Der tragische Fall in Kandel, wo ein angeblich 15-jähriger afghanischer Flüchtling an Weihnachten seine Ex-Freundin erstochen hat, hat die Debatte um eine medizinische Altersprüfung minderjähriger Flüchtlinge erneut vehement entfacht. Bayerns Innenminister Joachim Herrmann kündigte in verschiedenen Medien an, die Umsetzung einer allgemeinen Prüfung der Altersangaben von angeblich minderjährigen Flüchtlingen voranzutreiben.
Viele Fachorganisationen sind allerdings anderer Ansicht: Keine medizinische Überprüfung der Altersangaben von geflüchteten Minderjährigen – das fordern Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges (IPPNW), der Bundesfachverband unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge (BumF), das Deutsche Kinderhilfswerk (DKHW) und letztlich auch die Zentrale Ethikkommission bei der Bundesärztekammer (ZEKO) [1].
Die CDU-Bundestagsfraktion hatte schon vor dem Fall in Kandel das Problem der unbegleiteten minderjährigen Ausländer (UMA) kürzlich erneut aufgeworfen und Standards für die Altersfeststellung gefordert. Ihr Verdacht: Junge Leute unter den Flüchtlingen, die längst volljährig sind, machen sich ohne ihre Pässe jünger als sie sind.
„Das ist nicht nur kostenintensiv, sondern bindet auch Kapazitäten der Jugendhilfe, die für wirklich Hilfsbedürftige dann nicht mehr zur Verfügung stehen“, erklärt die stellvertretende Fraktionsvorsitzende der CDU/ CDU im Bundestag, Nadine Schön .
„Wir brauchen bundeseinheitliche Standards für die Altersfeststellung von jugendlichen Ausländern, die ohne Papiere nach Deutschland einreisen“, so Schön. Betreuung durch die Kinder- und Jugendhilfe dürfe nur tatsächlich Schutzbedürftigen zukommen – im Bedarfsfall auch jungen Volljährigen bis 21 Jahren, betont die Politikerin.
„Es ist aber nicht länger hinnehmbar, dass durch die laxe Handhabung vieler Jugendämter nach Schätzungen von Experten mindestens ein Drittel bis zur Hälfte der in Obhut genommenen Jugendlichen deutlich älter ist – eine große Anzahl sogar Mitte zwanzig.“
Schön verwies auf die Praxis etwa in Schweden oder Österreich, wo die medizinische Überprüfung des Lebensalters üblich sei. Möglich wären neben der körperlichen Untersuchung auch Röntgenaufnahmen der Handwurzel, der Zähne oder des Schlüsselbeins.
Es kommen immer weniger unbegleitete minderjährige Flüchtlinge
In der Tat kommen zwar viele Minderjährige allein nach Deutschland, aber ihre Zahl schrumpft. Nach Angaben des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF) sind im Jahr 2017 bis Ende Oktober genau 8.107 unbegleitete minderjährige Flüchtlinge nach Deutschland gekommen – und damit deutlich weniger als in den Jahren zuvor. 2016 waren es fast 36.000 und im Jahr 2015 rund 22.300.
„Zum Stichtag 19.12.2017 befanden sich noch 54.930 unbegleitete Minderjährige sowie junge Volljährige, die unbegleitet als Minderjährige eingereist waren, in der Zuständigkeit der Kinder- und Jugendhilfe“, erklärt das Bundesfamilienministerium auf Anfrage. In den Jahren 2015 und 2016 waren Afghanistan, Syrien, Eritrea und Irak die Hauptherkunftsländer, im Jahr 2017 – nach den bis Juni vorliegenden Daten – Afghanistan, Eritrea, Somalia und Guinea.
Für die Altersfeststellungen dieser jungen Leute sind die rund 600 Jugendämter in den Ländern zuständig. Wenn etwa die Bundespolizei unbegleitete – vermeintlich – Minderjährige aufgreift, verständigen die Beamten das zuständige Jugendamt, das die Minderjährigen zunächst vorläufig in Obhut nimmt und das Alter feststellt.
Diese Altersfeststellung habe auf der Grundlage von Standards zu erfolgen, wie sie zum Beispiel die Bundesarbeitsgemeinschaft der Landesjugendämter in ihren „Handlungsempfehlungen zum Umgang mit unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen“ auf ihrer 116. Arbeitstagung im Mai 2014 beschlossen hat, so das Bundesfamilienministerium auf Anfrage von Medscape. Dies sind unter anderem:
das Vier-Augen-Prinzip,
die Anwesenheit von Dolmetschern,
Zeugenanhörungen,
die Anhörung von Sachverständigen,
Dokumente, Urkunden und Akten.
Tatsächlich verfahren die Jugendämter aber sehr unterschiedlich. Manche glauben schlicht den Angaben der Jugendlichen, andere schicken die Minderjährigen zur medizinischen Altersfeststellung, heißt es in der ZEKO-Stellungnahme. Im Zweifel kann von Amts wegen oder auf Antrag des Flüchtlings angeordnet werden, das Alter durch einen Arzt festzustellen. So sieht es der § 42f SGB VIII vor – „behördliches Verfahren zur Altersfeststellung“.
Klare Daten, wie oft und wo der Paragraf angewandt wird, gibt es aber nicht. „Es liegen uns hierzu keine bundesweit belastbaren Fallzahlen differenziert nach den zur Anwendung kommenden Verfahrensweisen vor“, schreibt das Bundesfamilienministerium.
An dieser Stelle fordert die CDU/ CSU-Bundestagsfraktion eine einheitliche Regel. „Wenn durch bloße Inaugenscheinnahme eines unbegleiteten jugendlichen Ausländers durch Behördenmitarbeiter nicht zweifelsfrei festgestellt werden kann, ob er noch minderjährig ist, sollten zwingend Mediziner zur Begutachtung hinzugezogen werden“, schreibt die Fraktionsvorsitzende Schön. „Lässt sich auch durch die ärztliche Begutachtung der körperlichen Reife das Alter nicht eindeutig ermitteln, dürfen Röntgenuntersuchungen der Handknochen, des Schlüsselbeins oder der Zähne kein Tabu sein.“
Fachverbände kritisieren die CDU/CSU-Forderung
Die Forderung nach medizinischer Altersfeststellung bei – vermeintlich – Minderjährigen trifft auf ein geteiltes Echo. Fachverbände wie der BumF widersprechen vehement, weil das Alter eines Jugendlichen medizinisch schlicht nicht zu erkennen sei. Auch die Jugendämter sehen das so. „Die Medizin ist nicht in der Lage, das Alter ‚festzustellen‘. Expert/innen sind sich einig, dass nur eine grobe Schätzung mit einer Streubreite von mehreren Jahren möglich ist“, so die Stellungnahme des BumF, der IPPNW und des DKHW.
Abgesehen von den ungenauen Ergebnissen einer medizinischen Untersuchung sei die Untersuchung auch ethisch fragwürdig, so die Stellungnahme der ZEKO. Etwa dann, wenn die Jugendlichen ohne medizinischen Grund Röntgenstrahlung ausgesetzt würden.
So empfehlen die Autoren der ZEKO, bis auf weiteres Röntgen- und Genitaluntersuchungen zum Zwecke der Altersschätzung abzulehnen. Zunächst sollte sozialpädagogisch versucht werden, das Alter einzuschätzen. „Eine medizinische Untersuchung sollte nur in besonderen Ausnahmefällen auf Antrag des Flüchtlings oder – bei Verdacht auf Missbrauch – auf gerichtliche Anordnung vorgenommen werden“, so die ZEKO.
Gerichtsmediziner sehen keine Probleme
In Hamburg sei solche Praxis seit 20 Jahren gang und gäbe, sagt der Hamburger Gerichtsmediziner Prof. Dr. Klaus Püschel zu Medscape. Püschel ist auch Mitglied der Arbeitsgemeinschaft forensischer Altersdiagnostik (AGFAD).
„Es gibt wissenschaftlich ausreichend abgesicherte und objektivierbare Untersuchungsmethoden, die sich auf das Röntgen des Handskeletts, der Zähne und Kiefer und des Gelenkes zwischen Schlüsselbein und Brustbein beziehen“, so Püschel. Die AGFAD habe entsprechende standardisierte Verfahren für diese Untersuchung festgelegt.
Der Gerichtsmediziner sieht in den Untersuchungen auch kein ethisches Problem. „Ich sehe vielmehr darin eine ärztliche Aufgabe, die Behörden und die Juristen mit medizinischen Untersuchungen zu unterstützen.“ In der Regel würden ja auch keine Minderjährigen untersucht, so Püschel. „Wir stigmatisieren keine Jugendlichen, sondern wir untersuchen junge Erwachsene, die den Staat täuschen.“ Rund die Hälfte aller Untersuchten in Hamburg sei deutlich älter als angegeben.
Die Forderung der CDU/CSU unterstützt Püschel dennoch nicht: „Wenn die Politik sagt, es solle jetzt standardisiert stattfinden, dann verstehe ich das nicht. Es findet doch längst standardisiert statt!“
REFERENZEN:
1. Stellungnahme von BumF, IPPNV und DKHW, 13. Dezember 2017
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Diesen Artikel so zitieren: Junge unbegleitete Flüchtlinge: Minderjährig oder nicht – sollen Ärzte darüber entscheiden? - Medscape - 2. Jan 2018.
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