MEINUNG

Hoffnung auf personalisierte Krebsmedizin übertrieben? „Wir müssen dem Hype abschwören“ – eine Kritik an Multi-Gentests

Prof. Dr. H. Jack West

Interessenkonflikte

14. Februar 2018

Werden bald alle Patienten mit einem soliden Tumor erst einmal einen umfangreichen Gentest machen müssen? Die Zulassung eines solchen Tests, der Mutationen in 324 Genen in jedem soliden Tumort nachweisen kann, wird die Krebstherapie verändern, davon gehen viele Experten aus. Die Entscheidung der US-amerikanischen Food and Drug Administration (FDA) ebnete vergangenen November den Weg in eine Welt der molekularen Onkologie und Präzisionsmedizin [1]. Für den NGS-basierten-In-vitro-Diagnosetest (Next-Generation Sequencing) FoundationOne CDx (F1CDx) der Firma Foundation Medicine ist inzwischen in den USA auch die Kostenübernahme vorgeschlagen worden.

Die neuen Möglichkeiten, zahlreiche Gene auf einmal auf Veränderungen zu untersuchen, sind verführerisch und klingen nach lang ersehntem Fortschritt. Gleichzeitig ist es aber auch wichtig, die Grenzen und mögliche negative Auswirkungen dieser Innovationen zu erkennen und zu diskutieren. Das betont der Onkologe Prof. Dr. H. Jack West, Direktor des Thoracic Oncology Programs am Swedish Cancer Institute in Seattle, USA. Er hat sich über die neuen Perspektiven in einem Kommentar für Medscape einige kritische Gedanken gemacht:

„Um ehrlich zu sein, war ich bislang gegenüber umfassenden Gen-Sequenzierungen und -Tests recht skeptisch [2]. Verstehen Sie mich nicht falsch, ich will sicher nicht die Präzisionsmedizin generell in Frage stellen. Aber: Es gibt keine Evidenz aus prospektiven populationsbasierten Studien, nach denen sich durch Gentests irgendein klinisches Merkmal signifikant verbessert. Das heißt nicht, dass die molekulare Testung keine Rolle spielt. Das tut sie durchaus, vor allem für Patienten mit Krebserkrankungen, für die es etablierte und biomarker-abhängige zielgerichtete Therapien gibt.

Ich denke jedoch, dass wir dem Hype abschwören sollten. Wir müssen uns offen fragen, ob die Identifizierung und Testung von vielen Targets per se besser ist. Vor allem wenn die klinische Datenlage zu den meisten dieser identifizierten Ziele zu schlecht oder gar nicht vorhanden ist, um daraus eine optimale gezielte Krebstherapie abzuleiten. Bisher basiert diese Einstellung auf anekdotischen oder mit einem starken Bias belasteten retrospektiven Daten. Diese fragwürdigen Erkenntnisse kombinieren viele dann mit einem inhärenten Glauben an die Sequenzdaten einer NGS-Testung.

 
Wir müssen uns offen fragen, ob die Identifizierung und Testung von vielen Targets per se besser ist. Prof. Dr. H. Jack West
 

Unbestrittener Vorteil

Der Test hat auf rein praktischer Ebene einen großen Vorteil: Limitierte Gewebemengen können mit ihm effizient genutzt werden. Ein Beispiel: Für das Lungenkarzinom, bei dem neben der Untersuchung der PD-L1-Expression auch die Bestimmung von EGFR, ALK, ROS1 und BRAF V600E indiziert  sind, ist die NGS-Testung eine zweifellos spannende Option. Außerdem sind in diesem Fall eine Reihe neuer Biomarker für die gezielte Krebstherapie – mit einem kritischen Maß an klinischen Evidenzen der Phase 2 – verfügbar. Für andere Krebsarten, bei denen es nur wenige oder gar keine aktuellen molekularen Marker mit erwiesenem Nutzen gibt, ist eine vielfältige Testung fraglicher.

Oft werden die hohen Kosten einer ausgedehnten NGS-Testung als wichtiges Gegen-Argument vorgebracht. Doch Preise von einigen tausend US-Dollar pro Test sind nur Peanuts, wenn wir uns auf der anderen Seite an Therapiekosten von nicht selten über 15 000 US-Dollar monatlich gewöhnt haben. Dies gilt umso mehr, als der technische Fortschritt dazu führen wird, dass die Kosten für NGS-Tests weiter sinken werden.

Keine Beweise

Viele führende Onkologen und angesehene Persönlichkeiten im Gesundheitswesen gehen davon aus, dass Behandlungen, die auf molekularen Tests basieren, auch zu besseren Ergebnissen führen. Reflexartig unterstützen viele eine breit angelegte NGS-Testung. Sie glauben daran, dass das Sammeln von vielen Daten einfach besser sein muss. Potenzielle Biomarker werden als Goldminen betrachtet, die zwangsläufig zu wirksamen Therapien führen müssen.

Nur: Es gibt für solche Schlussfolgerungen keine Evidenz aus prospektiven Untersuchungen. Die Präzisionsmedizin muss das Feiern von beeindruckenden Einzelfällen ohne gemeinsamen Nenner endlich hinter sich lassen. Genau wie retrospektive Studien an Patientenkollektiven mit einfachen Targets. Denn der unkritische Glaube an die Tests kann ebenso gut in einer Sackgasse enden.  

 
Der unkritische Glaube an Gen-Tests kann ebenso gut in einer Sackgasse enden. Prof. Dr. H. Jack West
 

Die Hersteller der Tests, wie etwa die Firma Foundation Medicine, stellen in ihren Berichten neue Therapie-Möglichkeiten in Aussicht, die auf sehr frühen klinischen Studien oder sogar auf präklinischen Daten basieren. Auf diese Weise versuchen sie die Kosten für die Tests zu rechtfertigen. Ob eine breit angelegte Gentestung einen Wendepunkt der Krebstherapie markiert  oder eher den Moment, ab dem die Behandlungskosten aus dem Ruder laufen, hängt ganz davon ab, ob die berichteten Ergebnisse sachlich und nüchtern analysiert werden.

Neue Nebenwirkungen drohen

In einer Zeit, in der wir schwierige Entscheidungen darüber zu treffen haben, wie wir die gesellschaftlichen Kosten sehr teurer Krebstherapien mit erwiesenem Benefit bewältigen können, sollten wir uns davor hüten, diese Herausforderung noch zu verkomplizieren, indem wir teure Therapien ohne eindeutige klinische Evidenz durchführen. Einige Monate einer völlig spekulativen Behandlung, die tausende von Dollars kostet, nur auf der Grundlage einer präklinischen Prämisse, könnte für die Gesellschaft einen finanziellen Albtraum bedeuten. Vor allem, wenn wir erwarten, dass diese Kosten von den Versicherern übernommen werden. Diese werden so gezwungen, unkluge Entscheidungen der Medizin indirekt über ihre Beiträge mitzufinanzieren.

Aber ein finanzieller Schaden geht nicht nur zu Lasten der Gesellschaft. Die gezielten Krebstherapien können erhebliche Nebenwirkungen und unerwartete Folgen haben. Ich sehe zu oft Kollegen, die etablierte Standardtherapien oder eine palliative Betreuung gegen die von NGS-Berichten inspirierten Verfahren eintauschen. Sie verweisen auf Erfolge, welche eher in den Bereich der Fantasie gehören. Dies ist ein schlechter Tausch, da er zu schlechteren Ergebnissen führt. Dies gilt vor allem, wenn diese Entscheidungen in einem frühen Behandlungsstadium fallen, in dem sinnvollere Vorgehensweisen mit nachgewiesenem Nutzen möglich gewesen wären.

 
Die gezielten Krebstherapien können erhebliche Nebenwirkungen und unerwartete Folgen haben. Prof. Dr. H. Jack West
 

Qualität der Studien hinterfragen

Trotz dieser Bedenken erkenne auch ich das große Potenzial für breit angelegte Gentests. Sie können die Krebsforschung vorantreiben und Untergruppen von Patienten  identifizieren, die von einer bestimmten Therapie wahrscheinlich in hohem Maß  profitieren würden. Der Schlüssel liegt in der Fähigkeit der Kliniker, die Qualität der Studien zu erkennen und den Wert einer Therapieempfehlung entsprechend zu beurteilen. Ein Modell, das diesen Gedanken aufgreift und eine Entscheidungshilfe bietet, unterscheidet diese 4 Evidenzklassen [4]:

  • Klasse 1: von der FDA zugelassen

  • Klasse 2: Standardtherapie

  • Klasse 3: klinische Evidenz

  • Klasse 4: biologische Evidenz

Natürlich kann man eine Therapie mit relativ schwacher Evidenz im Rahmen einer klinischen Studie, einem Compassionate-Use-Programm oder bei eigener Kostenübernahme einsetzen. Es sollte jedoch klar sein, dass sie nicht an die Standards heranreichen, die normalerweise von Versicherern bezahlt werden.

Verführung durch schwache Endpunkte

Wichtig ist also, dass wir an unseren strengen Endpunkten festhalten und verlangen, dass die ermittelten Vorteile eine klinische Relevanz besitzen. Das heißt, dass sie sich in einer signifikanten Verbesserung des Gesamtüberlebens niederschlagen. Wir sollten nicht immer neue schwache Endpunkte erzeugen, wie einen relativen Zuwachs in der Zeit des progressionsfreien Überlebens. Es bringt Patienten auch wenig, die neuen Verfahren mit ineffektiven alternativen Salvage-Therapien zu vergleichen, die lediglich kreiert wurden, um von der neuen getesteten Therapie auf niedrigem Niveau übertroffen zu werden. Aufgrund der enormen Kosten der daraus resultierenden Behandlungen sollten wir uns auf Endpunkte konzentrieren, die mehr sind, als nur bedeutungslose Erfolge, mit denen wir uns alle ein kleines bisschen besser fühlen.

Manchmal fürchte ich, dass die Debatte schon gelaufen, der Zug bereits abgefahren ist, und bald alle Patienten mit soliden Tumoren breit angelegten Gentests unterzogen werden. Ob wir auf dieser Reise in neue Gefilde der Krebsmedizin vordringen oder ob der Zug unterwegs entgleist, hängt davon ab, wie wir ihn steuern.

Dieser Artikel wurde von Markus Vieten aus www.medscape.com ((link to the article on english page if it is mentioned in the template )) übersetzt und adaptiert.

 

REFERENZEN:

1: US Food and Drug Administration, Newsrelease, 30. November 2017

2: West HJ: JAMA Oncol. 2016;2:717-718

3: Kelly K, et al: J Clin Oncol. 2008;26:2450-2456

4: Chakravarty D, et al: JCO Precis Oncol. Juli 2017

 

Kommentar

3090D553-9492-4563-8681-AD288FA52ACE
Wir bitten darum, Diskussionen höflich und sachlich zu halten. Beiträge werden vor der Veröffentlichung nicht überprüft, jedoch werden Kommentare, die unsere Community-Regeln verletzen, gelöscht.

wird bearbeitet....