MS-Therapie: Muss es das neue Ocrelizumab sein? Vorgänger Rituximab bewährt sich off-label in retrospektiver Studie

Anke Brodmerkel

Interessenkonflikte

23. Januar 2018

Mit Ocrelizumab (Ocrevus®, Roche) hat gerade ein Medikament die europäische Zulassung zur Behandlung der Multiplen Sklerose erhalten, von dem sich Ärzte und Patienten sehr viel versprechen. Denn es ist nicht nur bei schubförmiger Multipler Sklerose wirksam – sondern auch das erste Medikament gegen die primär progrediente Verlaufsform.

Rituximab als Vorläufermolekül des soeben zugelassenen Medikaments ist zur Behandlung der MS nicht zugelassen, wird aber off-label verschrieben. Schwedische Forscher haben nun auch diesem Wirkstoff – in der Indikation zur verlaufsmodifizierenden Therapie einer schubförmig-remittierenden Multiplen Sklerose (RRMS) – ein gutes Zeugnis ausgestellt: Rituximab hat sich in ihrer retrospektiven Studie, für die sie die Daten von 494 Patienten mit einer neu diagnostizierten RRMS analysiert haben, allen anderen Wirkstoffen überlegen gezeigt, berichtet das Team um Dr. Mathias Granqvist vom Department of Clinical Neuroscience am Karolinska-Institut in Stockholm in der Fachzeitschrift JAMA Neurology [1].

Rituximab ist das Vorläufermolekül des neu zugelassenen Ocrelizumab

Wenn Rituximab zur Behandlung der MS off-label verordnet wird, muss hierzulande zuvor mit den Krankenkassen geklärt werden, ob diese die Kosten für die Therapie übernehmen. In Schweden dagegen wird die Behandlungsoption generell erstattet – was vermutlich auch daran liegt, dass sie deutlich kostengünstiger ist als andere Basistherapien.

Prof. Dr. Aiden Haghikia

„Wir – das heißt der Direktor unserer Klinik, Prof. Dr. Ralf Gold, und ich – verwenden bei uns im Haus Rituximab schon sehr lange“, berichtet Prof. Dr. Aiden Haghikia, leitender Oberarzt an der Klinik für Neurologie am Katholischen Klinikum St. Josef-Hospital der Ruhr-Universität Bochum, im Gespräch mit Medscape. „Insofern ist diese Studie, die meines Erachtens für eine retrospektive Studie mit einer prospektiven Kohorte methodisch gut gemacht ist und somit auch solide Ergebnisse hervorbringt, sehr wichtig für uns.“

 
Diese Studie … bringt solide Ergebnisse hervor und ist sehr wichtig für uns. Prof. Dr. Aiden Haghikia
 

„Interessant ist die schwedische Untersuchung vor allem auch deswegen, da es sich bei Rituximab ja um das nicht vollständig humanisierte Vorläufermolekül von Ocrelizumab handelt, dessen europäische Zulassung zur Behandlung der MS am 12. Januar erfolgt ist“, bestätigt Haghikia.

Er gehe davon aus, dass der neue Wirkstoff, der in den USA und der Schweiz bereits seit einigen Monaten auf dem Markt sei, bei der Behandlung der RRMS ähnlich wirksam wie Rituximab sei. „Ob er sich jedoch im klinischen Alltag langfristig genauso verhält, werden wir erst in den kommenden Jahren wissen“, betont der Neurologe. Gerade deshalb sei es so wichtig, auch die Sicherheit älterer Antikörper bei MS-Patienten zu prüfen.

Ocrelizumab ist das erste Medikament, das sich in klinischen Phase-3-Studien nicht nur gegen die schubförmige, sondern auch gegen die primär progrediente MS als wirksam erwiesen hat. Die aggressive Verlaufsform, an der etwa 10 bis 15% aller MS-Patienten leiden, galt bis dato als nicht behandelbar. Insofern handelt es sich bei dem neuen Präparat des Herstellers Roche um einen Meilenstein in der MS-Therapie. Da es mit Rituximab keine entsprechenden Studien gibt, ist dessen Wirksamkeit wissenschaftlich auch nicht entsprechend belegt.

Rituximab versus andere Therapien

Diese Lücke schließen – zumindest zum Teil – nun Granqvist und seine Kollegen mit ihrer Studie, für die sie insgesamt die Daten von 494 Patienten aus Stockholm und der nordschwedischen Provinz Västerbotten analysiert haben, bei denen zwischen Januar 2012 und Oktober 2015 eine RRMS diagnostiziert worden war und die erstmalig eine verlaufsmodifizierende Therapie verordnet bekommen hatten. Die Probanden waren 27 bis 43 Jahre alt, gut 2 Drittel von ihnen waren weiblich.

 
Als First-Line-Präparat sollte Rituximab MS-Patienten mit hochaktiven Verläufen vorbehalten bleiben. Prof. Dr. Aiden Haghikia
 

215 Patienten (43,5%) hatten ein injizierbares Basismedikament, also ein Interferon oder Glatirameracetat, erhalten, 120 (24,3%) Rituximab, 86 (17,4%) Dimethylfumarat, 50 (10,1%) Natalizumab und 17 (3,4%) Fingolimod. 6 Probanden (1,2%) war ein anderer Wirkstoff zur verlaufsmodifizierenden Therapie verordnet worden. Primärer Endpunkt der Studie waren alle Gründe, aus denen das verordnete Präparat abgesetzt wurde. Sekundäre Endpunkte waren spezifische Gründe, etwa das Nicht-Anschlagen des Wirkstoffs, Schwangerschaften oder Nebenwirkungen.

Unschlagbar niedrige Abbruchsrate bei Rituximab

Wie die Forscher um Granqvist ermittelten, lag die jährliche Abbruchsrate unter Rituximab nur bei 3%. Bei den injizierbaren Wirkstoffen betrug sie dagegen 53%, bei Dimethylfumarat, Natalizumab und Fingolimod 32%, 29% und 38%.

Der wichtigste Grund, aus dem Interferone, Glatirameracetat, Dimethylfumarat und Fingolimod abgesetzt wurden, war eine trotz der Therapie anhaltende Krankheitsaktivität. Natalizumab wurde vorrangig wegen positiver Testergebnisse auf das Humane Polyomavirus 2 (JCV) aufgegeben. Ein erhöhter JCV-Antikörper-Index kann unter Natalizumab die lebensgefährliche Gehirnerkrankung PML (Progressive multifokale Leukenzephalopathie) auslösen. Bei Rituximab führten hauptsächlich Schwangerschaften zu einem Verzicht auf das Mittel.

Verglichen mit Interferonen, Glatirameracetat und Dimethylfumarat seien die Schubrate und/oder die neuroradiologische Krankheitsaktivität unter Rituximab signifikant geringer gewesen, berichten Granqvist und sein Team. Auch habe sich eine leichte Überlegenheit des Wirkstoffes in Bezug auf die Schubrate gegenüber Fingolimod und Natalizumab abgezeichnet. Allerdings seien die Unterschiede hier nicht in allen Analysen statistisch signifikant gewesen.

 
Spannend wird nun vor allem die Frage sein, wie sich Rituximab nach der Zulassung von Ocrelizumab bewähren wird. Prof. Dr. Aiden Haghikia
 

Nebenwirkungen traten unter Rituximab nur selten auf

Darüber hinaus hat sich Rituximab, das ursprünglich ja für die Krebsimmuntherapie entwickelt wurde, in der schwedischen Studie auch bei den MS-Patienten als nebenwirkungsarm erwiesen. Leichtere Nebenwirkungen vom Grad 1 oder 2 seien unter den generell als sehr sicher geltenden injizierbaren Basismedikamenten sogar häufiger aufgetreten als unter dem Antikörper, berichten die Forscher um Granqvist. Die Rate mittlerer oder schwerer Begleiterscheinungen sei bei diesen Präparaten ähnlich gewesen.

Die Wissenschaftler schenkten auch regionalen Unterschieden Beachtung. Dabei stellte sich heraus, dass in der Provinz Västerbotten 81% der Probanden (42 von 52) Rituximab als First-Line-Therapie verordnet bekommen hatten, während es in Stockholm nur 18% (78 von 442) gewesen waren. Die jährliche Abbruchsrate der gewählten Therapieoption war daher in Västerbotten auch entsprechend niedriger als in der Hauptstadt: 9% gegenüber 37%.

Granqvist und seine Kollegen räumen ein, dass ihre Studie durchaus eine Reihe von Limitationen habe, etwa das nicht-randomisierte Design und die zum Teil kleinen Probandengruppen. Insgesamt zeigten ihre Ergebnisse aber, dass Rituximab eine geeignete Option sei, um Patienten mit einer neu diagnostizierten RRMS zu behandeln, schreiben sie.

Noch ist offen, ob Patienten künftig zwischen Rituximab und Ocrelizumab wählen können

Der Bochumer Experte Haghikia stimmt dieser Schlussfolgerung zu – wenngleich mit leichten Einschränkungen. „Als First-Line-Präparat sollte Rituximab MS-Patienten mit hochaktiven Verläufen vorbehalten bleiben“, sagt er. Für alle anderen Patienten gebe es moderatere Therapieoptionen, die seit vielen Jahren erfolgreich in der MS-Therapie eingesetzt würden.

„Spannend wird nun vor allem die Frage sein, wie sich Rituximab nach der Zulassung von Ocrelizumab bewähren wird“, sagt Haghikia. Er jedenfalls gehe davon aus, dass sicherlich nicht alle Patienten, die seit Jahren Rituximab off-label erhielten und sich hierunter stabilisiert hätten, auf das neue und teurere Präparat umgestellt werden wollten. Offen bleibe zudem, wie die Krankenkassen künftig reagieren würden.

 

REFERENZEN:

1. Granqvist M, et al: JAMA Neurol. (online) 8. Januar 2018

 

Kommentar

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