Los Angeles — Eine neue US-Leitlinie zum Management des akuten Schlaganfalles enthält Auswahlkriterien für Patienten, bei denen noch bis zu 24 Stunden nach dem Schlaganfall eine mechanische endovaskuläre Thrombektomie durchgeführt werden kann.
Die Leitlinie komme genau zum richtigen Zeitpunkt, denn seit der Publikation der letzten Empfehlungen habe es „einen dramatischen Wandel“ im Management des akuten Schlaganfalles gegeben, erläuterte der Vorsitzende des Leitlinienkomitees, Prof. Dr. William J. Powers von der Abteilung für Neurologie an der Universität von North Carolina in Chapel Hill im Gespräch mit Medscape. „2013 gab es noch keine Daten, keine guten Studiendaten, dass irgendjemand von diesem Eingriff profitieren würde, und jetzt gibt es welche.“
Die neue Leitlinie wurde am 24. Januar bei der International Stroke Conference (ISC) 2018 in Los Angeles vorgestellt und zeitgleich online in Stroke veröffentlicht [1]. Die Empfehlungen werden von der American Association of Neurological Surgeons, dem Congress of Neurological Surgeons und der Society for Academic Emergency Medicine unterstützt.
Neue Erkenntnisse seit letztem Update
Bereits 2015 hatten die American Heart Association und die American Stroke Association (AHA/ASA) ein Update der Leitlinie von 2013 zum frühen Management von Patienten mit akutem ischämischem Schlaganfall herausgegeben. Unter anderem umfasste die evidenzbasierte Leitlinie auch die Auswahl von geeigneten Patienten für eine endovaskuläre Therapie mit einem Stent-Retriever (mechanische Thrombektomie) innerhalb von 6 Stunden nach Schlaganfallbeginn.
Doch seit Veröffentlichung dieses Updates sind 2 Studien erschienen, die darauf hindeuten, dass einige Patienten auch später noch von einer solchen Behandlung profitieren – möglicherweise bis zu 24 Stunden nach einem Schlaganfall.
DEFUSE-3 und DAWN
Eine der beiden Studien – DEFUSE-3 – wurde ebenfalls beim Schlaganfallkongress vorgestellt und ist zeitgleich im New England Journal of Medicine erschienen, nur wenige Stunden vor der Publikation der neuen Leitlinie [2].
Die Autoren der Leitlinie hatten die Möglichkeit, sich das Manuskript der Studie vorab anzusehen und die Ergebnisse bei der Formulierung der neuen Empfehlungen zu berücksichtigen. „Aktueller kann eine Leitlinie kaum sein“, betonte Powers.
Kriterien für Thrombektomie innerhalb von 6 Stunden
Eines der Auswahlkriterien für eine mechanische Thrombektomie ist ein großes Gerinnsel in einem der großen Gefäße an der Schädelbasis. „Es geht nicht bei jedem Schlaganfall, es muss ein großer Thrombus sein“, sagte Powers.
Den neuen Empfehlungen zufolge sollten Patienten für eine Thrombektomie innerhalb von 6 Stunden nach Schlaganfallbeginn in Betracht gezogen werden, wenn sie dieses und folgende Kriterien erfüllen:
Score von maximal 0 bis 1 auf der modifizierten Rankin-Skala (mRS-Score) vor dem Schlaganfall,
Verschluss der inneren Halsschlagader oder des Segmentes M1 der mittleren Gehirnschlagader ist Ursache für den Schlaganfall,
Alter über 18 Jahre,
National Institutes of Health Stroke Scale-Score ≥ 6,
Alberta Stroke Program Early CT Score ≥ 6.
Im Unterschied zu den vorherigen Empfehlungen können Patienten, die nicht für eine Lyse-Behandlung mit intravenösem Tissue Plasminogen Activator (tPA) in Frage kommen, nun innerhalb von 6 Stunden für eine mechanische Thrombektomie ausgewählt werden. Diese neue Empfehlung hat den Grad 1A.
Mehr Zeit für Entfernung des Gerinnsels
Im Licht der neuen Ergebnisse aus der DEFUSE-3-Studie und einer zweiten Studie namens DAWN, die am 4. Januar ebenfalls im New England Journal of Medicine erschienen ist (wie Medscape berichtete), empfiehlt die neue Leitlinie bei geeigneten Patienten eine Thrombektomie in einem Zeitfenster von 6 bis 16 Stunden nach dem Schlaganfall – ebenfalls eine Grad 1A-Empfehlung.
Und auf Grundlage der Ergebnisse der DAWN-Studie ist die Behandlung „vertretbar“ innerhalb von 16 bis 24 Stunden – eine Empfehlung vom Grad IIa-B-R.
Powers erklärte: Um eine Empfehlung vom Grad 1A zu erhalten, sind 2 Studien notwendig. Das 16-Stunden-Zeitfenster sei sowohl in DEFUSE-3 als auch in DAWN untersucht worden. Doch nur in der DAWN-Studie seien Patienten auch noch 16 bis 24 Stunden nach dem Schlaganfall mit einer Thrombektomie behandelt worden.
Kriterien für erweitertes Zeitfenster
Um noch bis zu 24 Stunden nach dem Schlaganfall für eine mechanische Entfernung des Gerinnsels in Frage zu kommen, müssen die Patienten klare Kriterien erfüllen – im Grunde die Einschlusskriterien der DAWN-Studie. „Es müssen bestimmte CT- oder MRT-Befunde vorliegen“, sagte Powers. Wie viele Patienten von der empfohlenen Ausweitung des Zeitfensters für die mechanische Thrombektomie auf 24 Stunden profitieren würden, sei unklar, ergänzte er.
Angesichts der Erweiterung der Auswahlkriterien für das Verfahren empfiehlt die neue Leitlinie Krankenhäusern, einen entsprechenden Versorgungsplan zu erstellen. „Wir wissen, dass dieses Verfahren niemals in allen Krankenhäusern verfügbar sein wird“, so Powers. „Deshalb ist es für die Krankenhäuser einer Region nun enorm wichtig, ein System für die Versorgung dieser Patienten zu entwerfen.“
Versorgungsplan für die Schlaganfallbehandlung
Zu einem solchen System würde zum Beispiel gehören, Patienten mit Symptomen ins nächste Krankenhaus zu bringen, wo die Ärzte dann ermitteln, ob der Patient einen Schlaganfall hat und ob er ein Kandidat für eine Lysetherapie ist – und falls ja, diese auch durchführen.
Aber das erstaufnehmende Krankenhaus muss auch potenzielle Kandidaten für eine mechanische Thrombektomie identifizieren „ und dann dafür Sorge tragen, dass diese Patienten in eine Einrichtung gebracht werden, in dem diese rasch durchgeführt werden kann“, sagte Powers.
Eine mechanische Thrombektomie kann nur von hochqualifiziertem Fachpersonal durchgeführt werden, seien es Radiologen, Neurologen oder Neurochirurgen. Es erfordert mindestens 2 Jahre „intensive Ausbildung“, um qualifiziert genug zu sein, so Powers. „Bis vor einigen Jahren gab es kaum einen Markt für solche Leute, aber jetzt ist der Bedarf da.“
Neue Indikationen für Lysetherapie
Zusätzlich zu den Empfehlungen zur mechanischen Thrombektomie erweitert die neue Leitlinie auch die Eignungskriterien für intravenöse tPA.
„Die Lysetherapie bleibt der Eckpfeiler der Schlaganfalltherapie“, sagte Powers bei einer Pressekonferenz. „Jeder Patient, der dafür geeignet ist, sollte eine Lysetherapie bekommen, und sie sollte nicht hinausgeschoben werden, um herauszufinden, ob noch andere Therapieoptionen bestehen.“
Die vorangegangene Leitlinie ging bezüglich Kontraindikationen und Indikationen nach einem Rotes Licht-/Grünes Licht-Ampelprinzip vor. Die seit 2013 neu dazugekommenen Informationen haben es den Leitlinien-Autoren erlaubt, die Zahl der Indikationen, für die „grünes Licht“ herrscht, zu erhöhen und die Zahl der absoluten Kontraindikationen mit „rotem Licht“ zu senken, sagte Powers.
Einiges, was bisher als absolute Kontraindikation galt, unterliegt nun dem Urteil des behandelnden Arztes. So waren z. B. eine Duralpunktion in den 7 Tagen zuvor oder ein schweres Trauma (nicht des Kopfes) in den 14 Tagen zuvor „Kontraindikationen mit rotem Licht, doch nun ist es nach Abwägung von Nutzen und Risiken für den einzelnen Patienten eine Ermessensentscheidung des behandelnden Arztes“.
Dennoch ist tPA manchmal alles, was notwendig ist. „Wenn ein Patient für tPA geeignet ist und seit dem Schlaganfall noch keine 4,5 Stunden vergangen sind, sollte er trotzdem eine Lysetherapie erhalten, denn manchmal wirkt sie und löst das Gerinnsel auf“ und dann müsse man das Gerinnsel nicht mechanisch entfernen, so Powers.
Patienten können tPA und Thrombektomie erhalten
Allerdings würden sich Thrombektomie und tPA nicht gegenseitig ausschließen, Patienten könnten beide Interventionen erhalten.
Patienten mit schweren Schlaganfällen, die die Kriterien für eine Lysetherapie erfüllen, sollten tPA erhalten. Aber die Ärzte sollten nicht damit warten, sie zur mechanischen Thrombektomie zu schicken. „Man wartet nicht, man schafft sie so schnell wie möglich zur Thrombektomie“, sagte Powers.
Kleinere Krankenhäuser in Powers Region starten die Schlaganfallbehandlung mit einer Lysetherapie, bringen die Patienten dann in einen Hubschrauber und fliegen sie zu Powers Klinik, „während die tPA durchläuft“, berichtete er. „Wenn die Patienten bei uns ankommen, überprüfen wir, ob sie noch immer ein großes Gerinnsel haben, und wenn das der Fall ist, führen wir eine mechanische Thrombektomie durch.“
Behandlung jetzt auch bei Blutverdünnung möglich
Einige Patienten, die nicht für tPA geeignet sind, z.B. weil sie Blutverdünner nehmen, können trotzdem für eine mechanische Thrombektomie geeignet sein, merkte er an.
Das könnte ungemein nützlich sein, fügt er hinzu. „Vorher mussten wir diesen Patienten sagen: ‚Sie hatten einen Schlaganfall, aber da Sie antikoaguliert werden, kann ich nichts für Sie tun.‘ Aber jetzt können wir etwas tun.“
Blutdrucksenkung hilft nicht
Die neue Leitlinie umfasst auch einige Veränderungen beim Blutdruckmanagement. „Hauptsächlich ist uns mittlerweile klar geworden, dass es in Ordnung ist, wenn der Blutdruck unmittelbar nach einem Schlaganfall hoch ist“, sagte Powers.
Wenn der Blutdruck eines Patienten bei mindestens 220/120 mmHg liegt und er oder sie weder tPA noch endovaskuläre Therapie erhalten hat, gibt es keinen anderen Grund, den Blutdruck zu senken, es hat einfach keinen Nutzen, sagte er.
„Zuvor haben wir einen Patienten mit einem Blutdruck von 200/100 mmHg gesehen und gesagt: ‚ Das ist ein Notfall, wir müssen dem Patienten Medikamente geben, um den Blutdruck zu senken.‘ Inzwischen wissen wir aus Studien, dass es nicht hilft. Es schadet auch nicht, aber es bewirkt auch nichts.“
Kompressionsmanschetten einsetzen
Eine weitere Empfehlung der neuen Leitlinie lautet, bei allen immobilen Schlaganfall-Patienten eine intermittierende pneumatische Kompression durchzuführen, um tiefen Venenthrombosen und Lungenembolien vorzubeugen.
Zuvor hatte es eine Diskussion darüber geben, ob diese Kompressionsmanschetten, die das Blut aus den Venen in die Beine pressen, eine Antikoagulation oder beides zum Einsatz kommen sollten, erklärte Powers. „Jetzt sagen wir, die Kompressionstherapie wirkt, und bei den Blutverdünnern wissen wir es nicht.“ Und während eine Antikoagulation die Gefahr einer Lungenembolie reduzieren könnte, ist sie mit einem Blutungsrisiko an anderen Stellen im Körper assoziiert.
Revaskularisierung nicht hinausschieben
Eine andere revidierte Empfehlung bezieht sich auf die Revaskularisierung der Karotis. Wenn eine Revaskularisierung bei Patienten mit kleinerem, nicht zu Behinderungen führendem Schlaganfall (mRS-Score 0 bis 1) zur Sekundärprävention indiziert ist, sei es „sinnvoll“, so die Autoren, den Eingriff innerhalb von 48 Stunden bis 7 Tage nach dem Ereignis durchzuführen, anstatt die Behandlung hinauszuzögern – wenn keine Kontraindikationen für eine frühe Revaskularisierung vorliegen.
„Warten Sie nicht. Schauen Sie, ob es innerhalb von 24 Stunden zu einer Obstruktion kommt, und falls ja, operieren Sie innerhalb von 48 Stunden bis 7 Tagen.“ Die vorherige Leitlinie habe keinen zeitlichen Rahmen vorgegeben, sagte Powers.
Nur nützliche Tests anordnen
Im Hinblick auf die Kosten der Schlaganfallbehandlung ist eine wichtige neue Empfehlung, nur Tests anzuordnen, die einen Nutzen haben. Einige Ärzte glauben, je mehr Informationen sie durch Tests sammeln, desto besser, so Powers. „Doch bei jedem Patienten eine Routinebatterie von Tests durchzuführen, ist nicht kosteneffektiv. Kein Test sollte routinemäßig bei jedem Patienten mit Schlaganfall durchgeführt werden. Sie sollten wirklich genau auswählen, welche Tests Sie bei welchem Patienten durchführen, um eine spezifische Frage zu beantworten.“
Powers nannte auch Beispiele für Tests, auf die getrost verzichtet werden könne. Einer davon ist ein MRT des Gehirns. Die Patienten bekommen in der Notaufnahme zwar meistens eine Computertomographie (CT), um herauszufinden, ob sie einen ischämischen oder einen hämorrhagischen Schlaganfall haben, „doch die Frage ist, ob jeder Patient mit einem ischämischen Schlaganfall ein MRT braucht“, sagte Powers.
Die gleiche Frage könne man bei Patienten stellen, die routinemäßig ein EKG erhalten, selbst wenn sie nicht herzkrank sind.
Weitere routinemäßig durchgeführte Tests, die offenbar wenig Zusatznutzen bringen, sind diejenigen auf obstruktive Schlafapnoe und Hyperhomocysteinämie sowie eine anhaltende Überwachung der Herzfunktion. Ärzte sollten „innehalten und nachdenken, und dann nur die Tests anordnen, die von Bedeutung sind“, sagte Powers. Mit diesem Ansatz ließen sich Kosten einsparen „ohne Kompromisse bei der Versorgungsqualität einzugehen.“
Rezidivprävention vom ersten Tag an
Die neue Leitlinie legt den Fokus auf den akuten Schlaganfall und umschließt das Management vor dem Eintreffen im Krankenhaus, in der Notaufnahme und während der Hospitalisierung, aber sie zieht keine scharfe Grenze zwischen akuter Therapie und Prävention eines weiteren Schlaganfalles, so Powers.
„Die Prävention ist Teil der Akutbehandlung der Patienten. Die Prävention beginnt buchstäblich am Tag des Eintreffens im Krankenhaus. Wir schauen, ob Patienten ein Statin brauchen, wir beginnen mit einer ASS-Therapie, wir entscheiden, ob eine Blutverdünnung notwendig ist – all das.“
Industrieeinfluss minimiert
Powers betonte, dass mindestens die Hälfte der Mitglieder des Leitlinienkomitees keine Beziehungen zur Industrie haben durfte. Und diejenigen, die Beziehungen hatten, hatten kein Stimmrecht und wurden von der Teilnahme an wichtigen Diskussionen ausgeschlossen. „Damit sind wir noch einen kleinen Schritt weiter gegangen“ im Vergleich zu früheren Leitlinien, bei deren Erstellung diejenigen mit Beziehungen zur Industrie nur nicht an den Abstimmungen über die Empfehlungen hatten teilnehmen dürfen.
Dieser Artikel wurde von Nadine Eckert aus www.medscape.com übersetzt und adaptiert.
REFERENZEN:
1. Powers WJ, et al: Stroke (online) 24. Januar 2018
2. Albers AG, et al: NEJM (online) 24. Januar 2018
Medscape Nachrichten © 2018 WebMD, LLC
Diesen Artikel so zitieren: Neue Schlaganfall-Leitlinie in USA: Zeitfenster für Thrombektomie auf bis zu 24 Stunden gedehnt – für bestimmte Patienten - Medscape - 2. Feb 2018.
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