Es gibt kaum einen seit so langer Zeit hell leuchtenden Stern am Pharma-Himmel wie ASS – Acetylsalicylsäure. Als Aspirin® weltweit zum Gattungsbegriff geworden, leuchtet er seit 120 Jahren. ASS soll Schmerzen nehmen, Herzinfarkte verhindern, Darmkrebs und Frühgeburten vorbeugen – glaubt man entsprechenden Studien. Zurzeit listet PubMed Jahr für Jahr über 2.000 Publikationen, in denen ASS eine Rolle spielt.

Prof. Dr. John Cleland
Jetzt schleudert ein prominenter Kardiologe aus Glasgow mit geradezu gälischer Wut einen Scottish Hammer ins gleißende Licht dieses Sterns: „Aspirin ist ein gutes Beispiel für jene Schlamperei, wie sie durch Leute hervorgerufen wird, die voreilige Schlüsse ziehen, welche auf Wunschdenken und fehlerhaften Daten beruhen“, schimpft Prof. Dr. John Cleland vom Robertson Institut für Biostatistik und Klinische Studien an der Universität Glasgow im Journal of the American College of Cardiology (JACC: Heart Failure) [1].
„Die Verirrung hört nicht deshalb auf, Verirrung zu sein, weil die Mehrheit sie teilt“, zitiert Cleland den russischen Schriftsteller Lew Tolstoi. Die Langzeit-ASS-Verordnung sei zur Gewohnheit, ja zu einer Sucht geworden – speziell der Kardiologen. Cleland hat auch einen Namen dafür: „PAPA-DOC”-Syndrom: Physicians Addicted to Prescribing Aspirin – a Disorder Of Cardiologists.
Die unendliche Geschichte vom Low-dose-ASS
Anlass für diesen Ausbruch ist – natürlich – eine frisch publizierte Studie: Ein weiteres Kapitel in der unendlichen Geschichte vom Low-dose-ASS und seinen womöglich günstigen Effekten. Es geht um Herzinsuffizienz-Patienten, deren Herzen noch im Sinusrhythmus schlagen.
Dr. Christian Madelaire vom Universitätskrankenhaus Kopenhagen und Mitarbeiter haben in ihren dänischen Daten-Schatzkisten (respektive nationalen Registern) gekramt und eine, übrigens methodisch nicht zu beanstandende, retrospektive Analyse zur Frage angestellt, ob das, was vielerorts längst gängige Praxis ist, überhaupt nützt: Die Langzeit-Behandlung mit niedrig dosiertem ASS bei Herzinsuffizienz.
Die knappe Antwort lautet: Nein. Und noch weiter: Es könnte sogar schaden! Die Gesamtsterblichkeit war unter Low-dose-ASS nicht geringer, dafür das Herzinfarktrisiko sogar erhöht. Und: ASS-behandelte Patienten brauchten häufiger eine Krankenhausbehandlung als nicht mit ASS behandelte Patienten, vor allem aufgrund eingeschränkter Nierenfunktion [2].
Es könnte sein, dass ASS über seine gerinnungshemmende Wirkung die Instabilität bestehender atherosklerotischer Plaques fördere, spekulieren Madelaire und seine Kollegen. „Vor dem Hintergrund der geringen Wahrscheinlichkeit, dass es jemals eine adäquat gepowerte (Interventions)-Studie geben wird, die die Langzeiteinnahme von ASS bei Herzinsuffizienz untersucht, nährt unsere Analyse die bestehenden Zweifel, dass ASS bei Herzinsuffizienz von Nutzen ist, selbst bei Vorliegen einer ischämischen Herzerkrankung.“
Die Blutungsrate unter ASS war in der Studie numerisch, aber nicht signifikant erhöht. „Eine augenscheinlich sichere, aber nutzlose Behandlung ist trotzdem schädlich“, erklärt Cleland. Denn sie ersetze womöglich andere, nützliche therapeutische Interventionen und wiege Patient und Arzt in falscher Sicherheit.
Kardiologen, hört die Signale!
Cleland, ein international sehr angesehener Herzinsuffizienz-Experte, hat bereits wiederholt und in renommierten Zeitschriften auf die unsichere Datenlage in Bezug auf ASS als Prophylaktikum hingewiesen. „Der Nutzen von ASS (als Primärprävention), sollte dieser tatsächlich existieren, ist wahrscheinlich so klein, dass eine sehr große Studie notwendig wäre, um zu zeigen, dass dieser Nutzen die Risiken überwiegt“, schrieb er zuletzt 2013 im European Heart Journal .
Ein Review der Daten aus den vergangenen 50 Jahren sollte reichen, um zu einer mehrheitlichen Änderung ärztlicher Auffassungen zu diesem Thema zu kommen, meint Cleland. Es gebe keine randomisierte Studie, die darauf hinweise, dass ein Absetzen von ASS bei Patienten mit stabiler koronarer Herzkrankheit mit irgendeinem Risiko verbunden sei. Zudem habe sich die Meinung, wonach es stets ein thrombotisches Ereignis sei, das zum Gefäßverschluss führe, geändert. Die Blutung in eine Plaque sei es, die oft das primäre Ereignis auslöse.
Außerdem sind Placebo-kontrollierte Studien mit ASS zur Primärprävention neutral oder zu Ungunsten von ASS ausgegangen. Es wird außerdem befürchtet, dass ASS sich eher negativ auf kognitive Funktionen, auf das Gehör und das Sehen auswirkt. „Das könnte der Grund sein, warum einige Aspirin-Evangelisten unfähig sind, wissenschaftlichen Argumenten zu folgen“, so ein Seitenhieb von Cleland im JACC.
„ASS erhöht außerdem das Blutungsrisiko, welches wahrscheinlich zur Eisendefizit-Anämie beiträgt, die derzeit hochprävalent bei älteren Menschen mit KHK vorkommt“, lautet ein weiteres Argument von ihm.
Und mehr noch: Bei Herzinsuffizienz-Patienten schmälere ASS den Benefit von ACE-Hemmern, Mineralokortikoid-Rezeptor-Antagonisten und womöglich sogar von Betablockern. In internationalen Leitlinien zur Herzinsuffizienz gibt es bislang keinen Konsens zur Frage „ASS: Ja oder Nein?“ – selbst, wenn die Patienten koronar erkrankt sind.
Cleland erinnert daran, was eigentlich mit einer Herzinsuffizienz-Therapie erreicht werden soll: Wohlbefinden und Unabhängigkeit bewahren oder wiederherstellen, Invalidität verhindern und Leben verlängern, solange dies der Wunsch des Patienten ist. Hilfreich sind dabei die hippokratischen Grundsätze ärztlichen Handelns: Primum non nocere, secundum cavere, tertium sanare! – Erstens nicht schaden, zweitens vorsichtig sein – und erst drittens – heilen!
REFERENZEN:
1. Cleland JGF: JACC: Heart Failure 2018;6(2):168-171
2. Madelaire C, et al: JACC: Heart Failure 2018;6(2):156-167
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Diesen Artikel so zitieren: ASS und das PAPA-DOC-Syndrom – prominenter Kardiologe wettert gegen „Aspirin-Evangelisten“ in den eigenen Reihen - Medscape - 8. Feb 2018.
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