Das vergangene Jahr war für viele MS-Patienten und ihre Ärzte ein aufregendes: Bei kaum einer anderen Krankheit hat es 2017 so viele Fortschritte in der Diagnostik und Behandlung gegeben wie bei der Multiplen Sklerose. Prof. Dr. Bernhard Hemmer, Direktor der Neurologischen Klinik und Poliklinik am Klinikum rechts der Isar der Technischen Universität München und außerdem Vorstand des Krankheitsbezogenen Kompetenznetzes Multiple Sklerose (KKNMS), erläutert im Interview mit Medscape, welches die wichtigsten Neuerungen sind und woran sich niedergelassene Neurologen im Dschungel der Möglichkeiten am besten orientieren.
Medscape: Herr Professor Hemmer, welches ist der Ihrer Ansicht nach wichtigste Fortschritt in der Behandlung der MS, den wir in jüngster Zeit verzeichnen konnten?
Prof. Dr. Hemmer: Ein echter Quantensprung in der MS-Therapie war meines Erachtens die Entwicklung der B-Zell-gerichteten Therapien. Die monoklonalen Antikörper, die zielgerichtet die B-Zellen im Blut zerstören, haben eine hohe Wirksamkeit und nach aktuellem Kenntnisstand zugleich relativ wenige Nebenwirkungen. Es handelt sich bei ihnen – das haben inzwischen auch große Phase-3-Studien gezeigt – somit um sehr effektive und relativ sichere Medikamente, die die Behandlung der Multiplen Sklerose nachhaltig verändern werden.
Medscape: Welche besondere Rolle innerhalb der B-Zell-gerichteten Therapien spielt der neue Antikörper Ocrelizumab, der am 12. Januar dieses Jahres seine europäische Zulassung erhalten hat?
Prof. Dr. Hemmer: Mit ihm haben wir erstmalig ein zugelassenes Mittel, das nachweislich nicht nur gegen die schubförmige, sondern auch gegen die progrediente Form der MS wirkt. Insbesondere bei jüngeren Patienten mit dieser aggressiven Verlaufsform zeigt das Medikament zumindest moderate Effekte.
Medscape: Viele MS-Patienten erhalten schon seit Jahren off-label den Antikörper Rituximab, der für die Behandlung der MS nicht zugelassen ist. Müssen und sollten all diese Menschen jetzt auf Ocrelizumab wechseln?
Prof. Dr. Hemmer: Beide Medikamente sind sich sehr ähnlich und docken an dem gleichen Oberflächenprotein, dem CD20, der B-Zellen an. Ocrelizumab ist vollständig humanisiert, während Rituximab noch Mausanteile besitzt. Von dieser Neuerung erwartet man sich eine weitere Reduktion der Nebenwirkungen. Ich denke aber und das haben auch Erfahrungen aus Schweden gezeigt, wo Rituximab sehr häufig bei der MS zum Einsatz kommt, dass sich die beiden Antikörper in ihrer Wirksamkeit nicht substanziell unterscheiden. Wenn ein Patient gut auf Rituximab eingestellt ist und dieses Mittel problemlos verträgt, würde ich daher von einem Wechsel eher abraten. Vorausgesetzt natürlich, die Krankenkassen spielen mit – was ich nicht unbedingt erwarte.
Medscape: Obwohl Rituximab deutlich kostengünstiger ist als das neue Präparat, das noch unter Patentschutz steht?
Prof. Dr. Hemmer: Ja, das Problem ist wie gesagt, dass Rituximab – obwohl weltweit bereits tausende MS-Patienten mit dem Medikament behandelt werden – die Zulassung zur MS-Therapie fehlt. Somit werden es die meisten Krankenkassen künftig vermutlich nicht mehr erstatten, selbst wenn eine Behandlung mit Ocrelizumab bei Verwendung der Standarddosis das 4,5-fache kostet – ein Preisunterschied von rund 26.000 Euro im Jahr, der aus meiner Sicht nicht zu rechtfertigen ist.
Medscape: Werden die B-Zell-gerichteten Therapien künftig für alle MS-Patienten das Mittel der ersten Wahl werden?
Prof. Dr. Hemmer: Nein, als Erstlinientherapie einer mild oder moderat verlaufenden schubförmigen MS würde ich die Antikörper nicht empfehlen – vor allem weil Langzeitdaten zu ihrer Sicherheit noch fehlen. Diese Medikamente sollten zumindest zum jetzigen Zeitpunkt Menschen mit hochaktiven Krankheitsverläufen vorbehalten sein oder Patienten, bei denen andere Mittel versagt haben. Bei beiden sind sie allerdings eine sehr vielversprechende Alternative zu bereits zugelassenen Präparaten für hochaktive Verläufe.
Medscape: Wie sehen Sie den Stellenwert des zweiten erst kürzlich zugelassenen MS-Medikaments, des oral einzunehmenden Cladribins?
Prof. Dr. Hemmer: Ehrlich gesagt, deutlich geringer. Auch dieses Präparat ist ja für Patienten mit hochaktiven Krankheitsverläufen vorgesehen, wo es seine Wirksamkeit durchaus unter Beweis gestellt hat. Natürlich ist es gut, aus einer breiten Palette von Medikamenten wählen zu können, um für jeden Patienten die Substanz zu finden, die ihm persönlich am besten hilft. Gerade bei Cladribin – das ursprünglich ja für Krebspatienten entwickelt wurde, wo es intravenös zum Einsatz kommt – sehe ich aber eine Reihe von Nachteilen gegenüber anderen Präparaten.
Medscape: Welche sind das?
Prof. Dr. Hemmer: Zum einen ist Cladribin weniger wirksam als beispielsweise Ocrelizumab. Zum anderen ist das Dosierungsschema recht kompliziert. So muss die Dosis an das Körpergewicht des Patienten angepasst werden. Und die wiederum bestimmt, wie lange das Medikament einzunehmen ist. Darüber hinaus unterdrückt das Mittel das Immunsystem für einen sehr langen Zeitraum. Was aber passiert, wenn der Patient trotz einer Therapie mit Cladribin eine neue Krankheitsaktivität entwickelt? Solange ein Mittel noch im Körper wirkt, wäre es zumindest problematisch, auf ein anderes, womöglich effektiveres Präparat umzusteigen. Zudem ist Cladribin sehr teuer. Die Kosten richten sich nach dem Körpergewicht; so fallen beispielsweise bei einem 80 kg schweren Mann Jahres-Therapiekosten von mehr als 36.000 Euro an – ein Preis, der meines Erachtens ebenfalls kaum zu rechtfertigen ist.
Medscape: Die Palette der MS-Medikamente wurde im September 2016 um noch ein anderes Medikament erweitert: Clift® gilt als Nachahmerpräparat von Copaxone®, beide enthalten den Wirkstoff Glatirameracetat – der aber vermutlich wegen seines komplexen Herstellungsprozesses in beiden Mitteln nicht hundertprozentig identisch ist. Wie entscheide ich als Arzt, welcher Patient welches Medikament bekommen soll?
Prof. Dr. Hemmer: Es ist meines Erachtens zunächst einmal sehr positiv zu sehen, dass nach 20 Jahren Patentschutz für den Blockbuster Copaxone® erstmals so etwas wie ein Generikum auf den Markt kommen konnte. Eine große, methodisch gut gemachte Studie hat gezeigt, dass die beiden Substanzen durchaus auf Augenhöhe stehen, in ihrer Wirkung also tatsächlich vergleichbar sind. Es spricht meiner Meinung nach nichts dagegen, das neue Mittel einzusetzen, das 20% günstiger ist als das Original.
Medscape: Generell ist die Entscheidungsfindung, welches MS-Präparat bei einem bestimmten Patienten zum Einsatz kommen sollte, aber zunehmend komplex geworden.
Prof. Dr. Hemmer: Ja, das ist richtig, aber natürlich gibt es eine Reihe von Entscheidungshilfen. Zunächst muss ich als Arzt ermitteln, ob der Patient an einer eher moderaten oder an einer hochaktiven Verlaufsform der Krankheit leidet. Gerade bei den Medikamenten für die moderaten Verläufe kommen dann aber schon die Vorlieben des einzelnen Patienten ins Spiel: Möchte er zum Beispiel lieber ein injizierbares oder ein oral einzunehmendes Medikament? Lieber ein altes, bewährtes oder eher ein neueres? Wichtig bei allen Entscheidungen ist es, dem Patienten klar zu machen, dass die Wahl für ein bestimmtes Medikament keine Heirat für immer ist – sprich dass bei Unverträglichkeit oder fehlender Wirksamkeit Alternativen vorhanden sind.
Medscape: Wie sieht es bei den Präparaten der Eskalationsstufe aus?
Prof. Dr. Hemmer: Hier gilt es vor allem zu beachten, dass bei einem Nachweis von Antikörpern gegen das JC-Virus der Einsatz von Natalizumab problematisch ist. Die B-Zell-depletierenden Antikörper oder Fingolimod wären in diesem Fall Alternativen. Das Mittel Alemtuzumab ist meiner Ansicht nach wegen seiner Nebenwirkungen und der hohen Anforderungen an das Monitoring eigentlich nur noch als Reservemedikament zu betrachten. Auch für Daclizumab hat die EMA im Oktober vergangenen Jahres die Zulassung wegen schwer verlaufender Autoimmun-Hepatitiden weiter eingeschränkt.
Medscape: Gibt es für Patienten mit einer primär oder sekundär progredienten Form Mittel, die off-label verordnet werden könnten?
Prof. Dr. Hemmer: Es existieren zumindest einige interessante Ansätze, die darauf ausgerichtet sind, die Myelinschicht der Nervenzellen zu schützen oder sogar wieder aufzubauen. Entsprechende Medikamente würden also nicht aufs Immunsystem wirken, sondern direkt im Gehirn. Eine Möglichkeit ist hier die Gabe von hochdosiertem Biotin. Allerdings ist der Wirkmechanismus dieses Vitamins noch nicht wirklich gut verstanden. Zudem fehlen Daten aus Phase-3-Studien, die eine Wirksamkeit belegen. Deshalb würde ich zum jetzigen Zeitpunkt davon abraten, Patienten außerhalb klinischer Studien mit Biotin zu behandeln.
Darüber hinaus können wir in den kommenden Jahren aber womöglich mit einer Zulassung des Wirkstoffs Siponimod rechnen, einer Weiterentwicklung von Fingolimod, die bei der sekundär progedienten Form inzwischen auch in Phase-3-Studien zumindest einen moderaten Effekt unter Beweis gestellt hat.
Medscape: Nicht nur in der Therapie der MS, sondern auch in der Diagnostik hat es zuletzt einige Neuerungen gegeben.
Prof. Dr. Hemmer: Ja, die Diagnosekriterien der MS, die sogenannten McDonald-Kriterien, wurden kürzlich verändert. Dadurch ist inzwischen eine leichtere und vor allem frühere Diagnosestellung möglich geworden. Eine der grundlegendsten Veränderungen besteht darin, dass die zeitliche Dissemination der Entzündung nicht mehr nur wie früher im MRT, sondern jetzt auch durch die oligoklonalen Banden im Liquor nachgewiesen werden darf. Die Konsequenz hieraus ist natürlich, dass die Schwelle, eine MS zu diagnostizieren, weiter sinkt. Wir werden also künftig mit Sicherheit mehr Menschen als bisher eine MS attestieren.
Medscape: Ist die Diagnose denn trotzdem sicher?
Prof. Dr. Hemmer: Ob wirklich alle Menschen, die die aktuellen Diagnosekriterien erfüllen, im weiteren Verlauf neue Krankheitsaktivität entwickeln werden, müssen jetzt Folgestudien zeigen. Bisherige Untersuchungen deuten aber darauf hin, dass der Nachweis der oligoklonalen Banden ein starkes Indiz für die Chronifizierung der Erkrankung ist.
Problematisch ist meines Erachtens vor allem, dass sämtliche Medikamente, die bislang auf dem Markt sind, an Patienten getestet wurden, bei denen die MS anhand anderer Diagnosekriterien festgestellt worden war. Dennoch halte ich die Neuerung insgesamt für sinnvoll.
Medscape: Welches ist Ihres Erachtens das wichtigste Argument für die Änderung?
Prof. Dr. Hemmer: Wenn wir eine MS früher diagnostizieren, können wir sie auch früher behandeln. Und inzwischen gilt es als gesichert, dass ein frühzeitiger Therapiebeginn, gleich nach dem ersten Schub, größere Effekte erzielt als ein späterer. Klar ist: Je früher behandelt wird, nicht nur bezogen auf die Krankheitsdauer, sondern auch auf das Alter der Patienten, desto mehr können wir mit den gegenwärtigen Medikamenten erreichen.
Medscape: Was wünschen Sie sich für die Zukunft?
Prof. Dr. Hemmer: Was wir benötigen, sind Prädiktoren, die uns bei der Diagnosestellung erlauben, den Verlauf der Erkrankung vorauszusagen. Damit könnten wir frühzeitig individualisierte Therapieentscheidungen treffen. Die Etablierung solcher Prädiktoren für die personalisierte Therapie der MS stellt – neben der Entwicklung von Therapien für die progredienten Verlaufsformen – die große Herausforderung für das nächste Jahrzehnt dar.
REFERENZEN:
1. Telefonisches Interview am 26. Januar 2018
Medscape © 2018 WebMD, LLC
Die dargestellte Meinung entspricht der des Autors und spiegelt nicht unbedingt die Ansichten von WebMD oder Medscape wider.
Diesen Artikel so zitieren: Fortschritt richtig einordnen: Freude über die neuen Optionen gegen MS – aber wer bekommt was, und wann sollte man wechseln? - Medscape - 30. Jan 2018.
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