Alkohol für Jugendliche: Selbst moderater Konsum schadet dosisabhängig der Hirnentwicklung

Batya Swift Yasgur

Interessenkonflikte

22. November 2017

Alkoholkonsum in der Adoleszenz beeinträchtigt dosisabhängig die normale Hirnreifung und führt zu Verlust von grauer Hirnsubstanz, wie eine neue Untersuchung belegt. Ein Forscherteam von 5 US-amerikanischen Universitäten untersuchte die Gehirne von 483 Jugendlichen und jungen Erwachsenen zwischen 12 und 21 Jahren per MRT vor Beginn des Alkoholkonsums sowie 1 und 2 Jahre danach. Bei der Beurteilung nach 2 Jahren zeigte sich unter den Studienteilnehmern, die große Mengen Alkohol getrunken hatten, ein gegenüber der Norm beschleunigter Abbau der grauen Substanz im Frontalhirn. Die Studie wurde im American Journal of Psychiatry veröffentlicht [1].

Forschungsleiter Prof. Dr. Edith V. Sullivan von der Abteilung für Psychiatrie und Verhaltenswissenschaften der Stanford University School of Medicine in Kalifornien bezeichnet die Ergebnisse als beeindruckend. „Es ist besonders bedeutsam, dass sich der Einfluss des Alkohols auf die strukturelle Hirnentwicklung vor allem im Frontalkortex zeigt, der mit die längste Zeit zur Ausreifung benötigt“, sagt sie gegenüber Medscape. „Schäden in diesem Bereich können Folgen für das Problemlösungsverhalten, für Entscheidungs- und Kritikfähigkeit, für das Sozialverhalten, die Impulskontrolle und andere mentale Funktionen haben, die mit dem Erwachsenwerden verbunden sind.“

Welche Auswirkungen hat moderates und starkes Trinken?

In der 1. Lebensdekade der normalen Hirnreifung nimmt das Volumen der grauen Substanz zu und geht danach kontinuierlich zurück. Die supratentorielle weiße Substanz legt volumenmäßig in der Adoleszenz noch zu, was sich erst ab der 3. Dekade verlangsamt, schreiben die Autoren.

Diese „signifikanten und vorhersagbaren Veränderungen der normalen neurologischen Entwicklung“ trugen zu den Spekulationen darüber bei, dass „die Entwicklung des adoleszenten Gehirns besonders anfällig gegenüber Umwelteinflüssen ist“. Der Konsum „potenziell schädlicher Substanzen“ wie Alkohol könnte daher zu einem beschleunigten Abbau der grauen Substanz, einem abgeschwächten Wachstum der weißen Substanz oder zu beidem führen“, so die Autoren weiter.

In früheren Untersuchungen konnte ein abnormes Wachstumsmuster bei Jugendlichen ausgemacht werden, die fortgesetzt viel Alkohol tranken. Allerdings wurden in diesen Berichten moderate Trinker ausgenommen, „was die Frage unbeantwortet lässt, ob das weitverbreitete moderate Trinken die normalen Entwicklungsschritte beeinflusst“.

Um dieser Frage sowie den Folgen von starkem Trinken für die Reifung des adoleszenten Gehirns nachzugehen, führten die Untersucher eine Längsschnittstudie mit MRT-Daten zur Hirnmorphologie von 483 Jugendlichen und jungen Erwachsenen durch. Die Daten wurden zu Beginn der Studie, nach einem Jahr sowie nach 2 Jahren erhoben.

 
Es ist besonders bedeutsam, dass sich der Einfluss des Alkohols auf die strukturelle Hirnentwicklung vor allem im Frontalkortex zeigt, der mit die längste Zeit zur Ausreifung benötigt. Dr. Edith V. Sullivan
 

Die NCANDA-Studie (National Consortium on Alcohol and NeuroDevelopment in Adolescence) ist eine „Längsschnittstudie zur Untersuchung der Hirnstruktur und der funktionellen Entwicklung und zur Aufdeckung von Abweichungen von normalen Wachstumsmustern in Bezug zum Einsetzen eines beträchtlichen Alkohol- oder Drogenkonsums“, erklärt Sullivan als Mitglied des NCANDA-Teams.

Die Teilnehmer durften zuvor noch nie oder nur in Kleinstmengen Alkohol oder Drogen zu sich genommen haben. Während der Studie begannen dann 127 Probanden mit einem Alkoholkonsum, der über den Mengen der Einschlusskriterien lag, „wodurch die Durchführung einer lebensnahen Studie zu den Auswirkungen des Alkoholkonsums auf das adoleszente Gehirn erst möglich wurde“, schreiben die Untersucher.

„Wir gingen davon aus, dass eine prospektive Längsschnittstudie neue Einsichten über die Rolle des Alkoholkonsums in der Entwicklung des adoleszenten Gehirns und seiner Funktionen spielen würde“, so Sullivan. Sie versuchten, „normale Wachstumsschritte zu definieren“, d.h. den regionalen Volumenrückgang der grauen Substanz bei gleichzeitigem Volumenzuwachs der weißen Substanz bei Personen, die weiterhin keinen Alkohol oder nur in geringen Mengen zu sich nahmen.

Die Untersuchung bot auch die Möglichkeit, mögliche Unterschiede hinsichtlich einer positiven Familienanamnese für Alkoholismus aufzuzeigen sowie einen „Summationseffekt von Marihuana- und Alkoholkonsum auf den Verlauf der Hirnvolumenentwicklung zu beobachten“.

2 Kriterien zum Alkoholkonsum

Die Untersucher begannen mit 483 Personen im Alter zwischen – zu Studienbeginn – 12 und 21 Jahren, welche die Einschlusskriterien erfüllten. Bei 457 Personen konnte auch noch nach 2 Jahren ein Follow-up durchgeführt werden. 26 Probanden hatten ihren ersten Follow-up-Termin nicht wahrgenommen, doch lagen dann die Daten nach 2 Jahren vor.

Der frühere und aktuelle Alkohol- und Drogenkonsum wurde mit dem Customary Drinking and Drug Use Record bestimmt. Die Teilnehmer wurden dann auf Grundlage der Kriterien zum Alkoholkonsum in 2 Sets eingeteilt. Im 1. Set waren die Einschlusskriterien „kein/geringer Alkoholkonsum vor Beginn der Studie“ nach Maßgabe der Leitlinien des National Institute on Alcohol Abuse and Alcoholism zum gefährlichen Trinkverhalten. Die Einstufung erfolgte auf der Grundlage der Parameter „maximale Trinktage“ und „maximale Anzahl der alkoholischen Getränke bei entsprechender Gelegenheit“.

Die Maximalzahl an Getränken bei einer Gelegenheit lag für weibliche Teilnehmer unabhängig vom Alter bei 3. Bei männlichen Teilnehmern wurde eine Altersabstufung vorgenommen: 3 im Alter von 12 bis 13,9 Jahren, 4 im Alter von 14 bis 19,9 Jahren und 5 Getränke ab einem Alter von 20 Jahren.

Im 2. Kriterienset wurde eine Einstufung in „starker“, „moderater“ und „kein/geringer Alkoholkonsum“ nach dem Klassifikationssystem von Cahalan, et al. vorgenommen, bei dem das Trinkverhalten im zurückliegenden Jahr hinsichtlich der Qualität (durchschnittlicher und maximaler Konsum) und der Frequenz berücksichtigt wird. Nach 2 Jahren waren noch 356 Jugendliche in der Gruppe „kein/geringer Alkoholkonsum“ vertreten, 127 waren in die Gruppe „moderater“ (n = 65) oder „starker Alkoholkonsum“ (n = 62) gewechselt.

Die Forscher analysierten potenzielle Summationseffekte von kombiniertem Marihuana- und Alkoholkonsum, indem sie das Kriterium Marihuanakonsum bei der Datenerhebung nach 2 Jahren einführten. Dabei wurde ein mehr als 50-facher begleitender Marihuanakonsum im bisherigen Leben als „dichotome Variable“ bei den 127 Personen mit „starkem“ (n = 17) und „moderatem“ (n = 10) Konsum beobachtet, während 100 kein Marihuana konsumiert hatten.

Es ergab sich eine „abgestufte Differenzierung der Konsumgelegenheiten“: „kein/geringer Alkoholkonsum“ < „moderater Konsum“ (t-Test (t) = 3,42, Freiheitsgrad (FG) = 58,7; p = 0,001), „moderater Konsum“ < „starker Konsum“ (t = 2,52, FG = 76,2; p = 0,014).

Um in die Studie aufgenommen zu werden, musste ein Teilnehmer die Einschlusskriterien beider Kriteriensets erfüllen. Zudem mussten die Daten der Bildgebung von ausreichender Qualität sein und den Kriterien der FreeSurfer-Software für das Signal-Rausch-Verhältnis entsprechen. Zudem mussten die MRT-Daten und die Ergebnisse des Customary Drinking and Drug Use Record beim Follow-up nach 2 Jahren vorliegen. Bei den meisten Teilnehmern lagen die Daten beim Follow-up nach 1 Jahr vor.

Dosisabhängiger Effekt

Im Schnitt zeigten alle 6 regionalen neokortikalen und kortikalen Regionen mit grauer Substanz (frontal, temporal, parietal, okzipital, zingulär und insulär) eine negative Steigung („slope“; Begriff aus der Regressionsanalyse) beim Test gegen 0 mit t-Werten von -11,466 bis -27,158 (p < 10-8 bis 10-87).

Höheres Alter war mit gleichmäßigen Rückgängen in allen relevanten Regionen verbunden. Wenngleich die jährliche Abnahmerate bei weiblichen Teilnehmern höher war, als bei männlichen, ließ sich kein signifikanter Zusammenhang zum Alter nach Geschlecht zeigen.

Anders als in den kortikalen Regionen war in den 3 Regionen mit weißer Substanz Wachstum nachweisbar, wobei die t-Werte zwischen 30,656 und 44,134 lagen (p < 10-100). Mit zunehmendem Alter verlangsamte sich das Wachstum jedoch (t zwischen -8,173 und -13,617 ; p < 0,001).

Im Hinblick auf die Zusammenhänge von Alter und Geschlecht gab es signifikant mehr rapide Wachstumsrückgänge in den verschiedenen Altersklassen bei männlichen Teilnehmern als bei den weiblichen.

Beim Paarvergleichstest an 65 moderaten Trinkern gegenüber 356 mit „keinem/geringen Konsum“ und 62 starken Trinkern gegenüber 356 mit „keinem/geringen Konsum“ konnte ein signifikanter Gruppeneffekt nur bei den starken Trinkern nachgewiesen werden, bei denen sich eine beschleunigte Volumenabnahme in der frontalen und zingulären grauen Substanz darstellte. Das Wachstum der weißen Substanz verlangsamte sich überdies bei „starkem Konsum“ mehr als bei „keinem/geringem Konsum“.

Da sich die starken Trinker häufiger im älteren Segment der Untersuchungsgruppe fanden, wollten die Untersucher wissen, ob die Abnahme mit dem Alter zusammenhing. Also führten sie einen Follow-up-Test mit einer Untergruppe aus 62 Personen durch, die hinsichtlich Alter, Geschlecht und Ethnie mit den starken Trinkern gematcht wurde. Dabei sah man, dass die starken Trinker einen steileren Volumenrückgang der grauen Substanz zu verzeichnen hatten als Personen mit „keinem/geringem Konsum“.

Als die Untersucher ihre Analyse ausdehnten und nach möglichen lokalen Effekten durch Ingroup-Unterschiede Ausschau hielten, stellten sie fest, dass starke Trinker in 12 Kortikalregionen einen rascheren Volumenrückgang gegenüber „keinem/geringem Konsum“ aufwiesen. Besonders die kaudale mittlere und die superiore Frontalrinde sowie die posteriore zinguläre Rinde entsprachen der False Discovery Rate (FDR; korrigierte p-Schwelle ≥ 0,025).

Ein rascherer Gewebeverlust war mit einer höheren Maximalzahl an alkoholischen Getränken bei entsprechender Gelegenheit assoziiert, doch fanden sich keine signifikanten Unterschiede zwischen den Ausgangsvolumen der untersuchten Regionen sowohl der starken Trinker als auch der Personen mit „keinem/geringem Konsum“.

Die Familienanamnese zum Alkoholismus spielte eine Rolle. In der Gruppe mit „keinem/geringem Konsum“ fanden sich keine signifikanten Unterschiede, jedoch bei den starken Trinkern. Hier stellte man bei 21 Probanden mit positiver Familienanamnese eine steilere Steigung in der parietalen, der okzipitalen und in der gesamten grauen Substanz fest als bei den 41 Personen mit negativer Familienanamnese. Die Forscher verglichen die Steigungen von 10 Personen über 17 Jahre mit moderatem oder starkem Konsum und mehr als 50-maligem Marihuanakonsum mit den Steigungen der übrigen 100, die nicht die Marihuana-Kriterien erfüllten.

Nur im Bereich der Insula waren die Slopes für die graue Substanz weniger negativ in der Gruppe mit kombiniertem Konsum gegenüber der reinen Alkohol-Gruppe (t = 2,551; p = 0,014). Die Untersucher merkten an, dass das „dynamische Wachstumsmuster“, bei dem es bei Gesunden in der Adoleszenz zu einer Volumenabnahme der grauen Substanz und zur Volumenzunahme der weißen Substanz kommt, den „Rahmen bildet, in dem die Frage zu klären ist, ob und wie der Beginn eines mäßigen oder starken Alkoholkonsums die Komponenten dieses Entwicklungsschrittes verändert“.

Sullivan bemerkt, dass die Ergebnisse nahelegten, dass der normale Verlauf der Volumenabnahme grauer Hirnsubstanz „einem „Stutzen“ von Hirnzellen entspricht, die wir nicht mehr benötigen oder verwenden“. Jugendliche mit reichlich Alkoholkonsum zeigen einen beschleunigten Ablauf dieses an sich normalen Prozesses.

„Wichtig dabei ist es, dass wir durch eine Vergleichsgruppe mit keinem oder nur geringem Alkoholkonsum, die eine quantitative Bestimmung der erwarteten normalen strukturellen Hirnveränderungen ermöglicht, die Abweichungen von der Norm in der Gruppe der Alkoholkonsumenten messen können“, fügt sie hinzu.

 
Die Befunde bedeuten, dass Alkoholkonsum, selbst wenn er unregelmäßig erfolgt, bei Jugendlichen die Hirnreifung stört … Dr. PD Dr. Lindsay M. Squeglia
 

Aufklärung über Folgen von Alkohol in der Adoleszenz nötig

PD Dr. Lindsay M. Squeglia vom Department of Psychiatry and Behavioral Sciences der Medical University of South Carolina in Charleston,USA, hob gegenüber Medscape hervor, dass sich die „an 5 verschiedenen Stätten in den USA durchgeführte Studie auf eine große repräsentative Stichprobe stützen“ könne. Die Befunde hätten bedeutsame Implikationen.

„Die Befunde bedeuten, dass Alkoholkonsum, selbst wenn er unregelmäßig erfolgt, bei Jugendlichen die Hirnreifung stört, wobei der Umstand, dass ein dosisabhängiger Effekt entdeckt werden konnte, besonders interessant ist. Je mehr getrunken wurde, desto besser war der Effekt am Gehirn erkennbar.“ Diese Resultate hätten unmittelbare Folgen für unseren Alltag, sagte sie weiter. „Es ist wichtig, unsere Jugend, die Eltern und alle im Gesundheitssystem Tätigen darüber aufzuklären, dass Alkohol in der Adoleszenz einen negativen Einfluss auf die Hirnentwicklung haben kann. Unser Gehirn entwickelt sich bis etwa zum Alter von 25 Jahren, sodass also jede Störung dieser wichtigen Entwicklungsphase langfristige Konsequenzen haben kann.“

Es sei wenig überraschend, so Sullivan, dass die Jugend „bereits in jungen Jahren zum Alkohol greift“. Eltern und alle, die mit Jugendlichen zu tun hätten, sollten darauf achten. „Jugendliche und ihre Begleiter und Betreuer sollten bei der Aufklärung über die mit übermäßigem Alkohol- oder Drogenkonsum verbundenen Probleme unterstützt werden.“

„Alles totzuschweigen ist keine Option für einen verantwortungsvollen Umgang mit dem jugendlichen Alkohol- und Drogenkonsum. Freunde, befreundete Erwachsene und Aufsichtspersonen sollten wissen, wie ein Gespräch zum Thema Alkohol und Drogen aussehen sollte, und auch, was zu tun ist, wenn der Verdacht auf Substanzmissbrauch eines Jugendlichen oder auch Erwachsenen besteht oder bestätigt ist.“

 
Unser Gehirn entwickelt sich bis etwa zum Alter von 25 Jahren, sodass also jede Störung dieser wichtigen Entwicklungsphase langfristige Konsequenzen haben kann. PD Dr. Lindsay M. Squeglia
 

Sie erklärt, dass weitere Untersuchungen erforderlich seien, um die kritische Frage zu klären, ob die durch Alkohol verursachten Schädigungen des Gehirns durch Abstinenz oder Veränderung des Lebensstils wieder rückgängig gemacht werden können.

„Wir wissen aus Untersuchungen an Erwachsenen, die eine Alkoholproblematik zeigten oder unter einer Alkoholabhängigkeit litten, dass es durch langfristige Abstinenz zumindest bis zu einem gewissen Grad zu einer Erholung der kognitiven und motorischen Funktionen und zur strukturellen Verbesserung des Zustandes des Gehirns kommen kann. Dies führt uns zu der Vorstellung, dass Jugendliche mit starkem Alkoholkonsum nach der Mengenreduzierung zu einer Erholung und einer Rückkehr zu den normalen Entwicklungsabläufen kommen könnten.“


Dieser Artikel wurde von Markus Vieten aus www.medscape.com übersetzt und adaptiert.



REFERENZEN:


1. Pfefferbaum A, et al: Am Jour Psych. (online) 31. Oktober 2017

Kommentar

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