Hoffnungsträger bei Migräne: Antikörper gegen Neuropeptid CGRP erweisen sich in großen Phase-3-Studien als erfolgreich

Anke Brodmerkel

Interessenkonflikte

4. Dezember 2017

Das Neuropeptid CGRP (Calcitonin Gene-Related Peptide) gilt seit einigen Jahren als einer der wichtigsten Botenstoffe in der Pathophysiologie von Migräneattacken. Große Hoffnungen ruhen daher auf der Entwicklung von monoklonalen Antikörpern, die sich entweder gegen das Peptid selbst richten oder aber seine Rezeptoren blockieren.

4 solcher Antikörper (Erenumab, Eptinezumab, Fremanezumab und Galcanezumab) werden derzeit an Patienten getestet. 2 Phase-3-Studien, die jetzt im Fachblatt New England Journal of Medicine (NEJM) veröffentlicht worden sind, zeigen einmal mehr, dass zumindest ein Teil der Migränepatienten von den neuen Medikamenten profitieren könnten.

In der einen Studie wurde der Antikörper Fremanezumab des Herstellers Teva, der sich direkt gegen CGRP richtet, bei Patienten mit chronischer Migräne getestet [1].

In der anderen Studie verabreichten Forscher den Antikörper Erenumab Patienten mit episodischer Migräne [2]. Dieser Wirkstoff, der gemeinsam von Amgen and Novartis entwickelt worden ist, blockiert als einziger der 4 Antikörper, die derzeit getestet werden, den CGRP-Rezeptor.

Verglichen wurden in den Untersuchungen jeweils 2 verschiedene Dosierungsschemata mit einem Placebo. Beide Studien sind von den jeweiligen Herstellern finanziert worden.

Antikörper Fremanezumab an mehr als 750 Probanden getestet

Für die Fremanezumab-Studie rekrutierte ein Team um Prof. Dr. Stephen Silberstein vom Jefferson Headache Center der Thomas Jefferson University in Philadelphia, USA, 1.130 erwachsene Patienten mit chronischer Migräne, die an mindestens 15 Tagen im Monat an Kopfschmerzen und an 8 Tagen oder mehr an Migräne litten.

Dr. Astrid Gendolla

Der ersten Gruppe mit 376 Probanden wurde der Antikörper vierteljährlich subkutan injiziert. Das heißt, zu Beginn der Studie erhielten die Patienten eine Dosis von 675 mg und in den Wochen 4 und 8 ein Placebo. Der zweiten Gruppe mit 379 Probanden wurden zu Beginn der Studie ebenfalls 675 mg und in den Wochen 4 und 8 jeweils 225 mg Fremanezumab verabreicht. Der dritten Gruppe mit 375 Teilnehmern spritzte man zu Beginn sowie in den Wochen 4 und 8 ausschließlich Placebo.

„In der Praxis ist eine klare Trennlinie zwischen episodischer und chronischer Migräne oft nur schwer zu ziehen, was die Bewertung der beiden Studien nicht ganz einfach macht“, sagt die am Regionalen Schmerzzentrum in Essen praktizierende Neurologin Dr. Astrid Gendolla von der Deutschen Gesellschaft für Schmerztherapie (DGS) im Gespräch mit Medscape. „Von daher hätte ich mir gewünscht, dass die Probanden eher anhand der Schwere ihrer Attacken als an der Zahl der Kopfschmerztage ausgewählt worden wären.“

Zahl der monatlichen Kopfschmerztage nahm im Mittel um 4 bis 5 Tage ab

Primärer Endpunkt der Studie war die Reduktion der durchschnittlichen Zahl an Kopfschmerztagen pro Monat innerhalb der ersten 12 Wochen nach Beginn der Therapie. Als Kopfschmerztage wurden jene Tage definiert, an denen die Patienten mindestens 4 aufeinanderfolgende Stunden Kopfschmerzen hatten oder wegen ihrer Schmerzen Ergotamine oder Triptane einnahmen.

Zu Beginn der Studie litten die Teilnehmer der 3 Gruppen im Mittel an 13,2, 12,8 und 13,3 Tagen an Kopfschmerzen. Wie sich herausstellte, nahm die Zahl der Kopfschmerztage in allen 3 Gruppen ab – und zwar im Mittel um durchschnittlich 4,3 Tage in der Gruppe, die den Antikörper nur einmal erhalten hatte, um 4,6 Tage bei den Probanden, denen der Wirkstoff im Abstand von vier Wochen gespritzt worden war, und um 2,5 Tage in der Placebogruppe.

„Auf den ersten Blick mögen diese Ergebnisse nicht besonders überzeugend sein“, kommentiert die DGS-Expertin Gendolla. „Aus meinem Alltag in der Praxis weiß ich aber, dass 4 oder 5 kopfschmerzfreie Tage im Monat mehr für die Patienten bereits eine große Erleichterung darstellen.“

 
In der Praxis ist eine klare Trennlinie zwischen episodischer und chronischer Migräne oft nur schwer zu ziehen, was die Bewertung der beiden Studien nicht ganz einfach macht. Dr. Astrid Gendolla
 

Zudem zeigten die Erfahrungen, die man beispielsweise mit Botox in der Migränetherapie gemacht habe, dass die Effekte von Migränewirkstoffen unter normalen Bedingungen meist größer seien als in klinischen Studien, da an diesen in erster Linie sehr schwer betroffene Patienten teilnähmen. 

Die stärksten Effekte zeigten sich zu Beginn der Therapie

Bei 38% der Patienten aus der ersten Gruppe der Fremanezumab-Studie verringerte sich die Anzahl der Kopfschmerztage um durchschnittlich mindestens die Hälfte. In der zweiten Gruppe erreichten dieses Ziel 41% der Probanden. In der Placebogruppe waren es 18%.

Die stärksten Effekte waren in allen Gruppen direkt zu Beginn der Therapie zu verzeichnen. Dies deute darauf hin, dass man im klinischen Alltag vermutlich relativ schnell entscheiden könne, wer auf eine Therapie mit Fremanezumab anspreche und wer nicht, schreibt der US-Neurologe und Kopfschmerzspezialist Dr. Andrew Hershey vom Cincinnati Children’s Hospital in Ohio, USA, in einem Kommentar im NEJM [3].

Über langfristige Effekte bezüglich der Wirksamkeit und unerwünschter Begleiterscheinungen kann die Studie von Silberstein und seinen Kollegen bislang noch nichts aussagen. In den 12 Wochen Beobachtungszeit bestanden die Nebenwirkungen der Therapie mit Fremanezumab im Wesentlichen aus vorübergehenden lokalen Reaktionen an der Einstichstelle. Störungen der Leberfunktion traten bei jeweils 5 Probanden der beiden Interventionsgruppen und bei 3 Patienten der Placebogruppe auf.

Erenumab erhielten rund 600 Patienten mit episodischer Migräne

Für die Erenumab-Studie rekrutierte ein Team um den britischen Kopfschmerzspezialisten Prof. Dr. Peter Goadsby vom King’s College London 955 erwachsene Patienten mit episodischer Migräne, die zu Beginn der Studie im Mittel an 8,3 Tagen im Monat an Migräne litten. 317 von ihnen erhielten 6 Monate lang monatlich 70 mg Erenumab subkutan injiziert. 319 Probanden bekamen monatlich 140 mg des Wirkstoffs und 319 Placebo.

Primärer Endpunkt der britischen Studie war die Abnahme der mittleren Zahl an Migränetagen pro Monat, und zwar 4 bis 6 Monate nach Beginn der Therapie. Sekundäre Endpunkte waren eine Abnahme der monatlichen Migränetage um mindestens die Hälfte, die Abnahme der Tage, an denen die Probanden andere Migränemedikamente einnehmen mussten, sowie Veränderungen bezüglich körperlicher Beeinträchtigungen und täglicher Aktivitäten, die mithilfe des MPFID (Migraine Physical Function Impact Diary) auf einer Skala von 0 (keine Beeinträchtigung) bis 100 (extreme Beeinträchtigung) ermittelt wurden.

 
Aus meinem Alltag in der Praxis weiß ich aber, dass 4 oder 5 kopfschmerzfreie Tage im Monat mehr für die Patienten bereits eine große Erleichterung darstellen. Dr. Astrid Gendolla
 

Bei jedem 2. Patienten halbierte sich die Zahl der Migränetage

Wie Goadsby und seine Kollegen berichten, nahm die Zahl der Migränetage in der 70-mg-Gruppe im Mittel um 3,2 Tage und in der 140-mg-Gruppe um 3,7 Tage ab – verglichen mit 1,8 Tagen in der Placebogruppe. Ein Verringerung der monatlichen Migränetage um mindestens die Hälfte erreichten in der 70-mg-Gruppe 43,3% der Probanden, in der 140-mg-Gruppe 50% und in der Placebogruppe 26,6%. Die Zahl der Tage, an denen Migränemedikamente gebraucht wurden, nahm in den 3 Gruppen im Mittel um 1,1 (70 mg), 1,6 (140 mg) und 0,2 Tage ab.

Damit seien alle beobachteten Veränderungen durch Erenumab signifikant, schreiben die Forscher. Auch in dieser Studie wurden die deutlichsten Veränderungen bereits 2 Monate nach Therapiebeginn sichtbar.

Der Alltag der Patienten wurde durch das Medikament offenbar ebenfalls erleichtert. Das Ausmaß der körperlichen Beeinträchtigungen verbesserte sich in den beiden Interventionsgruppen um 4,2 und 4,8 Punkte, verglichen mit 2,4 Punkten in der Placebogruppe. Alltäglichen Aktivitäten konnten die Probanden der ersten beiden Gruppen um 5,5 und 5,9 Punkte besser nachgehen, während es in der Placebogruppe nur 3,3 Punkte waren.

Die Zahl der Nebenwirkungen sei in allen 3 Gruppen ähnlich gewesen, berichten die Forscher um Goadsby. Auch sie betonen allerdings, dass weitere Studien zur langfristigen Effektivität und Sicherheit des Wirkstoffs nötig seien.

Notwendige Dauer der Therapie noch unklar

Beide Studien zeigten, dass die erhofften Effekte der Antikörper zwar bescheiden, aber dennoch bedeutsam seien, kommentiert der US-Neurologe Hershey. Es sei interessant zu sehen, dass die Substanzen schnell ihre Wirkung entfalten und ein Teil der Probanden durch sie komplett kopfschmerzfrei würde.

 
Bislang ist völlig offen, wie lange man die Antikörper verabreichen müsste, um dauerhaft Effekte zu erzielen. Dr. Astrid Gendolla
 

Somit sei es wahrscheinlich, dass die neuen Wirkstoffe ihre spezifische Rolle in der Behandlung von Patienten finden würden, bei denen andere Therapien nicht anschlügen oder die durch ihre Migräne besonders beeinträchtigt seien, schreibt Hershey.

Für die Forschung bleibt dem US-Experten zufolge dennoch eine Menge zu tun. So müsse man herausfinden, welche Patientengruppen auf welchen der 4 Antikörper besonders gut ansprächen und ob vielleicht ein Wirkstoff den anderen dreien generell überlegen sei, schreibt Hershey. Langfristig bliebe zudem zu bestimmen, ob die gewünschten Effekte auch nach Beendigung der kostspieligen und zeitaufwendigen Therapie bestehen blieben oder ob eine dauerhafte Behandlung erforderlich sei.

„Bislang ist völlig offen, wie lange man die Antikörper verabreichen müsste, um dauerhaft Effekte zu erzielen“, bestätigt die deutsche Schmerzspezialistin Gendolla. Auch sei noch unklar, wie es um die Nebenwirkungen insbesondere bei Patienten mit kardiovaskulären Erkrankungen bestellt sei.

„Wichtig scheint mir zum jetzigen Zeitpunkt vor allem zu sein, dass wir bei den Patienten keine übertriebenen Hoffnungen wecken, denen die Antikörper womöglich gar nicht gerecht werden“, sagt Gendolla. Noch wisse man trotz der beiden neuen Studien nicht, wie gut die Medikamente tatsächlich seien. Ein Allheilmittel habe man mit ihnen sicher nicht in der Hand.



REFERENZEN:

1. Silberstein S, et al: NEJM 2017;377:2113-22

2. Goadsby P, et al: NEJM 2017;377:2123-32

3. Hershey A: NEJM 2017;377:2190-2101

Kommentar

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