Barmer-Bericht zeigt große lokale Unterschiede bei Heil- und Hilfsmittel-Verordnungen – welche Erklärungen gibt es?

Christian Beneker

Interessenkonflikte

23. Januar 2018

Die Ausgaben für Heil- und Hilfsmittel für Barmer-Versicherte steigen steil an. Das geht aus dem jüngsten Heil- und Hilfsmittelbericht der Kasse hervor [1]. Auch andere Kassen bestätigen den Trend, zum Beispiel der AOK-Bundesverband.

Wie auch bei anderen medizinischen Leistungen zeigt die Studie zudem, dass Heil- und Hilfsmittel je nach Region sehr unterschiedlich häufig verordnet werden. Gründe dafür sind ebenso unklar wie die Frage, ob die damit ebenfalls steigenden Ausgaben auch größeren Nutzen für die Patienten nach sich ziehen.

Die Ausgaben für Heilmittel – also für Physiotherapie, Ergotherapie, Podologie und Logopädie – pro Barmer-Versicherten sind im Jahr 2016 um rund 3% gewachsen, so der Heil- und Hilfsmittelbericht 2017. Für Hilfsmittel wie Rollstühle oder Hörhilfen wurden 9% mehr ausgegeben als 2015.

„Dies entspricht einem Ausgabenzuwachs von rund 26 Millionen Euro für Heilmittel im Jahr 2016, beziehungsweise 84 Millionen Euro für Hilfsmittel im selben Jahr. Allein bei der Barmer haben die Gesamtausgaben für Hilfsmittel im Jahr 2016 erstmals die Schwelle von einer Milliarde Euro überschritten“, teilt die Barmer mit.

Im Jahr 2016 waren die Gesamtausgaben für die physiotherapeutische Behandlung, mit rund 74% der größte Brocken unter den Heilmitteln: 537 Millionen Euro. Die Ausgaben pro Versichertem verzeichnen dabei mit fast 5% pro Jahr einen konstanten Anstieg, hieß es in einer Pressemitteilung.

Starke Unterschiede in den verschiedenen Regionen

Was auffällt: Die Verordnungszahlen unterscheiden sich je nach Region zum Teil sehr stark. Das betrifft vor allem die Physiotherapie. Betrachtet man hier die Ausgaben pro Versichertem nach Bundesland, so reichte die Spannbreite 2016 von 50 Euro in Bremen bis zu 81 Euro in Sachsen und rund 82 Euro in Berlin.

 
Allein bei der Barmer haben die Gesamtausgaben für Hilfsmittel im Jahr 2016 erstmals die Schwelle von einer Milliarde Euro überschritten. Barmer
 

Die Steigerungsrate der Bundesländer ist ebenfalls sehr unterschiedlich. In manchen Bundesländern stiegen die Ausgaben in den Jahren 2014 bis 2016 nur um 3,7%, in anderen um 17%. „Dies ist besonders bemerkenswert, da die Barmer sowohl für die alten als auch für die neuen Bundesländer eigene, aber dort jeweils einheitliche Vergütungssätze zahlt“, heißt es in dem Bericht.

„Die regionalen Differenzen bei den Ausgaben sind derart groß, dass sie durch unterschiedliche Häufigkeit oder Schwere der Erkrankungen nicht zu erklären sind. Die Versorgung in den einzelnen Ländern fällt offenbar unabhängig von medizinischen Notwendigkeiten stark unterschiedlich aus“, sagt der Vorstandsvorsitzende der Barmer, Prof. Dr. Christoph Straub. Die Gründe für diese Entwicklung kenne auch die Barmer nicht, hieß es. Straub fordert dringend „weitere Untersuchungen“.

Auch bei Mandeloperationen regionale Unterschiede – bereits in den 1930er-Jahren in England

Dabei sei der Effekt lange bekannt, so Andrea Waltersbacher vom Wissenschaftlichen Institut der AOK (WidO). Erstmals wurde er in der 1930er-Jahren in England beschrieben. J. Alison Glover stellte fest, dass bei Grundschulkindern in verschiedenen Regionen unterschiedlich häufig die Mandeln entfernt wurden. Die jährliche Inzidenzrate für die Grundschulkinder in England und Wales betrug 1931 durchschnittlich 2,2%. Die regionalen Unterschiede waren aber erheblich.

So lag die Rate zum Beispiel im Ort Margate 8-mal so hoch wie in Ramsgate, in Enfield 6-mal so hoch wie in Wood Green und 4-mal so hoch wie in Finchley, einem Stadtteil Londons. Darüber hinaus stellte Glover fest, dass Jungen häufiger operiert werden als Mädchen und den Kindern wohlhabender Eltern 3-mal so oft die Mandeln entfernt wurden wie anderen Kindern. „Je glücklicher die Kinder in ihren Lebensumständen waren und je besser ihre Möglichkeiten der Selbstpflege, um so öfter wurden sie eine Tonsillektomie unterzogen“, schreibt Glover.

Schlüssige Gründe für diese Unterschiede konnte auch Glover nicht finden. Nur so viel: Offenbar gebe es eine Tendenz, „dass die Operation als routinemäßiges prophylaktisches Ritual ohne besonderen Grund und ohne bestimmtes Ergebnis durchgeführt wird“, schreibt Glover.

 
Die regionalen Differenzen bei den Ausgaben sind derart groß, dass sie durch unterschiedliche Häufigkeit oder Schwere der Erkrankungen nicht zu erklären sind. Prof. Dr. Christoph Straub
 

Lokale Gewohnheiten entscheiden über Menge der Verordnungen

Operationen ohne Grund? Den Effekt, der in England und bei den Barmer-Versicherten sichtbar wurde, zeigt auch der Bertelsmann Versorgungsatlas 2017 auf, und zwar etwa in Hinblick auf die regionale Verteilung von Rücken-Operationen:

„Im Landkreis Birkenfeld (Rheinland-Pfalz) kommen Patienten mit Rückenschmerzen etwa viermal häufiger ins Krankenhaus als in Ludwigsburg (Baden-Württemberg), Patienten aus Unna dreimal häufiger als in Ulm. In den Kreisen Fulda und Hersfeld-Rotenburg (beide Hessen) wird Patienten fünfmal häufiger die Wirbelsäule versteift als im Kreis Ravensburg (Baden-Württemberg) oder in Essen; im Vergleich zu Frankfurt (Oder) sogar 13-mal häufiger.“

Die Versorgungseffekte können sogar auf die Nachbarlandkreise abfärben, wie der Versorgungsatlas zeigt. Und über die Jahre nehmen die Unterschiede sogar noch zu.

Die Autoren führen die Unterschiede auf lokale Versorgungsmuster zurück, etwa die Verordnungsgewohnheiten von Ärzten in einer Region oder einem Landkreis – ähnlich, wie es Glover in England festgestellt hat. „Die Spielräume für lokale Besonderheiten sind umso größer, je unsicherer die Evidenzlage ist. Daraus entstehen lokale Versorgungsmuster: ‘surgical signatures‘“, so der Faktencheck zum Versorgungsatlas. Solche Gewohnheiten, also routinemäßige prophylaktische Rituale, konnten sich nur herausbilden, weil zum Beispiel klare Behandlungsleitlinien fehlen beziehungsweise nicht angewendet wurden.

Neben klaren Leitlinien könnten auch passende Versorgungsstrukturen helfen, Über- und Unterversorgung zu vermeiden. So hätten die allgemeinärztlichen Notfallpraxen an 30 Krankenhäusern in Schleswig-Holstein dazu geführt, dass in nahezu allen schleswig-holsteinischen Stadt- und Landkreisen die Aufnahmerate unter dem bundesweiten Durchschnitt liegt, wie die Analysen der Bertelsmann Stiftung zeigen.

Patienten mit Rückenschmerzen wurden kaum ins Krankenhaus aufgenommen. „Das Beispiel illustriert, wie die Potenziale zur Vermeidung stationärer Aufnahmen bei Patienten, die ebenso gut ambulant behandelt werden können, gehoben werden können.“ Dies dürfte auch für die regional sehr unterschiedliche Verordnungsmenge von Physiotherapie bei Barmer-Versicherten gelten.

 

REFERENZEN:

1. Grandt D, et al: BARMER Heil- und Hilfsmittelbericht 2017, November 2017

 

Kommentar

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