Seit Montag wird einer der größten Medizinskandale der bundesdeutschen Geschichte vor dem Landgericht Essen verhandelt. Angeklagt ist der Bottroper Apotheker Peter S. Am 11. Juli 2017 hatte die Staatsanwaltschaft Essen Anklage wegen Falschdosierung von Krebsmedikamenten in 61.980 Fällen erhoben „in denen der Angeschuldigte Zubereitungen unter Verstoß gegen die Rezepturen und sonstigen Vorschriften in den Verkehr gebracht hat, und sieht „in jedem einzelnen Fall einen besonders schweren Fall des Verstoßes gegen das Arzneimittelgesetz“.
4.600 Patienten in 5 Bundesländern sind betroffen, der Betrugsschaden liegt bei 56 Millionen Euro. Die Staatsanwaltschaft und 18 Nebenkläger werfen S. vor, 35 verschiedene Zytostatika massenhaft gestreckt zu haben. Von November 2017 bis Januar 2018 sind 14 Verhandlungstage im Landgericht Essen angesetzt. Wird S. wegen gewerbsmäßigen Betrugs verurteilt, drohen ihm dafür 10 Jahre Haft.
Mal um ein Drittel, mal um 90% soll er die Wirkstoffe verdünnt haben, die er in Infusionsbeuteln oder Spritzen auslieferte. Manchmal fand sich auch nur Kochsalzlösung im Beutel. Die Alte Apotheke, seit 4 Generationen im Familienbesitz, belieferte von Januar 2012 bis November 2016 mindestens 38 verschiedene Praxen und Kliniken. Durch die gepanschten Präparate soll der Angeklagte einen Reingewinn von 2,5 Millionen Euro erwirtschaftet haben.
S. muss auch mit berufsrechtlichen Konsequenzen rechnen. Michael Schmitz, Sprecher der Apothekerkammer Westfalen-Lippe, will nicht vorgreifen, rechnet in Anbetracht der „Schwere der Vorwürfe“ aber definitiv mit der Eröffnung eines Berufsgerichtsverfahrens, das der Kammervorstand einleiten wird. Am Ende eines solchen Verfahrens könnte die „Erklärung der Berufsunwürdigkeit“ stehen, erklärt Schmitz im Gespräch mit Medcape.
Welche Patienten erhielten wie stark gestreckte Mittel?
In 27 Fällen wird S. wegen Körperverletzung angeklagt: Denn sichergestellte Medikamente wiesen erhebliche Mindermengen an den verschriebenen Wirkstoffen aus. Wegen Totschlags oder fahrlässiger Tötung muss sich der Angeklagte hingegen nicht verantworten: Den eindeutigen Beweis, dass ein Patient infolge verdünnter Anti-Krebs-Medikamente aus Bottrop starb, glaubt die Essener Staatsanwaltschaft nicht erbringen zu können.
Es gibt jedoch Indizien dafür. Und Schicksale. Wie das der krebskranken Nicole A., Mutter einer 8-jährigen Tochter. In einer Dokumentation von Panorama und dem Recherche-Zentrum Correctiv berichtet ihre Mutter Annelie Scholz, dass auch Nicole ihre Krebsmedikamente aus der Bottroper Apotheke erhielt. Doch die Medizin zeigte keinerlei Wirkung, der Tumor wuchs ungebremst. Als vor knapp einem Jahr der Skandal ans Licht kam und die Polizei Peter S. festnahm, hörte Nicole S. die Nachricht im Radio. Scholz erinnert sich, wie ihre Tochter in Tränen ausbrach, „Mama, ich krieg doch auch meine Medikamente von dem ...“ 3 Wochen später erlag Nicole A. dem Krebs.
Doch welche Patienten erhielten wie stark getreckte Mittel? Der Apotheker schweigt zu den Vorwürfen. Wie die zuständige Staatsanwältin Annette Milk erklärt, bedeutet das, „das wir nicht aufklären können, welche der Patienten nun tatsächlich zu wenig bekommen hatten und welche Patienten ordnungsgemäß versorgt wurden“. Von einigen Medikamenten wisse man, dass nur ein bestimmter, geringerer Prozentsatz eingekauft worden ist als der, der später mit den Kassen abgerechnet wurde.
„Dass das ohne jeglichen Patientenschaden durchgegangen sein kann, das kann man sich eigentlich aus medizinischer Sicht nicht vorstellen“, kommentiert Prof. Dr. Carsten Bokemeyer, Direktor des Onkologischen Zentrums am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf und Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Hämatologie und Medizinische Onkologie (DGHO) gegenüber Panorama. Es sei sehr wahrscheinlich, dass Patienten nicht so lange leben konnten wie das anders möglich gewesen wäre oder das Patienten nicht geheilt wurden und gestorben sind, die sonst vielleicht geheilt worden wären, meint Bokemeyer.
Wie der WDR zum Prozessauftakt berichtet, sieht Siegmund Benecken, Anwalt einer Krebspatientin, nicht die Wirtschaftsstrafkammer des Essener Landgerichts zuständig. „Ich denke, dass das Schicksal der Patienten im Hinblick auf versuchten Mord geprüft werden muss. Der Angeklagte ist mit der Anklage noch gut weggekommen.“ Und sein Kollege Hans Reinhardt ergänzt: „Wir gehen davon aus, dass vom Angeklagten billigend in Kauf genommen wurde, dass Patienten früher sterben.“ Die Anwälte der Nebenklage fordern die Verlegung des Prozesses an das Schwurgericht.
Die Alte Apotheke war bis zum Bekanntwerden der Vorwürfe im November 2016 eine onkologische Schwerpunktapotheke. Nach dem Inhaberwechsel – die Mutter des Angeklagten führt jetzt die Apotheke – werden keine krebshemmenden Medikamente mehr hergestellt. Die Amtsapothekerin der Stadt hatte die Produktionsstätte für die Präparate nach einer Durchsuchung Ende November sofort geschlossen. Schwerpunktapotheken wie die in Bottrop gibt es in Deutschland rund 300. Sie verfügen über sterile Labore und versorgen Patienten individuell mit krebshemmenden Medikamenten.
Couragierte Mitarbeiter deckten den Skandal auf
Dass der Skandal aufgedeckt werden konnte, ist 2 ehemaligen Mitarbeitern der Alten Apotheke zu verdanken. Maria Klein, pharmazeutisch-technischen Assistentin, stellte bis zum Herbst 2016 im Labor der Alten Apotheke Infusionen gegen Krebs her. Ihr fiel auf, dass der Chef sich oft nicht an die Regeln im Labor hielt. Er verstieß häufig gegen die Hygienevorschriften und mischte die Arzneimittel in Straßenkleidung. Auch soll er gelegentlich seinen Hund mit ins Reinraumlabor genommen haben.
Martin Porwoll, dem ehemaligen kaufmännischer Leiter der Alten Apotheke, fiel auf, dass die eingekauften Mengen nicht annähernd den ausgegebenen Mengen entsprachen. Er sammelte Abrechnungen und stellte regelmäßige Unterdosierungen fest. Seit der Zulassung des Krebsmittels Opdivo beispielsweise hatte S. 16.420 mg Opdivo eingekauft, aber das 3-fache ausgeliefert: 52.174 mg. Den Gewinn durch Opdivo weitet S. durch das Strecken des Medikaments innerhalb von 6 Monaten von 34.000 auf 615.000 Euro aus. Nachdem Porwoll im September 2016 Anzeige erstattet hatte, wurde er fristlos entlassen.
Kurz nach Porwolls Anzeige kommt Klein bei der Aufdeckung des Betruges ein Zufall zuhilfe. Eine Arztpraxis meldet, dass eine Patientin zu schwach für die Chemotherapie ist und man den Infusionsbeutel abholen solle. Klein macht sich auf den Weg, nimmt den Beutel in Empfang. Auf dem Rückweg zur Apotheke schüttelt sie den Beutel. Enthielte er tatsächlich Antikörper müsste er nach leichtem Schütteln eigentlich schäumen, doch das passiert nicht. So bringt Klein den Infusionsbeutel zur Polizei. Die Analyse ergibt: reine Kochsalzlösung. Das führt am 29. November zu einer Razzia in der Alten Apotheke. S. sitzt wegen Fluchtgefahr seitdem in Untersuchungshaft.
War die Stadt Bottrop nicht an der Aufklärung des Betruges interesssiert?
Der Apotheker, schreiben die Correctiv-Autoren David Schraven und Bastian Schlange, soll ein angesehener Geschäftsmann in Bottrop gewesen und Projekte der Stadt bezahlt haben. Habe sich die Stadt deshalb in den vergangenen Monaten kaum um eine Aufklärung des Skandals bemüht? Correctiv dazu: „Von Dezember 2016 bis Juni 2017 waren auf der Seite des Gesundheitsamtes Bottrop lediglich 5 Wirkstoffe aufgelistet, die als gepanscht galten. Die Stadt wusste jedoch mindestens seit Februar 2017, dass wesentlich mehr Stoffe gepanscht waren, hat dies aber nicht den Patienten mitgeteilt. Dafür wurde die Alte Apotheke informiert, der Vater und der Sohn kamen in Haft. Erst im Juni 2017 – 4 Monate später – wurden die Patienten über die 40 Stoffe informiert, die gepanscht waren.“
Schon Anfang Dezember 2013 ging nach Recherchen von Correctiv eine Anzeige gegen Peter S. ein – wegen unterdosierten und abgelaufenen Krebsmedikamenten. Allerdings wurden die Ermittlungen gegen S. 14 Tage später eingestellt. Begründung: Den Tatverdacht wegen Steuerhinterziehung durch Falschdosierung von Krebsmedikamenten könne man nicht nachweisen. Der Mann, der die Anzeige damals gestellt hatte, sagt, dass er selbst nicht in der Alten Apotheke beschäftigt war. Was dort vor sich ging, habe er allerdings schon seit 2002 gewusst. Als Quelle nannte er einen Labor-Mitarbeiter.
Kontrollverfahren muss nachgebessert werden
„Die Vorgänge in Bottrop haben das Vertrauen vieler Bürger in die Arzneimitteltherapie aufs Höchste erschüttert“, sagt Schmitz. Er berichtet auch von Krebspatienten, die jetzt erwägen, keine Zytostatika-Therapie mehr zu machen und sich lieber homöopathisch behandeln zu lassen.
Eugen Brysch von der Deutschen Stiftung Patientenschutz sieht nur eine Möglichkeit, das Vertrauen wiederherzustellen: „Der Gesetzgeber muss dringend die Kontrollen der Schwerpunktapotheken verbessern. Einmal im Vierteljahr muss es unangekündigte Kontrollen geben. Ebenso muss es eine Chargenkontrolle geben.“ Die ist bislang gesetzlich nicht vorgesehen. Und selbst Stichproben wurden bisher nie gezogen – zu teuer, fanden die Behörden.
Das Gesundheitsamt der Stadt Bottrop hat zwar die Alte Apotheke regelmäßig kontrolliert. Doch gefunden wurde: nichts. Willi Loeven, Gesundsheitsdezernet der Stadt Bottrop, sagt gegenüber Panorama: „Den Kontrolleuren sind die Hände gebunden. Für die äußeren Rahmenbedingungen konnten wir bestätigen, dass die Apotheke ordnungsgemäß aufgestellt ist, für die Produkte fehlen uns die Mittel und Möglichkeiten, eine korrekte Herstellung feststellen zu lassen.“
Das Problem liegt im Kontrollprocedere selbst: Kontrollen finden nur selten statt, meist alle 2 bis 4 Jahre und sie werden grundsätzlich angekündigt. „Man muss sich Gedanken machen, was sich ändern muss, doch man sollte das landesweit tun, möglicherweise auch bundesweit“, betont Loeven. Was tun die Länder? Anfragen von Panorama ergaben: Die meisten Aufsichtsbehörden wollen erst das Verfahren gegen den Bottroper Apotheker abwarten.
Seit Ende Oktober unangekündigte Kontrollen der Apotheken in NRW
Nordrhein-Westfalen hat sich jetzt doch zum Handeln entschlossen: Ende Oktober haben im Land geänderte Kontrollen von Krebsmedikamenten begonnen. Insgesamt 3 Proben von individuell hergestellten Chemotherapien wurden vom Landeszentrum für Gesundheit bisher geprüft. Mängel konnten nicht festgestellt werden. Die unangekündigten Kontrollen der Apotheken wurden vom NRW-Gesundheitsministerium ermöglicht. Das Ministerium hat vor 2 Monaten einen Erlass verabschiedet, der dafür sorgen soll, dass Apotheken, die Krebsmedikamente herstellen, besser überwacht werden. Dadurch sollen Patienten in Zukunft besser geschützt werden.
Auch die Apothekerkammer Westfalen-Lippe ist tätig geworden: Um das Vertrauen in die Arzneimitteltherapie wiederherzustellen und „und um zu verhindern, dass sich so etwas wiederholt“, hat der Vorstand der Apothekerkammer vor 3 Monaten einen Arbeitskreis gegründet. Mitglieder sind Zytostatikahersteller und die 42 Apotheken der insgesamt 2.000 Apotheken im Kammerbereich Westfalen-Lippe, die Zytostatika zur Krebstherapie mischen und an Praxen und Kliniken liefern.
Mit dabei sind auch Arzneimittel-Experten der Universität Münster „Wir haben ein Expertengremium gegründet, das noch in diesem Jahr Vorschläge erarbeiten soll, wie das System überarbeitet werden kann und sollte.“ Geplant, so Schmitz, ist ein ganzes Bündel an Maßnahmen, darunter verbesserte Kontrollen, Schutz von Whistleblowern und eine andere Form der Honorierung der Zytostatikaherstellung durch die Kassen. „Wenn eine so furchtbare Sache überhaupt etwas Gutes hat, dann das, dass dadurch jetzt endlich Dinge in Bewegung kommen, die hätten schon längst passieren müssen“, meint Schmitz.
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Diesen Artikel so zitieren: Gepanschte Krebsmedikamente: Prozess zu einem der größten bundesdeutschen Medizinskandale hat begonnen - Medscape - 15. Nov 2017.
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