Die Deutschen spenden immer weniger Organe. Kurz nach dem Bekanntwerden der jüngsten Zahlen der Deutschen Stiftung Organtransplantation (DSO), twitterte der SPD-Gesundheitsexperte Prof. Dr. Karl Lauterbach: „Organspende niedrigste Rate. Brauchen Widerspruchslösung. Das System versagt. Zu viele unnötige Tote. Keine Ethik der Unverantwortlichkeit.“
Damit fordert er eine Lösung, wie sie in 22 Ländern Europas zum Teil schon lange üblich ist, darunter Frankreich, Schweden, Kroatien oder Österreich. Wer in diesen Ländern nicht ausdrücklich widerspricht, gilt als Organspender. Diese Regelung fordert Lauterbach jetzt auch für Deutschland.
Tatsächlich hat die DSO am Montag alarmierende Zahlen vorgelegt [1]: Danach ist im Jahr 2017 die Gesamtzahl der Organspender in Deutschland auf den historischen Tiefstwert von 797 Spendern gesunken. Seit 20 Jahren haben sich nicht so wenige Deutsche entschieden, ihre Organe zu spenden.
Zusammen spendeten sie im Jahr 2017 genau 2.594 Organe. Im Jahr 2016 waren es noch 857 Spender, die 2.867 Organe gespendet hatten. Damit ist die Zahl der hierzulande gespendeten Organe um 9,5% gesunken, so die Zahlen der DSO. Mehr als 10.000 Menschen in Deutschland warten auf ein Organ.
Muss Deutschland Eurotransplant verlassen?
Wegen der Spendenmüdigkeit beginnt offenbar, das Gleichgewicht zwischen Nehmen und Geben aus dem Lot zu geraten zwischen den Ländern, die sich der zentralen Organvergabe Eurotransplant im holländischen Leiden angeschlossen haben. Belgien, Deutschland, Kroatien, Luxemburg, Holland, Österreich, Ungarn und Slowenien sind unter dem Dach von Eurotransplant versammelt. Wenn irgendwo in diesen Ländern ein Organ gespendet wird, vermittelt es Eurotransplant nach 4 Kriterien an die passenden Empfänger:
nach dem erwarteten Erfolg nach der Transplantation,
nach der Dringlichkeit,
nach der Wartezeit des Patienten und
nach der nationalen Organaustauschbilanz.
Um den letzten Punkt dreht es sich: In Deutschland wurden 2017 genau 170 Organe mehr verpflanzt als gespendet wurden – und zwar 2.764. Zudem sank die Spenderzahl in Deutschland unter die Marke von 10 Spendern pro 1 Million Einwohner – so etwas wie die inoffizielle Untergrenze für die Länder, die bei Eurotransplant mitmachen wollen.
Deutschland kam 2017 laut DSO auf nur 9,7 Spender pro 1 Million Einwohner. Müsste Deutschland nun Eurotransplan verlassen? „Ein wesentlicher Aspekt der internationalen Kooperation im Eurotransplant-Verbund ist, dass jedes Mitgliedsland einen hinreichenden Beitrag zu der Gesamtzahl der Spender im Eurotransplant-Verbund leistet, damit der gerade für spezielle Patientengruppen – wie z.B. hochimmunisierte Patienten und Kinder – so wichtige Organaustausch zwischen den verschiedenen Eurotransplant-Ländern stattfinden kann“, sagt Dr. Axel Rahmel, Medizinischer Vorstand der DSO auf Anfrage.
Aber die absolute Zahl der Spender sei „weit höher als in allen anderen Eurotransplant-Ländern, und somit trägt Deutschland ganz entscheidend zur Erreichung der Ziele von Eurotransplant bei“, so Rahmel. Deutschland bleibe im Eurotransplant-Verbund ein „tragender Faktor“, hieß es.
Kurz: Weil das bevölkerungsreiche Deutschland in absoluten Zahlen sehr viele Organe spendet, weicht man von der Orientierung „10 zu 1 Million“ ab. Tatsächlich hat Deutschland im Jahr 2016 alleine 444 Organe und damit 15,5% aller Organe aus Deutschland an Patienten in anderen Ländern abgegeben, hieß es.
Die schiere Menge der Spender und der Empfänger ist also das Rückgrat von Eurotransplant. Denn je höher die Menge der Spender einerseits und die der potenziellen Empfänger andererseits, umso höher auch die Menge der Fälle, in denen Organ und Empfänger perfekt zueinander passen. Würde Deutschland Eurotransplant verlassen, würde die Menge dieser „perfect matches“ sinken – und das will niemand.
Mehr Wertschätzung für die Transplantationsbeauftragten
Um gleichwohl mehr Menschen in Deutschland von der Organspende zu überzeugen, fordert die DSO, die Transplantationsbeauftragten in den rund 1.250 Entnahmekliniken Deutschlands zu stärken, unter anderem durch die „Unterstützung und Wertschätzung“ der Klinikleitungen. Die Beauftragten sind das Bindeglied zwischen Krankenhaus und dem Patienten beziehungsweise seinen Angehörigen.
Nach Ansicht der DSO kann auch die Politik hier unterstützen, indem sie bundeseinheitlich Landesausführungsgesetze für Transplantationsbeauftragte schafft, erklärt Rahmel. Aber diese Landesausführungsgesetze zum Transplantationsgesetz seien in vielen Ländern nicht differenziert genug. So bleibe es schließlich den Kliniken überlassen, wie sie den Transplantationsbeauftragten einsetzen. Manche werden eingebunden und erhalten Fortbildungen und Unterstützung.
Einzig Bayern habe gezeigt, dass damit der Abwärtstrend bei den Spenden beeinflusst werden kann. „Bayern ist auch das Bundesland, das im zurückliegenden Jahr entgegen dem Bundestrend die deutlichste Steigerung der Organspende erzielen konnte“, so die DSO. In anderen Bundesländern dagegen bleiben die Landesausführungsgesetze undifferenzierter.
Die Wertschätzung der Organspende dürfte den Klinikleitungen schwer fallen, weil sie Geld kostet. Denn jeder Organspender braucht ein teures Intensivbett. „Für eine Multiorganentnahme erhalten die Krankenhäuser nur 5.000 Euro“, sagt Rahmel. Das Geld genügt oft nicht, um die Kosten zu decken.
Denn inzwischen hätten die Spender einen Altersdurchschnitt von 56 Jahren erreicht. Das heißt: Es müssen für den Empfängerschutz oft mehr Untersuchungen gemacht werden – und das kostet. „Es ist für die Krankenhäuser natürlich bitter, wenn sie bei einer Organentnahme noch drauflegen müssen“, so Rahmel. Kurz: Mehr Geld würde nicht schaden.
Die DSO glaubt also nicht, „dass die Widerspruchslösung allein das Allheilmittel für die Organspende-Misere in Deutschland ist und die Diskussion darüber von den anderen Problemen ablenken kann. Denn rund 80 Prozent der Bevölkerung stehen ohnedies hinter der Organspende, und 70 Prozent wären bereit, selber zu spenden“, sagt Rahmel.
Es brauche in der Bevölkerung und den Krankenhäusern eine Kultur der Organspende. Daran fehle es. „Gäbe es diese Kultur, wäre die Widerspruchslösung allerdings die logische Konsequenz“, so Rahmel.
„Was wir brauchen, ist ein Initiativplan, in dem alle Faktoren, die die Organspende positiv beeinflussen können, berücksichtigt werden. Die Diskussion um die Widerspruchslösung kann ein Teil davon sein.“
Widerstände gegen Widerspruchslösung
Der Bundestagsabgeordnete und Vorsitzende des Gesundheitsausschusses des Bundestags, Dr. Edgar Franke (SPD), argumentiert ähnlich. Er verweist auf das Beispiel Spanien. Dort liegen die Spenderzahlen europaweit am höchsten. Dort gelte zwar die Widerspruchslösung.
„Aber in Spanien haben die Transplantationsbeauftragten eigens eine Ausbildung durchlaufen“, sagt Franke. „Das zeigt, dass Zeit, Empathie und die Gabe, mit den Patienten und Angehörigen zu sprechen, fast entscheidender sind als eine Widerspruchslösung.“
Auch bei Eugen Brysch, Vorstand der Deutschen Stiftung Patientenschutz, findet die Widerspruchslösung keine Zustimmung. „Schweigen ist keine Zustimmung. Daher ist die Forderung einer Widerspruchslösung von Karl Lauterbach verfassungswidrig“, sagt Brysch. „Auch allein auf Transplantationsbeauftragte zu setzen, kann nicht die große Wende bringen. Denn die Beauftragten sind keine Werber, sondern dürfen lediglich informieren.“
Brysch will darum das komplette System der Transplantationen in Deutschland in die Hände des Staates legen. „Nur so wird für Gerechtigkeit gesorgt und Vertrauen gewonnen“, meint Brysch. „Aber dazu fehlt bislang der politische Wille.“
REFERENZEN:
1. Deutschen Stiftung Organtransplantation (DSO): Pressemitteilung, 15. Januar 2018
Medscape Nachrichten © 2018 WebMD, LLC
Diesen Artikel so zitieren: Trotz niedrigstem Stand der Organspenden seit 20 Jahren: Widerspruchslösung findet kaum Zustimmung - Medscape - 17. Jan 2018.
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