Multiple Sklerose: Der Übergang zur sekundären Progredienz lässt sich aufhalten – dank neuer hochwirksamer Medikamente

Interessenkonflikte

21. November 2017

Paris – Die verschiedenen krankheitsmodifizierenden Arzneimittel, die mittlerweile für die Behandlung der Multiplen Sklerose (MS) zur Verfügung stehen, zögern den Übergang von der schubförmig-remittierenden Form der Erkrankung (RRMS) zur sekundär progredienten MS (SPMS) hinaus, wie eine neue Studie zeigt. Hochwirksame Medikamente wie Alemtuzumab und Natalizumab können dabei den Übergang stärker verzögern als β-Interferone oder Glatirameracetat. Alle untersuchten Therapien waren dabei umso effektiver darin, die Konversion zu verlangsamen, je früher sie im Krankheitsverlauf gestartet wurden.

„Unsere Ergebnisse deuten darauf hin, dass sekundär progrediente MS – zumindest teilweise – eine Folge früher Inflammation ist, und dass sich das Konversionsrisiko von schubförmig-remittierender zu sekundär progredienter Erkrankung über bis zu 5 Jahre mit den vorhandenen Therapeutika modifizieren lässt“, sagte der Erstautor der Studie, Dr. Will Brown von der University of Cambridge, Großbritannien. Brown stellte die Studie beim 7th Joint ECTRIMS-ACTRIMS (European Committee for Treatment and Research in Multiple Sclerosis-Americas Committee for Treatment and Research in Multiple Sclerosis Meeting) in Paris vor [1].

„Die Quintessenz ist, dass all diese Medikamente einen Einfluss auf die Konversion haben und dass der größte Effekt bei stärker wirksamen Therapeutika sowie früherer Behandlung zu beobachten ist“, fasste Brown dies im Gespräch mit Medscape nochmals zusammen.

 
Unsere Ergebnisse deuten darauf hin, … dass sich das Konversionsrisiko von schubförmig-remittierender zu sekundär progredienter Erkrankung über bis zu 5 Jahre mit den vorhandenen Therapeutika modifizieren lässt. Dr. Will Brown
 

Konversion zur sekundär progredienten MS noch wenig untersucht

„Diese Information ist beruhigend und ergänzt unser Wissen darüber, wie die Behandlung die Schubrate und das Fortschreiten der Behinderung reduziert“, fügte er hinzu. „Bei der Entscheidung für eine Therapie muss diese Information zusammen mit allen anderen Faktoren, die eine Rolle spielen, wie Sicherheit, Krankheitsaktivität und Patientenpräferenzen, berücksichtigt werden.“

Wie er erläuterte, können allerdings die derzeit verfügbaren krankheitsmodifizierenden MS-Medikamente die sekundär progrediente Form der Erkrankung nicht verlangsamen, wenn diese erst einmal ausgebrochen ist. Und bisherige randomisierte Studien hätten Patienten nicht lange genug nachbeobachtet, um einen Effekt von medikamentösen Therapien auf den Übergang von RRMS zu SPMS sehen zu können.

„Deshalb ist die Konversion zur sekundär progredienten MS – trotz ihrer enormen Konsequenzen – als Studienendpunkt noch nicht gut untersucht. Es gibt ein paar Beobachtungsstudien, die das untersucht haben, und eine Post-hoc-Analyse, doch diese Arbeiten umfassten vorwiegend die älteren Therapien wie β-Interferon und Glatirameracetat und kamen zu widersprüchlichen Ergebnissen, wahrscheinlich weil sie unterschiedliche Methoden benutzt haben.“

„Deshalb war sowohl das Ausmaß, in dem sekundär progrediente MS die frühe Inflammation widerspiegelt, als auch ob medikamentöse Therapien, die in der schubförmig-remittierenden Phase eingesetzt werden, die Zeit bis zur Konversion verlangsamen, unklar“, ergänzte er.

Einheitliche Definition von sekundär progredienter MS

Um diese Fragen zu beantworten, analysierten Brown und seine Kollegen nun zum einen Informationen aus der Datenbank MSBase, die die Daten von weltweit mehr als 50.000 MS-Patienten enthält, und zum anderen 2 andere Patientenkohorten, deren Teilnehmer bis zu 18 Jahre nachbeobachtet worden waren.

Eines der größten Probleme früherer Studien sei gewesen, dass sie unterschiedliche Definitionen für sekundär progrediente MS benutzt hätten, erklärte Brown. „MSBase-Wissenschaftler haben sich kürzlich hunderte von Definitionen für sekundär progrediente MS bei mehr als 17.000 Patienten angesehen“, berichtete Brown. Demnach sei die beste Definition für SPMS ein Anstieg auf der Behinderungsskala EDSS (Expanded Disability Status Scale), ausgehend vom Baseline-EDSS-Score in Abwesenheit eines Schubs, bestätigt nach 3 Monaten, bei einem minimalen EDSS von 4.

„Unter Anwendung dieser validierten Definition untersuchten wir, ob unterschiedliche Medikamente bei Patienten, die nur ein Medikament nehmen, den Übergang von schubförmig-remittierender MS zu sekundär progredienter MS beeinflussen, und auch, ob die Potenz dieser Medikament und früher versus später Behandlungsbeginn das Risiko beeinflussen.“

Die Wissenschaftler untersuchten Daten zu β-Interferonen und Glatirameracetat, ebenso wie zu stärker wirksamen Therapeutika wie Fingolimod, Natalizumab und Alemtuzumab.

Sie identifizierten Patienten, die mindestens 4 Jahre lang mit einem dieser Medikamente behandelt worden waren (nur Patienten, die immer monotherapeutisch behandelt worden waren, wurden eingeschlossen) und matchten sie mit unbehandelten Patienten aus einer historischen Kohorte und mit Patienten, die andere krankheitsmodifizierende Therapien erhalten hatten.

Um die Unterschiede zwischen den Patienten zu minimieren, wurden die Patienten per Propensity Score nach Geschlecht, Alter zu Studienbeginn, annualisierter Schubrate, EDSS-Score und Erkrankungsdauer gematcht. Um Bias zu vermeiden, etwa dadurch, dass weniger wirksame Medikamentenklassen eher für Patienten mit leichterer Erkrankung verschrieben werden, wurden von den Patienten, die weniger wirksame Arzneimittel erhielten, nur diejenigen eingeschlossen, deren Nachbeobachtungszeitraum vor der Zulassung hochwirksamer MS-Medikamente im Jahr 2006 lag.

Alle Medikamente reduzieren Konversion zu SPMS

Die Ergebnisse zeigten, dass alle untersuchten Medikamente den Anteil an Patienten, der zu SPMS fortschreitet, signifikant reduzieren. Die individuellen Hazard Ratios (HR) für die einzelnen Medikamente waren:

  • β-Interferone/Glatirameracetat: 0,31 (p < 0,001); mittlere Nachbeobachtung unter Therapie: 7,9 Jahre

  • Fingolimod: 0,23 (p < 0,001); mittlere Nachbeobachtung unter Therapie: 4,6 Jahre

  • Natalizumab: 0,50 (p < 0,001); mittlere Nachbeobachtung unter Therapie: 4,9 Jahre

  • Alemtuzumab HR 0,60 (p < 0,01); mittlere Nachbeobachtung unter Therapie: 7,2 Jahre

Bei Matching der behandelten Kohorten unterschied sich die Konversion zu SPMS nicht signifikant zwischen den Anwendern von Alemtuzumab und Natalizumab, weshalb diese beiden Gruppen zu „hochwirksame Therapeutika“ (n = 118) zusammengefasst und mit Patienten, die β-Interferone oder Glatirameracetat erhielten (n = 236), gematcht und verglichen wurden.

Die Ergebnisse dieser Analyse zeigten, dass hochwirksame Therapeutika einen größeren Schutz vor einem Übergang zu SPMS boten als β-Interferone oder Glatirameracetat (HR: 0,65; p = 0,036; Nachbeobachtung von 5,7 Jahren).

Frühere Therapie von Vorteil

Eine andere Analyse zeigte, dass Patienten, die innerhalb von 5 Jahren nach ihrem ersten Schub eine Behandlung mit β-Interferonen oder Glatirameracetat erhielten, einen signifikanten Vorteil gegenüber denjenigen hatten, die erst mehr als 5 Jahre nach ihrem ersten Schub behandelt wurden. Nach bis zu 18 Jahren Nachbeobachtung waren nur 33% der Patienten, die innerhalb von 5 Jahren mit einer Behandlung begonnen hatten, zu SPMS fortgeschritten, von denjenigen, die erst später behandelt wurden, waren es dagegen 58%. Die gleichen Muster waren bei den hochwirksamen Therapeutika zu beobachten.

 
Die Quintessenz ist, dass all diese Medikamente einen Einfluss auf die Konversion haben und dass der größte Effekt bei stärker wirksamen Therapeutika sowie früherer Behandlung zu beobachten ist Dr. Will Brown
 

Auf die Frage, ob die sekundär progrediente Erkrankung durch die medikamentöse Therapie nur hinausgezögert oder tatsächlich verhindert werde, antwortete Brown: „Das können wir nicht mit Sicherheit sagen, dafür brauchen wir eine noch längere Nachbeobachtung.“ Er präsentierte allerdings Daten, die darauf hindeuten, dass eine frühe Behandlung die Konversion langfristig abwenden kann.

„Wenn wir uns unbehandelte Patienten anschauen im Vergleich zu Patienten, die innerhalb von 5 Jahren nach ihrem ersten Schub mit einer β-Interferon/Glatirameracetat-Therapie starteten, weichen die Linien, die die Konversionsraten darstellen, immer weiter auseinander, auch noch nach 15 Jahren. Aber wenn wir uns die Patienten ansehen, die erst nach 5 Jahren mit einer Therapie begannen, ist der Nutzen vorübergehend. Nach 12 Jahren bewegen sich die Linien wieder aufeinander zu und nach 14 Jahren überschneiden sie sich“, berichtete er.

Wirksamere Therapeutika früher einsetzen?

Von einer weiteren Studie, die ebenfalls auf Daten aus dem MSBase-Register beruht und Patienten, die unterschiedliche Therapien erhielten, per Propensity Score gematcht hat, berichtete Dr. Tomas Kalincik von der University of Melbourne, Australien.

Demnach werden die Unterschiede in der annualisierten Schubratenreduktion zwischen den wirksameren Therapeutika – Fingolimod, Natalizumab und Alemtuzumab – und β-Interferon/Glatirameracetat mit der Zeit, dem Alter und einem höheren Behinderungsgrad immer kleiner.

„Wir glauben deshalb, dass hochwirksame Therapeutika am effektivsten sind, wenn sie frühzeitig eingesetzt werden“, sagte auch Kalincik gegenüber Medscape. „Sowohl unsere Studie als auch die von Brown präsentierte Arbeit zur Konversion zur sekundär progredienten MS zeigen, dass wir darüber nachdenken sollten, Patienten lieber früher als später im Krankheitsverlauf mit den am höchsten wirksamen Arzneimitteln zu behandeln.“


Dieser Artikel wurde von Nadine Eckert aus www.medscape.com übersetzt und adaptiert.



REFERENZEN:

1. 7th Joint European Committee for Treatment and Research in Multiple Sclerosis-Americas Committee for Treatment and Research in Multiple Sclerosis (ECTRIMS-ACTRIMS) 2017, 25. bis 28. Oktober 2017, Paris/Frankreich

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