Schlaganfall: Das Zeitfenster für eine Thrombektomie ist bei einigen Patienten viel länger als angenommen

Nadine Eckert

Interessenkonflikte

9. Januar 2018

Das Zeitfenster für eine Thrombektomie ist nach einem akuten Schlaganfall offenbar doch länger als bislang angenommen – zumindest bei Patienten mit noch zu rettendem Hirngewebe. In der DAWN-Studie war die Entfernung des Thrombus noch bis zu 24 Stunden nach Beginn der klinischen Symptomatik wirksam, wenn die Bildgebung ischämische, aber noch nicht infarzierte Bereiche im Gehirn zeigte. Die Studie ist nun aktuell im New England Journal of Medicine publiziert [1].

Alle randomisierten Studien zur mechanischen Thrombektomie nach akutem Schlaganfall belegten deren Nutzen bisher nur für einen Zeitraum von höchstens 6 bis 8 Stunden nach Symptombeginn.

Berücksichtigung physiologischer Kriterien

„Die Botschaft unserer Studie ist, dass die Auswahl für eine endovaskuläre Therapie beim akuten ischämischen Schlaganfall nicht allein auf Grundlage der verstrichenen Zeit erfolgen sollte. Auch physiologische Kriterien müssen berücksichtigt werden“, resümiert Seniorautor Prof. Dr. Tudor Jovin vom University of Pittsburgh Medical Center Stroke Institute gegenüber Medscape.

 
Die Botschaft unserer Studie ist, dass die Auswahl für eine endovaskuläre Therapie beim akuten ischämischen Schlaganfall nicht allein auf Grundlage der verstrichenen Zeit erfolgen sollte. Prof. Dr. Tudor Jovin
 

In die DAWN-Studie wurden Schlaganfallpatienten aufgenommen, die zuletzt vor 6 bis 24 Stunden – im Mittel waren es 13 Stunden – gesund gesehen worden waren. Wurde zusätzlich zur Standardbehandlung eine Thrombektomie durchgeführt, schnitten sie sowohl was den Behinderungsgrad angeht als auch hinsichtlich der funktionellen Unabhängigkeit nach 3 Monaten signifikant besser ab als die Kontrollgruppe.

Ursprünglich war die Studie mit 500 Patienten geplant. Sie wurde aber nach eindeutig positiven Ergebnissen zugunsten der Thrombektomie nach Einschluss von 206 Patienten abgebrochen.

Weniger Behinderung, mehr funktionelle Unabhängigkeit

Zur Beurteilung des Behinderungsgrades wurde eine modifizierte Rankin-Skala eingesetzt, die von 0 (Tod) bis 10 (keine Symptome) reicht. In der Thrombektomie-Gruppe lag der Behinderungsgrad nach 90 Tagen bei 5,5, in der Kontrollgruppe bei 3,4. In der Thrombektomie-Gruppe erreichten außerdem mehr Patienten innerhalb von 3 Monaten nach dem Schlaganfall funktionelle Unabhängigkeit: 49% verglichen mit 13% in der Kontrollgruppe.

Die Rate an symptomatischen Hirnblutungen sowie die 90-Tage-Mortalitätsrate unterschieden sich nicht zwischen den beiden Gruppen.

„Gewebefenster“ ebenbürtig

Die Rate von 49% funktioneller Unabhängigkeit nach 3 Monaten in DAWN entspricht dem, was in randomisierten Studien mit Thrombektomie innerhalb von 6 Stunden gefunden wurde. Daraus lasse sich ableiten, dass „die Verwendung eines ‚Gewebefensters‘ bei der Auswahl von Patienten für eine Thrombektomie ebenso gut ist wie die Verwendung eines Zeitfensters“, schreibt der Heidelberger Neurologe und Schlaganfallspezialist Prof. Dr. Werner Hacke in einem begleitenden Editorial [2].

Wer genau sind nun diese Patienten, die von einer späten Thrombektomie profitieren? In die DAWN-Studie wurden Patienten aufgenommen, bei denen seit Symptombeginn mehr als 6 Stunden vergangen waren und bei denen noch rettbares Hirngewebe identifiziert wurde – basierend auf einem Mismatch zwischen klinischem Defizit und Infarktkern laut Bildgebung.

 
Die Verwendung eines ‚Gewebefensters‘ ist bei der Auswahl von Patienten für eine Thrombektomie ebenso gut wie die Verwendung eines Zeitfensters. Prof. Dr. Werner Hacke
 

„Das Mismatch-Prinzip ist einfach“, erklärt Jovin. „Wenn ein Gefäß im Gehirn verstopft ist, stirbt zunächst ein kleines Hirnareal ab – der Infarktkern. Ein größeres Gebiet, welches von diesem Gefäß versorgt wird, ist gefährdet – die Penumbra. Die Penumbra wird – unbehandelt – letztlich auch absterben, kann aber noch mehrere Stunden überleben, wenn die Durchblutung in der Umgebung gut ist.“

Mismatch: Große Symptome, kleiner Infarkt

Für die Studie definierten die Wissenschaftler einen Mismatch so: Die Patienten wiesen Symptome eines schweren Schlaganfalles auf, was darauf hindeutet, dass eine große Menge Hirngewebe nicht mehr richtig funktioniert. Doch in der Bildgebung zeigte sich dennoch nur ein kleiner Infarktkern, also nur eine kleine Menge tatsächlich abgestorbenes Hirngewebe.

„Anfangs weisen alle Patienten ein solches Mismatch auf“, erklärt Jovin. Doch bei den meisten Patienten sterbe das gesamte Gebiet innerhalb von 6 Stunden ab. Doch einige Patienten hätten auch viele Stunden nach Symptombeginn noch lebensfähiges Hirngewebe im betroffenen Bereich.

„Es hängt alles von den physiologischen Gegebenheiten ab“, erklärt Erstautor Dr. Raul Nogueira vom Marcus Stroke & Neuroscience Center am Grady Memorial Hospital in Atlanta, im Gespräch mit Medscape. „Wie gut kann der Blutfluss im benachbarten Hirngewebe die Ischämie kompensieren? Eine gute Durchblutung in der Umgebung verschafft Zeit für die Behandlung.“

Zeitfaktor bleibt essenziell

Die Ergebnisse der DAWN-Studie werden die Zahl der Patienten, die nach einem Schlaganfall für eine Thrombektomie in Frage kommen, erhöhen. Die Autoren schätzen, dass etwa ein Drittel der Patienten mit Verschluss eines proximal-anterioren Hirngefäßes, die innerhalb von 6 bis 24 Stunden nach Symptombeginn einer Behandlung zugeführt werden, die Eignungskriterien erfüllen.

 
Eine gute Durchblutung in der Umgebung verschafft Zeit für die Behandlung. Dr. Raul Nogueira
 

Schlaganfallspezialist Hacke warnt allerdings davor, die DAWN-Ergebnisse als Grund für eine allgemeine Liberalisierung des Zeitfensters für eine Thrombektomie oder Thrombolyse anzusehen. „Die Zeit vom Symptombeginn bis zur Behandlung so kurz wie möglich zu halten, bleibt weiterhin essenziell und verspricht die besten Ergebnisse.“



REFERENZEN:

1. Nogueira R, et al: NEJM 2018;378:11-21

2. Hacke W: NEJM 2018;378:81-83

Kommentar

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