Mittleres Alter, mit LDL im Normbereich – und doch Arteriosklerose: Studie befeuert Diskussion um Primärprävention

Michael van den Heuvel

Interessenkonflikte

21. Dezember 2017

Immer wieder erleiden Patienten mittleren Alters ohne kardiovaskuläre Risikofaktoren plötzlich einen Schlaganfall oder Herzinfarkt. Warum? Als entscheidenden Einflussfaktor sieht Dr. Leticia Fernández-Friera vom Centro Nacional de Investigaciones Cardiovasculares Carlos III, Madrid, LDL-Cholesterinwerte, die vermeintlich normal sind [1]. Ihre Kohortenstudie wirft einmal mehr die Frage auf, welche Strategien im Zuge der Primärprävention sinnvoll sind.

„Die Studie von Fernández-Friera und ihren Kollegen beruht zwar auf einer für eine Populationsstudie relativ kleinen Kohorte; diese scheint allerdings sehr präzise charakterisiert“, sagt Dr. Christoph Waldeyer vom Universitären Herzzentrum Hamburg, Klinik und Poliklinik für Allgemeine und Interventionelle Kardiologie.

„Der Ansatz, den atherogenetischen Einfluss von LDL-Cholesterin in jungen, lowest-risk Individuen ohne kardiovaskuläre Risikofaktoren zu untersuchen, ist innovativ, und es ist spannend zu sehen, wie eindeutig sich der Zusammenhang zwischen dem Ausmaß der Atherosklerose und Höhe der LDL-Level auch unter Abwesenheit potenziell synergistischer Risikofaktoren zeigt“, so Waldeyer weiter.

Trotzdem sieht der Experte einen Schwachpunkt: „Leider handelt es sich ‚nur‘ um eine Querschnittanalyse; noch spannender wäre es gewesen, den Einfluss von LDL-Cholesterin auf das Voranschreiten früher Atherosklerose-Ausprägungen über einen Beobachtungszeitraum von mehreren Jahren zu analysieren.“

 
Die Studie … demonstriert ein weiteres Mal die gewaltige Evidenz für die Atherogenität von LDL-Cholesterin. Dr. Christoph Waldeyer
 

Jeder Zweite hat trotz fehlender Risikofaktoren eine subklinische Arteriosklerose

Ausgangspunkt der Arbeit waren klinische Beobachtungen von Fernández-Friera: „Obwohl das Fehlen klassischer kardiovaskulärer Risikofaktoren mit einem geringen Risiko für kardiovaskuläre Ereignisse verbunden ist, haben Menschen in dieser Situation immer noch Herzinfarkte und Schlaganfälle.“ Wichtig sei, neue Marker einer frühen Arteriosklerose bei diesen scheinbar gesunden Personen definieren.

Die Forscherin untersuchte Daten von 4.184 Teilnehmern der ESA-Studie (Progression of Early Subclinical Atherosclerosis). Sie fand 1.779 Personen mit – wie es Fernández-Friera nennt – „normalen“ kardiovaskulären Risikofaktoren: Sie waren Nichtraucher, hatten Blutdruckwerte unter 140/90 mmHg, Nüchternblutglukosewerte unter 126 mg/dl, Gesamtcholesterinwerte unter 240 mg/dl, LDL-Cholesterinwerte unter 160 mg/dl und HDL-Cholesterinwerte über 40 mg/dl.

Eine Subgruppe mit optimalen Parametern umfasste 740 Personen. Bei ihnen lagen die Blutdruckwerte unter 120/80 mmHg, die Nüchternblutglukose-Spiegel unter 100 mg/dl, die HbA1c-Werte unter 5,7% und das Gesamtcholesterin unter 200 mg/dl.

Per Ultrasonographie oder per Computertomografie-Calcium-Score suchte Fernández-Friera bei allen Probanden nach Plaques in der Bauchaorta, der Oberschenkelarterie und der Halsschlagader. Biomarker im Serum und der Lebensstil wurden ebenfalls erfasst. „Unabhängig vom Alter und vom Geschlecht war LDL-Cholesterin selbst bei normalen Spiegeln mit einem höheren Atherosklerose-Risiko assoziiert“, resümiert Fernández-Friera.

Sie fand bei knapp 50% aller Personen ohne bekannte Risikofaktoren Anzeichen einer subklinischen Atherosklerose. Selbst in der Subgruppe mit optimalen Werten hatten 38% Plaques. Dabei fällt auf, dass bereits bei niedrigen Werten von 60 bis 79 mg/dl rund 11% erste Anzeichen einer subklinischen Atherosklerose zeigten.

 
Unmittelbare Therapiemaßnahmen oder -änderungen ergeben sich aus den Ergebnissen der Studie nicht. Dr. Christoph Waldeyer
 

Methodische Einschränkungen gab es bei Patienten mit Typ-2-Diabetes. Größtenteils lagen nur Blutglukose- aber keine HbA1c-Werte vor. Und nicht zuletzt umfasste die Kohorte nur wenige Patienten mit LDL-Cholesterin-Werten unter 70 mg/dl. Lineare Zusammenhänge zwischen dem Biomarker und dem Ausmaß einer präklinischen Atherosklerose seien ein Argument für den Zusammenhang, schreibt die Erstautorin. 

Möglichst frühe und breit angelegte Primärprävention

„Die Studie von Fernández-Friera und Kollegen demonstriert ein weiteres Mal die gewaltige Evidenz für die Atherogenität von LDL-Cholesterin“, kommentiert Waldeyer. „Das Ergebnis, dass etwa die Hälfte der Individuen zwischen 40 und 50 Lebensjahren selbst ohne kardiovaskuläre Risikofaktoren atherosklerotische Gefäßveränderungen aufweist, unterstreicht die Bedeutung für eine möglichst frühe und breite Primärprävention.“

Er fordert vorrangig eine „konsequente Umsetzung von Lebensstil-Modifikationen“. Ansonsten seien prospektive Studien wichtig, um herauszufinden, welche Individuen in besonderem Maße von einer lipidsenkenden Medikation bei der Primärprävention profitieren. „Unmittelbare Therapiemaßnahmen oder -änderungen ergeben sich aus den Ergebnissen der Studie nicht, da es sich um eine reine Querschnittsanalyse und keine Endpunkt-relevante Interventionsstudie handelt“, so Waldeyer.

Suche nach sinnvollen Zielwerten

Mit der Primärprävention befassen sich auch Dr. Vijay Nambi vom Baylor College of Medicine in Houson, Texas, und Prof. Dr. Deepak L. Bhatt vom Brigham and Women´s Hospital in Boston, Massachusetts, in ihrem Editorial zu der Studie [2]. Sie kritisieren, Risikofaktoren seien in der Vergangenheit immer darauf ausgelegt worden, kardiovaskuläre Ereignisse im Sinne einer Sekundärprophylaxe zu vermeiden, aber nicht, um subklinische Arteriosklerosen zu verhindern.

 
Es stellt sich die Frage, welche optimalen Cholesterinlevel zur Primärprävention erzielt werden sollten. Dr. Vijay Nambi und Prof. Dr. Deepak L. Bhatt
 

Für die Editorialisten stellt sich die Frage, welche Werte im klinischen Sinne eigentlich normal sind: „Obwohl Leitlinien bestimmte Werte als ‚abnormal‘ charakterisieren, hat die Aufspaltung eines kontinuierlichen Parameters in Bereiche immer etwas Willkürliches.“ Grenzen seien nicht selten Gegenstand intensiver Debatten unter Experten, wie Nambi und Bhatt anhand von therapeutischen Möglichkeiten zeigt.

Mit Statinen lässt sich der LDL-Cholesterinspiegel auf 70 bis 100 mg/dl einstellen. Erhalten Patienten außerdem Ezetimib, führt das zur Verringerung auf 50 mg/dl. Zusätzlich verabreichte PCSK9-Hemmer lassen den Wert auf 30 mg/dl sinken.

Je niedriger der Wert an LDL-Cholesterin im Blut sei, desto geringer sei auch das Risiko atherosklerotischer kardiovaskulärer Erkrankungen, konstatieren Nambi und Bhatt. „In diesem Zusammenhang ist die Arbeit von Fernández-Friera hoch relevant. Es stellt sich die Frage, welche optimalen Cholesterinlevel zur Primärprävention erzielt werden sollten.“

Ihrer Meinung nach trifft die Überlegung nicht nur auf Cholesterin, sondern auch auf den Blutdruck und den Blutglukosespiegel zu. „Wir sollten hier versuchen, Subgruppen mit optimalem Nutzen-Risiko-Verhältnis zu finden“, lautet ihre Empfehlung. Das wird ohne große, langfristig angelegte randomisierte Studien kaum möglich sein. Ärzten bleibe in der Zwischenzeit nur, „Begriffe wie ‚normal‘ zu vermeiden und Patienten umfassend zu beraten“, resümieren Nambi und Bhatt. 



REFERENZEN:

1. Fernández-Friera L, et al: JACC (online) 12. Dezember 2017

2. Nambi V, et al: JACC (online) 12. Dezember 2017

Kommentar

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