Die Krankheit, die unter die Haut geht: Ein einfacher Hauttest kann die Schizophrenie-Diagnostik unterstützen

Batya Swift Yasgur

Interessenkonflikte

17. November 2017

Ein Niacin-Flush-Test auf der Haut kann bei der Identifizierung von Schizophrenie-Patienten hilfreich sein. Eine Studie an 163 Schizophrenie-Patienten, 63 Patienten mit einer affektiven Störung (Manie, Depression oder bipolare Störung) und 63 gesunden Probanden unterzog die Teilnehmer einem Niacin-Flush-Test, bei dem Niacin (Nicotinsäure) in 4 verschiedenen Konzentrationen auf dem Unterarm appliziert wird. Die Studie wurde im Schizophrenia Bulletin veröffentlicht [1].

Der Studienleiter Dr. Chunling Wan von der Shanghai Jiao Tong University in China stellte fest, dass Schizophrenie-Patienten eine schwächere Reaktion auf Niacin zeigen als Personen mit einer affektiven Störung oder gesunde Probanden. Die Untergruppe, die eine abgeschwächte Reaktion zeigte, machte knapp ein Drittel der Schizophrenie-Patienten aus. Die Spezifität des Tests belief sich sowohl bei Männern als auch bei Frauen auf 80%.

„Wir wendeten den Niacin-Flush-Test bei einer vergleichsweise großen Stichprobe an und konnten eine Subgruppe von Niacin-schwachen Schizophrenie-Patienten mit einer deutlichen Spezifität aus gesunden oder affektiv gestörten Personen herausfiltern“, schreiben die Autoren. „Diese Ergebnisse bieten weitere Ansätze für die Erforschung der Schizophrenieätiologie, ermöglichen eine Optimierung klinischer und diagnostischer Maßnahmen sowie eine personalisierte Medizin bei Schizophrenie.“

Mangel an diagnostischen Markern

Die Autoren erklärten, „dass der Mangel an diagnostischen Markern schon seit langer Zeit ein Problem im klinischen Management der Schizophrenie war“. Frühere Forschungen hatten gezeigt, dass Schizophrenie-Patienten wesentlich höhere Niacin-Dosen benötigten, um im Niacin- Test ein Flush zu erzeugen als gesunde Kontrollpersonen. Dieser Befund regte zu weiterer Forschung hinsichtlich eines möglichen Zusammenhanges zwischen Niacin und Schizophrenie an.

Der niacininduzierte Haut-Flush wird über den Hydroxycarbonsäure-Rezeptor 2 (HCA2) vermittelt, der vorwiegend auf Keratinozyten und epidermalen Immunzellen exprimiert wird. Die Bindung von Niacin am HCA2 aktiviert die Phospholipase A2 und führt zur Hydrolyse der Membranphospholipide, was zur Freisetzung von Arachidonsäure führt. Arachidonsäure wird dann durch Cyclooxygenasen in Prostaglandin D2 und E2 überführt. Diese entspannen ihrerseits die glatte Gefäßmuskulatur und leiten so die Vasodilatation und Hautrötung ein.

Die Autoren schreiben, dass der Niacin-Flush-Test bei Schizophrenie „in verschiedenen Kohorten erfolgreich reproduziert wurde“. Allerdings hatten frühere Untersuchungen verschiedene Verfahren und unterschiedliche Kriterien herangezogen, was einen Vergleich der Resultate erschwert.

Die Autoren hatten Personen mit affektiven Störungen als Vergleichsgruppe beim Niacin-Flush-Test gegenüber Schizophrenen gewählt, weil es sowohl in biochemischer als auch in genetischer Hinsicht Überschneidungen bei der Symptomatik beider Gruppen gibt.

Einige der früheren Studien hatten eine verminderte Reaktion auf Niacin auch bei Patienten mit bipolaren Störungen angedeutet. Allerdings hätte es in diesen Untersuchungen zur Niacin-Flush-Reaktion bei Schizophrenie keine Vergleichsgruppe mit affektiven Störungen gegeben oder es seien eben nur Patienten mit bipolarer Störung oder Depression eingeschlossen worden, nicht jedoch mit Manie.

Zudem seien die meisten Probanden stets weiße Personen gewesen, die in kleinen Stichproben versammelt worden waren. Die Untersucher entschieden daher, die Studie an der chinesischen Han-Population durchzuführen und versammelten Patienten mit Manie, Depression und bipolarer Störung als Vergleichsgruppe sowie gesunde Probanden.

Zur Bewertung der Niacin-Flush-Reaktion in diesen Gruppen wurde eine 4-Punkte-Skala verwendet, wobei „das Ziel die Identifizierung von Indikatoren war, die eine korrekte Diagnose und die Abgrenzung der reaktionsschwachen Untergruppe mit Schizophrenie von Patienten mit affektiven Störungen und gesunden Personen ermöglichen“.

4 verschiedene Konzentrationen der Testsubstanz

Die Patienten mit Schizophrenie und affektiven Störungen wurden während ihrer stationären Klinikaufenthalte rekrutiert. Die bezüglich des Alters gematchte Gruppe Gesunder setzte sich aus Klinikmitarbeitern einschließlich Ärzten und Pflegekräften zusammen. Um als „gesund“ eingestuft zu werden, durften die Teilnehmer weder jetzt noch in der Vergangenheit jemals wegen einer psychiatrischen Erkrankung in Behandlung gewesen sein. Die Altersverteilung in dieser Gruppe lag zwischen 15 und 75 Jahren.

 
Wir … konnten eine Subgruppe von Niacin-schwachen Schizophrenie-Patienten mit einer deutlichen Spezifität aus gesunden oder affektiv gestörten Personen herausfiltern. Dr. Chunling Wan und Kollegen
 

Zu den Ausschlusskriterien gehörten zudem neurologische Erkrankungen oder eine Substanzabhängigkeit, Behandlungen mit nicht-steroidalen oder auch steroidalen Antiphlogistika innerhalb der vorherigen 14 Tage, schwere Hauterkrankungen oder Erkrankungen, die mit einer verminderten Abwehrlage in Verbindung stehen könnten, sowie Schwangerschaft.

Das Niacin wurde als Methylnicotinat (C7H7NO2) in wässriger Lösung in 4 Konzentrationen auf die Haut gebracht: 0,1, 0,01, 0,001 und 0,0001 M. Die Reaktionen wurden im Bild festgehalten und auf einer 4-Punkt-Skala eingestuft, wobei 0 für das Fehlen jeder Rötung stand, 1 für ein inkomplettes Erythem, 2 für ein komplettes Erythem innerhalb des von dem Pflaster abgedeckten Bereiches und 3 für ein über den definierten Bereich des Pflasters hinausgehendes Erythem stand.

Die meisten Patienten in den Patientengruppen wurden angemessen gematched, doch die Gruppe der Gesunden hatte einen höheren Frauenanteil und die Teilnehmer waren schlanker, kleiner, mit höherem Bildungsniveau und Nichtraucher. Die Untersucher adjustierten die Ergebnisse mithilfe einer Multivarianzanalyse, um diesen Störfaktoren Rechnung zu tragen.

Von den Patienten der Schizophrenie-Gruppe durchlitten weniger als 3% (n = 4) ihre 1. Krankheitsepisode. Alle anderen Schizophrenie-Patienten waren wegen einer neuerlichen Episode in stationärer Behandlung. In der Gruppe der affektiven Störungen litten 23 Patienten unter einer Manie, 32 an einer bipolaren Störung und 5 an einer Depression. Über 90% der Teilnehmer dieser Gruppe hatten früher bereits solche Episoden gehabt.

Unterschiedliche Flush-Reaktion

Im Vergleich zu den gesunden Probanden zeigten Schizophrenie-Patienten unter allen Bedingungen verminderte durchschnittliche Flush-Scores, „was einer verzögerten und abgeschwächten Niacin-Flush-Reaktion entspricht“, sagten die Autoren.

Obschon die Flush-Reaktionen in der Gruppe der affektiven Störungen denen bei den Schizophrenie-Patienten unter der geringsten Konzentration (0,0001 M) oder zum frühesten Zeitpunkt etwas ähnelten (5 min), waren die Reaktionen mit denen gesunder Probanden nach 20 min oder bei höherer Konzentration vergleichbar (0,01 M).

In der Gruppe der affektiven Störungen waren die Hautrötungen noch intensiver als in der Gruppe der Gesunden, bei 0,1 M nach 20 min, „was bedeutet, dass die Niacin-Reaktion verzögert aber nicht abgeschwächt war“, so die Autoren weiter.

Gesunde erzielten signifikant höhere Test-Werte als Schizophrenie-Patienten

Bei der weiteren statistischen Bearbeitung mit der multivariaten Varianzanalyse (MANOVA) zeigte sich, dass das Geschlecht und die Erkrankungsart sich in signifikanter Form in den Gesamtscores niederschlugen (p = 0,004 bzw. p = < 0,0001). Im Gegensatz dazu schien es keine Korrelation zwischen den Faktoren BMI, Bildungsniveau, Rauchen und der Flush-Reaktion zu geben. Zwischen Geschlecht und Krankheitsform wurden keine Interaktionen registriert.

Bei einer univariaten Kontrastanalyse – im Test bei den Werten 0,1 M und 15 min unterschiedlich – weisen sowohl die Gesunden als auch die Gruppe der affektiv gestörten Patienten signifikant höhere Werte auf als die Schizophrenie-Gruppe (affektiv/schizophren: p = 0,0001; gesund/schizophren: p = 0,001). Bei den Männern fanden sich signifikant höhere Scores als bei den Frauen (p = 0,004).

In den Gesamtscores kam die Gruppe der Gesunden auf signifikant höhere Werte als die Schizophrenie-Patienten (p < 0,0001), wenngleich Geschlecht und Ausbildungsniveau der Teilnehmer den Wert beeinflussten (p = 0,037 bzw. p = = 0,004).

Die Untersucher identifizierten reaktionsschwache Schizophrenie-Patienten durch eine Diskriminanzanalyse. Sie stellten fest, dass die Untergruppe der schwach auf Niacin Reagierenden 30,67% ausmachte.

 „Wir konnten bestätigen, dass die Teilnehmer der Schizophrenie-Gruppe eine verzögerte und abgeschwächte Flush-Reaktion auf der Haut nach Niacin-Stimulation zeigten, während die Gruppe der affektiv gestörten Patienten zwar eine verzögerte jedoch keine abgeschwächte oder gar auffällige Reaktion auf die Niacin-Anwendung aufwies. Diese Eigenheit in dieser Gruppe war bei höheren Methylnicotinat-Konzentrationen, wie z.B. 0,1 M, stärker ausgeprägt.“

Sie ergänzten, dass der „Gesamtscore als effektivster Indikator zur Unterscheidung zwischen Schizophrenie-Patienten und Gesunden identifiziert wurde und der Score-Unterschied bei 0,1 M nach 15 min am geeignetsten zur Differenzierung zwischen Schizophrenie und affektiven Störungen ist“.

Hohe Spezifität des Biomarker „abnorme Niacin-Reaktion“ für Schizophrenie bestätigt

Dr. Erik Messamore, Psychiatrie-Dozent an der Northeast Ohio Medical University und ärztlicher Leiter des Best Practices in Schizophrenia Treatment Center in Rootstown, Ohio, kommentiert die Studie für Medscape: „Die Studie war insofern gut geführt, als dass die Stichprobe groß genug war, um eine hohe Aussagekraft zu besitzen.“ Er hebt hervor an, dass die Untersucher „eine objektive Methode zur Quantifizierung der Flush-Reaktion verwendeten, die Flush-Reaktion von zwei unabhängigen Untersuchern bewerten ließen und es eine hohe Übereinstimmung zwischen den beiden Ratings gab, sodass die Methodologie insgesamt sehr stichhaltig war“.

„Die Studie stellt einen bedeutenden Beitrag auf diesem Gebiet dar“, sagt er, „sie bestätigt eindrücklich frühere Arbeiten, nach denen der Biomarker „abnorme Niacin-Reaktion“ eine hohe Spezifität für die Schizophrenie besitzt.“ Und weiter: „Wenn jemand mit einer psychiatrischen Problematik positiv für diesen Biomarker ist, liegt die Wahrscheinlichkeit einer Schizophrenie bei 90%.

Die Befunde bestätigen zudem das Potenzial dieser Methode für die Differenzierung zwischen einer Schizophrenie und einer bipolaren Störung, selbst wenn im Rahmen einer manischen Episode die Diagnose unter Verwendung der klinischen Standardkriterien aufgrund der assoziierten psychotischen Symptomatik schwierig sein kann.“

 
Wenn jemand mit einer psychiatrischen Problematik positiv für diesen Biomarker ist, liegt die Wahrscheinlichkeit einer Schizophrenie bei 90%. Dr. Erik Messamore
 

Er bezeichnet die Studie als „interessant“ und insofern auch „überraschend“, als dass sie 2 Komponenten der Niacin-Reaktion identifizierte: nicht nur die Gesamtintensität der Rötung, sondern auch den Verlauf der Erythementwicklung. Weiter wies er darauf hin, dass dies im Einklang mit der wachsenden Erkenntnis innerhalb der Niacin-Studien stünde, wonach die Häufigkeit der Reaktion gegenüber dem Ausmaß der Reaktion „2 verschiedene Phänomene anzeigen könnte, die scheinbar beide in gewisser Weise mit schweren psychischen Erkrankungen in Verbindung stehen“.

Differenzierung von Erkrankungsformen möglich

Diese Befunde haben für Messamore wichtige Implikationen. Patienten mit affektiven Störungen weichen von Gesunden hinsichtlich der Reaktionsgeschwindigkeit ab und Schizophrenie-Patienten hinsichtlich des Reaktionsausmaßes. Daraus ergeben sich verschiedene wichtige klinische Anwendungsmöglichkeiten.

„Manchmal können die Symptome einer bipolaren Störung mit denen einer Schizophrenie verwechselt werden und umgekehrt. Ein Biomarker wie der Niacin-Flush-Test könnte bei unklarer Diagnose den klinischen Entscheidungsprozess unterstützen.“

„Ferner stützt die Tatsache, dass manche Schizophrenie-Patienten eine deutlich schwächere Durchblutungsreaktion auf Niacin zeigen, während andere eine normale Reaktion aufweisen, die Vorstellung, dass dem Symptombild, das wir als Schizophrenie bezeichnen, unterschiedliche pathophysiologische Prozesse zugrunde liegen und das Krankheitsbild eher als Syndrom erscheint, das sich aus individuellen physiologischen Subtypen zusammensetzt, und weniger als Krankheitsentität.“

Ein weiterer Beitrag der Studie ist es für Messamore, dass sie die „Basis zur Einordnung anhaltender psychotischer Erkrankungen aufgrund physiologischer Parameter schafft, statt sich auf die rein deskriptive Symptomschiene zu verlassen“, da „die Forschungsdaten eine ganz klare Differenzierung zwischen einem ‚Niacin-Flush-normalen‘ und einem ‚Niacin-Flush-verminderten‘ Schizophrenie-Subtypus ermöglichen“.

Frühere Studien hätten für die auf Niacin schwach reagierende Untergruppe ein schlechteres kognitives und funktionelles Outcome angezeigt. Die Forschungsergebnisse ließen Gedanken an eine personalisierte Medizin oder eine verbesserte Wirkstoffentwicklung zur medikamentösen Therapie aufkommen.

Überdies machten die Befunde den Weg für Präventivmaßnahmen frei. „Wenn sich zeigen ließe, dass die Niacin-Reaktion bereits vor dem Einsetzen einer Psychose anormal ist, könnte es möglich werden, Personen mit einer reinen Prodromalsymptomatik zu identifizieren, bei denen sich letztlich eine volle Schizophrenie entwickeln würde.“ Zu zeigen, dass der Biomarker spezifisch mit einem Schizophrenie-Subtypus verbunden ist, könnte „letztlich auch zur Entdeckung neuer Risikogene für die Schizophrenie führen“.

Die Autoren folgerten, dass eine Erforschung der Anomalien des Membranphospholipid-Arachidonsäure-Prostaglandin-Pfades im Fettsäuremetabolismus oder anlagebedingten Konzentrationen die Tür zum Verständnis der Schizophrenie-Ätiologie aufstoßen und neue Perspektiven zur Erforschung der Erkrankung aufzeigen könnte. Dies würde auch die Entwicklung „effizienter Medikamente zur Behandlung der auf Niacin schwach reagierenden Schizophrenie-Patienten in der Zukunft erleichtern“.


Dieser Artikel wurde von Markuc Vieten aus www.medscape.com übersetzt und adaptiert.



REFERENZEN:

1. Sun L, et al: Shizophr Bull. (online) 25. Oktober 2017

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