Schon lange unterscheiden Onkologen anhand von Biomarkern Untergruppen innerhalb bestimmter Krebserkrankungen. Dabei werden pathologische Prozesse, Symptome, Histologien oder molekulare Merkmale herangezogen, um die Tumore in Gruppen einzuordnen. Meist dient dies dazu, das Ansprechen auf verschiedene Therapieformen für den jeweiligen Patienten vorauszusagen und die Behandlung mit der größtmöglichen Erfolgswahrscheinlichkeit zu wählen. Ein Beispiel ist die seit Jahrzehnten übliche Unterteilung bei Brustkrebs anhand des Hormonrezeptor-Status in Subtypen, die unterschiedlich auf endokrine Therapie reagieren.
Heute sind Biomarker im klinischen Alltag allgegenwärtig und zu einem Teil der gewohnten Diagnostikroutine geworden. Doch das Ende dieser Entwicklung ist bei weitem noch nicht erreicht. In den USA erfolgte am 23. Mai 2017 die erste Lokalisations-unabhängige Zulassung eines Krebsmedikamentes durch die FDA (Food and Drug Administration):
Das Immuntherapeutikum Pembrolizumab, ein PD1(Programmed Death 1)-Inhibitor, darf dort nun unabhängig von der Lokalisation eines Tumors oder seiner Histologie für die Behandlung adulter wie pädiatrischer solider Tumore eingesetzt werden – vorausgesetzt, diese sind Mikrosatelliten-instabil (MSI) oder Mismatch-Repair-defizient (dMMR) und zudem nicht resektierbar oder metastasierend.
Pembrolizumab wurde bereits in mehreren MSI/dMMR-spezifischen Therapien für das kolorektale Karzinom zugelassen und erprobt. Anstelle nun für jede weitere Krebserkrankung einzelne kosten- und zeitintensive Zulassungsverfahren zu fordern, basiert die neuartige Zulassung des PD1-Inhibitors allein auf dem Biomarker des MSI/dMMR-Phänotyps.
Lokalisations-unabhängige Studien auch in Deutschland

Prof. Dr. Christof von Kalle
Der Trend, sich in der Onkologie nicht mehr an den Gewebsursprung zu binden, sondern Tumorklassen über verschiedene Organe hinweg zu betrachten, ist auch in Deutschland zu erkennen. „Auch bei uns gibt es bereits vielfältige klinische Studien, bei denen die Patienten eher anhand von spezifischen Biomarkern als anhand der Lokalisation ihrer Tumoren ausgewählt werden“, bestätigt Prof. Dr. Christof von Kalle, Direktor des Nationalen Centrums für Tumorerkrankungen (NCT) in Heidelberg.
„Beispiele sind etwa die pädiatrische INFORM-Studie oder das MASTER-Programm am NCT, sowie die sogenannten ‚Basket‘-Studien. Programme dieser Art eignen sich besonders für seltene Tumorarten oder solche, bei denen alternative Therapiemöglichkeiten fehlen. Auf dem Weg zu einer personalisierten Medizin werden Lokalisations-unabhängige Zulassungen wie die der FDA für Pembrolizumab nötig sein“, ergänzt von Kalle.
Ein gewebeübergreifendes Krankheitsbild
Der erfolgreiche gewebeübergreifende Einsatz von Medikamenten setzt natürlich ein entsprechend allgemeingültiges Krankheitsbild voraus. Im Falle der MSI/dMMR-Tumore ist diese Voraussetzung erfüllt: Mutationen in DNA Reparatur-Genen führen zu einer Akkumulation von Tausenden an Mutationen in den Krebszellen.
Sind die DNA-Reparatur-Gene bereits in der Keimbahn defekt, wird die Krankheit auch als „Lynch-Syndrom“ bezeichnet, doch die Mutationen können auch nur in den Krebszellen vorliegen. Die hohe Mutationsrate führt dazu, dass in den Krebszellen vermehrt Neoantigene entstehen – veränderte Protein-Epitope, die vom Immunsystem als fremd erkannt werden können. Entsprechend weisen MSI-Tumore üblicherweise eine hohe Lymphozyten-Infiltration auf.
Um dem Immunsystem zu entgehen, sind in MSI-Tumoren typischerweise Immun-Checkpoints aktiviert, wie PD-1 (in T-Zellen) und PD-L1 (programmed death ligand-1) in den Tumorzellen. Durch die PD1/PD-L1-Signale wird der apoptotische Zelltod in den T-Zellen ausgelöst, der Tumor unterdrückt damit die Immunantwort.
Eine Blockade der PD1-Signalkaskade durch Antikörper wie Pembrolizumab führt dazu, dass die Tumoren wieder anfällig für die Reaktion des Immunsystems werden. Die MSI-Tumore verschiedenen Gewebeursprungs teilen dabei die typischen Charakteristika wie Hypermutation, hohe Neoantigen-Präsentation und vermehrte Lymphozyten-Infiltration.
Zulassung von Pembrolizumab: Lokalisations-unabhängig und Biomarker-basiert
Die neuartige Pembrolizumab Zulassung in den USA basiert auf Daten von 149 Patienten mit MSI/dMMR-Tumoren aus 5 Multicenter Einzelgruppen-Studien, davon 90 kolorektale Karzinome und 59 andere Tumore, z.B. des Endometriums, der Galle oder des Pankreas. Die Ansprechraten auf die Pembrolizumab Behandlung waren dabei ähnlich gut bei den kolorektalen und den sonstigen Tumoren. Das Krankheitsprofil erscheine damit geeignet für eine Lokalisations-unabhängige, Biomarker-basierte Therapie, meint die FDA.
„Eine ähnlich weitgefasste Zulassung von Pembrolizumab ist in Zukunft auch bei uns prinzipiell vorstellbar, europäische Behörden denken bereits intensiv über solche Lösungen nach“, erklärt von Kalle. „Natürlich gilt es dabei auch mögliche Risiken für die Patienten abzuwägen. Das Beispiel der neuen US-Zulassung könnte dabei möglicherweise zur Orientierung dienen.“
Mögliche Schwachpunkte der Zulassung
Die beschleunigte Pembrolizumab-Zulassung der FDA auf MSI/dMMR-Basis wird damit begründet, dass es hier einen ungedeckten klinischen Bedarf gebe. Ausschlaggebend war wohl auch die Tatsache, dass das Medikament bereits Zulassungen in 5 verschiedenen Krebsarten hat, teilweise auf der Grundlage randomisierter Studien. Umfassende Informationen zur Wirksamkeit und Sicherheit des Medikaments, auch z.B. bei Kindern, lagen bereits vor.
In ihrem im New England Journal of Medicine (NEJM) veröffentlichten Bericht über die neuartige Zulassung weisen die FDA-Mitarbeiter Dr. Steven Lemery und seine Kollegen unter anderem auch auf mögliche noch offene Schwachpunkte bei der beschleunigten Zulassung hin [1]. Eine Unzulänglichkeit sehen sie z.B. darin, dass zum Zeitpunkt der Zulassung kein standardisierter, FDA-zugelassener Test auf MSI/dMMR existierte. Für die Erhebung der Daten, auf denen die Zulassung basiert, wurde der MSI-Phänotyp zum Großteil mittels lokal etablierter Tests bestimmt.
Das Unternehmen Merck verpflichtete sich allerdings nach der Zulassung dazu, einen entsprechenden Test zu entwickeln. Und seit Mitte November hat auch ein immun-histochemisches Testpanel von Roche (das „VENTANA MMR IHC Panel1“) eine FDA-Zulassung.
Von Kalle vom NCT sieht in der Anwendung lokaler Labortests jedoch kein Hindernis. „Die Umsetzung standardisierter Tests in der Fläche fehlt teils noch“, gibt er zu. „Allerdings gehört es ja zur Aufgabe der Pathologen, selbst diagnostische Tests zu entwickeln und anzuwenden. Solange ein ungedeckter klinischer Bedarf besteht, sind lokale Tests durchaus akzeptabel.“
Gekoppelt an die beschleunigte Zulassung forderte die FDA zusätzliche Studien in verschiedenen Tumorarten, allerdings aufgrund der eher geringen Inzidenz dieser Tumorarten in einem nicht-randomisierten Rahmen. Obwohl der Anteil der MSI-Tumore beim kolorektalen Karzinom insgesamt bei etwa 20% liegt, beträgt er unter den metastasierenden Fällen nur 5%. Bei den meisten anderen Tumorarten beträgt der Anteil der MSI-Fälle generell nur etwa 5%, bei seltenen Krebserkrankungen sind randomisierte Studien daher kaum möglich.
Von Kalle gibt aber zu bedenken: „Bei wirksamen Substanzen kann man nicht immer nur randomisierte Studien fordern und auf Effekte im Gesamtüberleben warten. Wenn eine Therapie effizient ist, dann dauert es sonst sehr lange, bis man überhaupt Ergebnisse erhält. Ich halte es im Fall seltener Erkrankungen für notwendig, auch nicht-randomisierte Studien an erfolgversprechenden Medikamenten durchzuführen mit kürzeren Beobachtungszeiträumen im Bereich von mehreren Monaten.“
Exom-Sequenzierungen zur Patienten-Stratifizierung
Natürlich eignet sich nicht jeder Biomarker für eine solche organübergreifende Strategie. Wie die Autoren einer wissenschaftlichen Arbeit aus dem Jahr 2015 berichten, sind BRAF- und MEK-Inhibitoren beispielsweise einzeln oder in Kombination bei Darmkrebs unwirksam, wohingegen sie bei Melanomen oder Lungenkrebsarten mit ähnlichen Mutationen Wirkung zeigen. Die meisten Gewebe-übergreifenden Strategien am NCT, inklusive der INFORM- und MASTER-Programme, wenden zur Patienten-Stratifizierung anstelle eines klassischen Biomarkers Hochdurchsatz-Sequenzierungen an (Next Generation Sequencing, NGS; meist Exom-Sequenzierung).
„Die Exom-Sequenzierung ist unsere Methodik der Wahl. Sie hat vor allem Vorteile, wenn nur begrenzte Mengen an DNA-Patientenmaterial vorliegen. Aus derselben DNA-Menge können wir dann anstatt eines PCR-Tests ein komplettes Exom analysieren und erhalten Informationen über tausende Gene. Man ist außerdem nicht durch eine bestimmte Erwartungshaltung limitiert und erhält manchmal auch unerwartete, wertvolle Informationen“, erklärt von Kalle.
Anhand der so gefundenen Mutationsprofile können die Patienten am NCT mit ihrem behandelnden Arzt eine personalisierte Therapie wählen, oder in sogenannte Basket-Studien aufgenommen werden, die genau darauf abzielen, molekular ähnliche Krankheiten trotz unterschiedlicher Lokalisation mit einer auf das Mutationsprofil abgestimmten Therapie zu behandeln.
Probleme sieht von Kalle allerdings noch im Bereich der Daten- und Informations-Infrastruktur. „Der Patient weiß im Moment oft nicht, welche Daten wo über ihn gespeichert sind. Wir arbeiten zurzeit daran, einen patientenbezogenen Datenraum zu schaffen, der es den Patienten ermöglicht, ihre ausgewerteten Sequenzdaten später zu ihrem Facharzt mitzunehmen.“
Biomarker-Entwicklung in Akademie und Pharmaindustrie
Doch nicht nur für den klinischen Bereich, sondern auch für zukünftige Entwicklungen in der Pharmaindustrie sehen die Autoren des NEJM-Artikels Konsequenzen aus der ersten Biomarker-basierten Zulassung: „Die Etablierung neuer Biomarker, die das Krankheitsbild definieren können, erfordern möglicherweise einen kollaborativeren Ansatz als die konventionelle Medikamenten-Entwicklung“, schreiben sie.
Einige Unternehmen haben dies laut von Kalle bereits verstanden: „Das liegt ja auch im Interesse der Unternehmen, denn wenn eine Therapie etwa nur bei 5% der Patienten wirkt, und kein messbarer Effekt im Gesamtüberleben sichtbar ist, ist ihr Medikament in der Studie gescheitert. Manche Unternehmen betreiben daher selbst Biomarker-Entwicklung und quasi-akademische Forschung.“
Checkpoint-Inhibitoren wie Pembrolizumab sieht er als ein gutes Beispiel des erfolgreichen Zusammenspiels akademischer Forschung und unternehmerischer Beteiligung. „Die Idee der Immuncheckpoint-Inhibition stammt ursprünglich zwar aus den Universitäten. Während die Forscher das Thema dann aber gar nicht mehr so recht auf dem Schirm hatten, hat die Pharmaindustrie die Substanzen dafür entwickelt, die nun eine Anwendung ermöglichen. Und heute ist die Checkpoint-Blockade wieder überall ein großes Thema.“
REFERENZEN:
1. Lemery S, et al: NEJM 2017; 377:1409-1412
Medscape Nachrichten © 2018 WebMD, LLC
Diesen Artikel so zitieren: Neuer Ansatz bei Krebs: Wenn nur noch der Biomarker und nicht mehr die Tumorlokalisation die Indikation bestimmt - Medscape - 3. Jan 2018.
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