In Großbritannien wird es Männern künftig möglich sein, das Potenzmittel Viagra® (Sildenafil) ohne ärztliche Verordnung in der Apotheke zu kaufen. Mit dieser Entscheidung der nationalen britischen Zulassungsbehörde MHRA (Medicines Healthcare products Regulatory Agency) sollen Männer, die sonst keine Hilfe im Gesundheitssystem suchen würden, dorthin gelotst und der Internet-Handel mit gefälschten Medikamenten soll gebremst werden [1]. Voraussetzung für den Verkauf ist allerdings eine fachliche Beratung in der Apotheke. Hersteller Pfizer plant den Verkaufsstart für sein OTC-Präparat für kommendes Frühjahr.

Prof. Dr. Sabine Kliesch
„Auch wenn vordergründig nachvollziehbar ist, mit dieser Entscheidung den Schwarzmarkt mit Viagra® eindämmen zu wollen, so halte ich es doch für sehr problematisch, insbesondere Risikopatienten der Beratung durch Apotheker zu überlassen“, kritisiert Prof. Dr. Sabine Kliesch, Chefärztin des Centrums für Reproduktionsmedizin und Andrologie am Universitätsklinikum Münster im Gespräch mit Medscape.
„So sind nicht nur Kontraindikationen wie die Einnahme von Nitraten zu beachten. In der Apotheke entfällt ja auch die Diagnostik von Erektionsstörungen, die bekanntermaßen in engem Zusammenhang mit anderen Erkrankungen wie einer koronaren Herzkrankheit, Diabetes, Hypertonie oder Adipositas stehen können“, so Kliesch weiter.
Beratungsgespräch in der Apotheke
Die MHRA-Regelung erlaubt den künftigen Verkauf des Fertigarzneimittels „Viagra Connect® 50 mg“ an Personen ab 18 Jahren nur, wenn dem ein Beratungsgespräch mit Apotheken-Fachpersonal vorangegangen ist. Dabei soll der Apotheker in der Lage sein zu bestimmen, ob die Behandlung für den Patienten angemessen ist.
Laut MHRA-Pressemitteilung „kann der Apotheker zur erektilen Dysfunktion, zur Anwendung des Medikaments und möglichen Nebenwirkungen beraten und darauf hinweisen, wenn der Hausarzt konsultiert werden sollte.“ Ausgeschlossen sein soll die Weitergabe an Personen mit schweren kardiovaskulären Erkrankungen, Leber- und Nierenschäden oder bei der Einnahme von Arzneimitteln mit möglichen Wechselwirkungen.
Erektile Dysfunktion kann Warnsignal sein
„Eine adäquate Erfassung von Risikoprofilen ist in der Apotheke allerdings kaum vorstellbar“, meint Andrologin Kliesch: „Erektionsstörungen sind, wie wir heute wissen, mit einem zeitlichen Vorlauf von rund 5 Jahren häufig das erste Symptom eines später eintretenden Myokardinfarkts. Bei der Anwendung von Viagra® und anderen PDE-5-Hemmern zur Behandlung der erektilen Dysfunktion geht es deshalb eben nicht nur darum, dass ein Mann mehr Spaß haben will. Vielmehr geht es letztlich um Patienten mit einer Störung, hinter der sich andere ernste Erkrankungen verbergen können und die deshalb möglichst immer ärztlich abgeklärt werden sollte.“
Generika kosten nur noch einen Bruchteil
Auch das Argument der britischen Behörde, mit ihrer Entscheidung den florierenden Internet-Handel mit gefälschten – oft gar keinen Wirkstoff oder sogar gesundheitsschädliche Substanzen enthaltenden – Viagra®-Pillen eindämmen zu wollen, lässt Kliesch nur bedingt gelten: „Nachdem der Patentschutz für Viagra® abgelaufen ist, sind PDE-5-Hemmer wie Sildenafil, Vardenafil oder Tadalafil mittlerweile so preiswert geworden, dass es gar keinen Druck mehr geben müsste, sich diese Mittel über den Schwarzmarkt zu bestellen.“
Selbst Viagra-Hersteller Pfizer bietet mittlerweile ein Sildenafil-Generikum zu einem Bruchteil des Preises für das Originalpräparat an. Während 12 Tabletten des Originalpräparats in der Dosierung 50 mg in Deutschland noch mehr als 120 Euro kosten können, liegen die Preise für generische PDE-5-Hemmer bei einem Viertel oder gar Fünftel davon und sind in größeren Mengen noch billiger. Der für die 8-Tabletten-Packung des OTC-Präparats Viagra Connect® empfohlene Preis soll in Großbritannien immerhin noch bei rund 40 Euro (35 britischen Pfund) liegen.
Im Arzt-Patienten-Gespräch immer weniger ein Tabuthema
Ärztlichen Rat bei Erektionsstörungen suchen Männer in Deutschland offenbar besonders oft bei niedergelassenen Urologen, um dann gegebenenfalls einen PDE-5-Hemmer verordnet zu bekommen. „Täglich kommen im Durchschnitt etwa 3 Patienten mit diesem Problem zu mir, wobei auffällt, dass Männer im Vergleich zu vor einem oder zwei Jahrzehnten mit immer weniger Scheu über ihr Problem sprechen“, beschreibt Dr. Wolfram Fleck, niedergelassener Urologe in Regensburg, gegenüber Medscape die Situation. „Das hat sicher auch mit der Thematisierung von Viagra & Co. in der Öffentlichkeit zu tun. Auf jeden Fall gehört die Stigmatisierung der erektilen Dysfunktion meiner Erfahrung nach in der ärztlichen Sprechstunde weitgehend der Vergangenheit an.“
Vertrauliches Gespräch über den Ladentisch?
Dabei bezweifelt der Urologe, dass der rezeptfreie Apotheken-Verkauf von Viagra® mehr Patienten ins Gesundheitssystem locken könnte, die dort sonst keine Hilfe suchen würden. Im Gegenteil: „Wie soll über den Ladentisch der Apotheke ein offenes Gespräch zu einem so vertraulichen Thema wie Erektionsstörungen begonnen werden, wenn andere Kundschaft daneben steht oder der Patient von Apothekenpersonal bedient wird, das er vielleicht gar nicht kennt?“, fragt Fleck. Abgesehen davon sei es – ohne die Kompetenz des Apothekers anzuzweifeln – nicht dessen Aufgabe, Anamnesen zu erheben oder Differentialdiagnosen vorzunehmen.
Auch Fleck hält es für unverzichtbar, einer erektilen Dysfunktion (ED) von ärztlicher Seite aus genauer auf den Grund zu gehen: „Schätzungsweise 80 Prozent der Erektionsstörungen entstehen auf der Basis eines vaskulären Problems – und das ist ärztlich zu evaluieren, bevor ein Mittel gegen diese Störungen verschrieben bzw. abgegeben wird.“
Einen ED-Patienten etwa, der 40 Jahre alt und Raucher ist, schickt er meistens erst mal zum Belastungs-EKG, um seine kardiologische Situation einordnen zu können. Schließlich betrachtet auch er das Argument des illegalen Handels für Viagra®-Plagiate als überbewertet: „Vergleichbare Nachahmer-Präparate auf Rezept sind mittlerweile so billig, dass auch dies kein Grund dafür ist, PDE-5-Hemmer rezeptfrei in der Apotheke abzugeben. Allerdings sollte noch mehr als bisher über die Gefahren des rezeptfreien Einkaufens im Internet aufgeklärt werden.“
Antrag auf europäischer Ebene wurde seinerzeit abgelehnt
Der Entscheidung der britischen Zulassungsbehörde MHRA über den Switch von Viagra Connect® von der Rezeptpflicht in die Freiverkäuflichkeit war ein diesbezüglicher Antrag des Herstellers Pfizer vorausgegangen. Pfizer hatte einen ähnlichen Antrag bereits 2008 auf europäischer Ebene bei der europäischen Arzneimittelagentur EMA gestellt, er wurde jedoch abgelehnt.
International gestatten bisher nur Neuseeland und Polen den rezeptfreien Verkauf von generischem Sildenafil. In Polen muss der Kaufinteressent dazu in der Apotheke eine Art Anamnese-Fragebogen zu seiner Medikamenteneinnahme und zu Vor- bzw. Begleiterkrankungen ausfüllen.
REFERENZEN:
1. Pressemitteilung der Medicines Healthcare products Regulatory Agency (MHRA), 28. November 2017
Medscape Nachrichten © 2017 WebMD, LLC
Diesen Artikel so zitieren: Viagra® bald rezeptfrei in der Apotheke – in UK bereits beschlossen, auch eine Option für Deutschland? - Medscape - 6. Dez 2017.
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