomischer Bedingungen und biomedizinischem Fortschritt (mit wirksameren oder schonenderen Therapieverfahren) nehme die durchschnittliche Lebenserwartung in unseren Breiten jedes Jahr bei Frauen um 3 Monate, bei Männern um 2,5 Monate zu.

„Die Menschen werden aber nicht nur älter, sondern viele von ihnen können trotz gesundheitlicher Einschränkungen selbst bis ins hohe Alter hinein selbstständig bleiben.“ Die Herausforderung für die Medizin sei dabei, auch multimorbiden Patienten Funktionalität im Alltag und damit Lebensqualität zu erhalten.

 
Die meisten Medikamente, die wir bei Hochbetagten einsetzen, wurden in dieser Bevölkerungsgruppe überhaupt nicht in klinischen Studien getestet. Prof. Dr. Cornel Sieber
 

In den medizinischen Leitlinien fänden die spezifischen Bedürfnisse älterer Menschen allerdings nur unzureichend Berücksichtigung, kritisierte Sieber: „Die meisten Medikamente, die wir bei Hochbetagten einsetzen, wurden in dieser Bevölkerungsgruppe überhaupt nicht in klinischen Studien getestet.“ Vielmehr würden diese Studien meist an Patienten mittleren Alters durchgeführt, die genau an der Krankheit leiden, gegen die sich das Mittel richtet und sich damit an einer Mono-Pathologie orientieren.

Altersabhängige Behandlungsziele

„Alte Patienten sind jedoch oft chronisch krank und multimorbide. Die Ergebnisse aus klinischen Studien einfach auf alte Patienten zu übertragen, ist deshalb meist nicht wissenschaftlich fundiert, ja möglicherweise sogar riskant“, erklärte der DGIM-Vorsitzende. Deshalb würden speziell auf diese Patientengruppe zugeschnittene Studien gebraucht, bei denen dann gegebenenfalls auch die Endpunkte bzw. Behandlungsziele anders zu definieren seien. So steht bei alten Menschen aufgrund der verbleibenden Lebenszeit oft nicht die Heilung, sondern Selbstständigkeit und Lebensqualität trotz diverser Krankheiten im Vordergrund. Welche Evidenz für die medizinische Versorgung im Alter notwendig ist, beschreibt auch eine bereits 2015 erschienene Stellungnahme mehrerer Akademien der Wissenschaften unter Federführung der Leopoldina.

Alte Menschen für klinische Studien zu gewinnen ist nach Siebers Erfahrungen sehr gut möglich: „Sie brauchen am Anfang vielleicht etwas mehr Überzeugung, an einer Studie teilzunehmen, danach ist die Compliance Hochbetagter in klinischen Studien aber sehr hoch.“ Initiiert und finanziert werden sollten solche Studien jedoch nicht nur von der Industrie, sondern auch von Forschungsinstitutionen wie dem BMBF, der DFG oder dem Innovationsfonds, dessen Mittel von den gesetzlichen Krankenkassen und aus dem Gesundheitsfonds getragen werden. Dies würde – obgleich quantitativ noch klar ausbaubar – auch immer mehr geschehen, meinte Sieber.

Projekt „Digital unterstütztes Arzneimitteltherapie-Management“

Mit einem von der DGIM mitgetragenen und vom Innovationsfonds bereits geförderten Projekt (AdAM – Anwendung für ein digital unterstütztes Arzneimitteltherapie-Management) soll die Medikation älterer multimorbider Patienten rationaler und sicherer gemacht werden. Denn Multimorbidität im Alter ist häufig mit Polypharmazie verbunden, bei der die verschiedenen Medikamente nicht aufeinander abgestimmt sind und durch ihre Wechselwirkungen dann unter Umständen mehr schaden als nützen.

 
Sie brauchen am Anfang vielleicht etwas mehr Überzeugung, an einer Studie teilzunehmen, danach ist die Compliance Hochbetagter in klinischen Studien aber sehr hoch. Prof. Dr. Cornel Sieber
 

Am AdAM-Projekt beteiligt sind u.a. die Deutsche Gesellschaft für Allgemeinmedizin/DEGAM, mehr als 20 weitere medizinische Fachgesellschaften, die Deutsche Gesellschaft für klinische Pharmazie, die Kassenärztliche Vereinigung (KV) Westfalen-Lippe und die BARMER. Das Prinzip: Der Hausarzt bekommt von der Krankenkasse mit Genehmigung des Patienten eine Liste über alle diesem verordneten Arzneimittel und behandlungsrelevante medizinische Informationen, die der Arzt digital abrufen kann. Dazu wird die Selbstmedikation abgefragt und dem Patienten ein Medikationsplan ausgedruckt.

Prof. Dr. Ulrich Fölsch

Der Überblick über die Gesamtmedikation soll es dem Arzt ermöglichen, besser eventuell gefährliche Wechselwirkungen zu erkennen. Dabei sollen ihm Handlungsempfehlungen für Polypharmazie helfen, die im Rahmen des Projekts von der DGIM-Kommission Arzneimitteltherapie-Management & Arzneimitteltherapiesicherheit entwickelt werden, wie DGIM-Generalsekretär Prof. Dr. Ulrich Fölsch berichtete. Die harten Daten, an denen sich die Empfehlungen orientieren, sind Mortalität und Krankenhauseinweisungen. 2.000 niedergelassene Ärzte der KV Westfalen-Lippe sollen zur Teilnahme an dem gerade gestarteten Projekt gewonnen werden, mit ersten Ergebnissen sei möglicherweise bereits in 2 Jahren zu rechnen.

Geriatrische Kompetenz für Niedergelassene

Zu den Möglichkeiten niedergelassener Ärzte, ihre Kompetenz zur Behandlung multimorbider geriatrischer Patienten zu erhöhen, gehören zum Beispiel die E-Learning-Module der DGIM und die Weiterbildungsangebote der Deutschen Gesellschaft für Geriatrie (DGG), auf die Cornel Sieber im Gespräch mit Medscape hinwies. Darüber hinaus kann es nach Meinung des DGIM-Vorsitzenden hilfreich sein, einen Blick auf internationale Leitlinien und Publikationen (wie etwa der British Geriatrics Society oder der Geriatric Medicine Section der UEMS/European Union of Medical Specialists) zu werfen.

 

REFERENZEN:

1. Pressekonferenz der Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin e.V., 8. Februar 2018, Berlin

 

Kommentar

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