Streit vor Gericht: Dürfen Eltern ihrem gehörlosen Kind ein Cochlea-Implantat verweigern?

Christian Beneker

Interessenkonflikte

10. Januar 2018

Eine Zwangs-Operation für ein gehörloses Kind? Der Deutsche Gehörlosen-Bund sieht derzeit wegen eines Gerichtsverfahrens Anlass, die Kultur der Gehörlosen und vor allem die Gebärdensprache gegen die Befürworter von Cochlea-Implantaten zu verteidigen [1].

Grund des Protestes ist der Prozess gegen die Eltern eines gehörlosen anderthalbjährigen Jungen aus Goslar in Niedersachsen. Die – ebenfalls gehörlosen – Eltern wollen ihm nicht das ärztlich empfohlene Cochlea-Implantat (CI) einsetzen lassen, das ihn wahrscheinlich hörend machen könnte.

Nun klagt deswegen das Klinikum Braunschweig vor dem Familiengericht Goslar gegen das Elternpaar. Das Kindeswohl werde vernachlässigt, wenn die Eltern sich nicht für ein Implantat für ihr Kind entscheiden, so die Argumentation des Krankenhauses. Am Schluss könnte der Zwang zum Implantat stehen, befürchtet der Gehörlosen-Bund.

Das Kindeswohl gefährdet?

Nachdem die Eltern die vom Klinikum Braunschweig empfohlene CI-Behandlung abgelehnt hatten, schaltete das Klinikum einen Rechtsanwalt ein und ließ das Jugendamt benachrichtigen, so ein Fernsehbericht des Bayerischen Rundfunks.

Der Verdacht: Die Eltern vernachlässigten das Kindeswohl, weil sie ihrem Jungen eine medizinisch notwendige Behandlung verweigerten. Tatsächlich muss laut Gesetzgeber das Familiengericht einschreiten, wenn es das „körperliche, geistige oder seelische Wohl des Kindes oder sein Vermögen gefährdet“ sieht und die Eltern die Gefahr nicht abwenden können oder wollen (§1666 BGB).

Aus Sicht des Elternpaares ist ihr Kind aber weder behindert noch krank. Das Jugendamt greife deshalb mit seinem Schritt in das verfassungsmäßige Elternrecht ein, aus eigener Erwägung das Richtige zu tun, erklärt der Rechtsanwalt des Elternpaares, Alexander Lawin, in dem Fernsehbericht.

Gegenüber Medscape wollten sich Lawin ebenso wie das Familiengericht und das Klinikum nicht zu dem Verfahren äußern. Ob also der gehörlose Junge wirklich vernachlässigt wird, wenn man ihm das CI vorenthält, ist nun die Frage, die die Familienrichter zu beantworten haben.

Ethische Aspekte

Neben der juristischen Seite hat die Sache auch eine ethische. Nach Angaben des Deutschen Gehörlosen-Bundes leben hierzulande rund 80.000 Gehörlose. In Deutschland werden nach Angaben von Prof. Dr. Thomas Lenarz, Direktor der HNO-Klinik an der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH), „jährlich rund 4.000 Cochlea-Implantate eingesetzt, etwa ein Drittel davon bei Kindern“, so Lenarz. An der MHH wurden 2017 genau 558 Implantate operiert, etwa 100 an Kindern.

Für den Medizinethiker Prof. Dr. Urban Wiesing von der Universität Tübingen zählt bei den gehörlosen Kindern, die ein CI erhalten, auch der Umstand, dass sie damit größere Möglichkeiten erhalten als nicht operierte. „Eltern sollten ihren Kindern Möglichkeiten eröffnen und nicht verschließen“, sagt Wiesing.

 
Eltern sollten ihren Kindern Möglichkeiten eröffnen und nicht verschließen. Prof. Dr. Urban Wiesing
 

Deshalb plädiert Wiesing im vorliegenden Fall tendenziell für ein Cochlea-Implantat, weil es dem Kind ermöglicht, an der Welt der Hörenden teilzunehmen. „Man kann die Gebärdensprache doch als Kultur akzeptieren – aber warum ausschließlich?“, fragt Wiesing.

Auch Dr. Barbara Eßer-Leyding, Leiterin des Cochlear Implant Centrum Wilhelm Hirte in Hannover, das die Nachbetreuung von implantierten Patienten übernimmt, befürwortet die Zweisprachigkeit aus sichtbarer und hörbarer Sprache. „Ein Implantat muss die Kinder nicht aus der Community der Gehörlosen entfremden“, sagt Eßer-Leyding zu Medscape. „Für Elternpaare, die vor der Entscheidung stehen, ob sie einem Implantat zustimmen oder nicht, sollten sich vorher mit anderen Eltern treffen, die bei ihren Kinder ein Implantat haben operieren lassen.“

Gehörlosigkeit etwas „Auszumerzendes“?

Allerdings rührt der Konflikt an weit grundsätzlichere Aspekte. „Medizinethisch gesehen stellt sich hier die Frage, was pathologisch ist und was Vielfalt“, erklärt Wiesing. In vielen Bereichen habe sich die Gesellschaft entschieden, quasi neue Schubladen zu öffnen und einst Abweichendes als eigene Lebensform zu akzeptieren.

 
Ein Implantat muss die Kinder nicht aus der Community der Gehörlosen entfremden. Dr. Barbara Eßer-Leyding
 

So verstehen Menschen mit Down-Syndrom es längst als ihre eigene Form der Gesundheit. Und erst kürzlich hat das Bundesverfassungsgericht einer intersexuellen Klägerin das Recht zugesprochen, sich mit einem dritten Geschlecht in das Geburtsregister eintragen zu lassen. „Wir akzeptieren das inzwischen“, sagt Wiesing.

Aus Sicht des Gehörlosen-Bundes ist die Sache in Hinblick auf das Kind aus Goslar und seiner Eltern gar nicht so klar. Die Betroffenen vermissen, dass die Kultur der Gehörlosen inklusive ihrer Gebärdensprache akzeptiert wird, wie der Gehörlosen-Bund erklärt. Das ausschließliche Sich-Verlassen auf besseres Hören durch ein Implantat störe letztlich die bilinguale Sprachentwicklung und lasse die positiven Aspekte des Lebens Gehörloser außer Acht, heißt es in der Erklärung des Gehörlosen-Bundes zum Fall in Goslar.

Für eine bilinguale Sprachentwicklung sind aus Sicht des Bundes die Schriftsprache plus Gebärdensprache und im Zweifel ein Hörgerät die Mittel der Wahl. „Dazu muss angemerkt werden, dass die meisten im Rahmen der Implantationen Tätigen keine oder nur sehr wenige Informationen über die Gehörlosen-/Gebärdensprachgemeinschaft und kaum Erfahrungen mit diesen haben. Diese sehen in der Gehörlosigkeit nicht selten etwas Negatives und Auszumerzendes“, kritisiert der Verband. Kurz: Was als eigene Lebensform gelten könnte, werde pathologisiert.

 
Medizinethisch gesehen stellt sich hier die Frage, was pathologisch ist und was Vielfalt. Prof. Dr. Urban Wiesing
 

Der Verband fürchtet „längst überwunden geglaubte behindertenfeindliche Tendenzen“ und sieht die Gehörlosen als solche angegriffen. „Daher sollte vor einer abschließenden Beurteilung, neben anderen, auch die Frage stehen, ob das Bestreben einer Implantation gegen den Elternwillen auch erfolgen würde, wenn die betroffenen Eltern hörend wären“, heißt es in der Verbandsstellungnahme.

Nun muss das Familiengericht in Goslar entscheiden. Die Sache eilt. „Denn die Hörbahnen beim Kind reifen in den ersten 2 Jahren“, sagt Barbara Eßer-Leyding. „Wenn sich die Eltern gegebenenfalls jetzt gegen ein Cochlea-Implantat entscheiden, dann ist das eine Entscheidung für immer.“



REFERENZEN:

1. Deutscher Gehörlosen-Bund e.V.: Stellungnahme 02/2017, 17. November 2017

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