Spinale Muskelatrophie: Bisher keine Therapien, jetzt mit Antisense-RNA und Gentherapie gleich 2 aussichtsreiche Ansätze

Dr. Jürgen Sartorius

Interessenkonflikte

8. November 2017

Für Säuglinge mit spinaler Muskelatrophie gibt es 2 neue aussichtsreiche Therapieansätze – das Medikament Nusinersen und eine Gentherapie –, die hinsichtlich der motorischen Entwicklung und der Lebenserwartung zu Erfolgen führen können, die bisher unmöglich erschienen. Nusinersen (Spinraza®, Ionis und Biogen) wird in der Erhaltungsphase 3-mal jährlich appliziert. Außerdem wurde eine Gentherapie erprobt, die eine einmalige Anwendung erfordert. Zu beiden Therapien sind nun im New England Journal of Medicine Studien mit etwa 2-jährigen Laufzeiten veröffentlicht worden [1;2].

Die spinale Muskelatrophie (SMA) wird rezessiv vererbt und bewirkt in ihrer stärksten Ausprägung (SMA Typ I) bereits im Säuglingsalter den Untergang von Motoneuronen im Rückenmark und Hirnstamm. Die körperliche Entwicklung der Kinder ist – bei erhaltenen kognitiven Funktionen – durch den Ausfall der Steuerung zahlreicher Muskeln gekennzeichnet, darunter auch der Schluck- und Atemmuskulatur. In schweren Fällen erreichten die Kinder bislang trotz Beatmung und weiterer Maßnahmen im Mittel nicht mehr als das 2. Lebensjahr.

„Durch Nusinersen wurde die bisher unbehandelbare Erkrankung SMA therapierbar“, freut sich der Neuropädiater Dr. Jonas Denecke von der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE). Aber er schränkt auch ein: „Jedoch sprechen nicht alle Patienten darauf an und es kommt nicht zu einem vollständigen Stopp der Erkrankung. Deshalb ist auch die hier genannte Gentherapie ein vielversprechender Ansatz.“

Beide Therapieoptionen zielen darauf ab, möglichst frühzeitig den genetisch bedingten Mangel des für die Motoneuronen essentiellen Genproduktes SMN zu beheben:

  • Bei der Gentherapie des Herstellers Avexis wird einmalig das fehlende Gen in einem apathogenen Adenovirus-assoziierten Vektor infundiert.

  • Bei der medikamentösen Therapie wird das Antisense-Oligonukleotid Nusinersen lebenslang 3-mal jährlich per Lumbalpunktion appliziert. Seine Wirkung beruht darauf, den Mangel des Genproduktes SMN zu beheben, indem es das Splicing einer funktionsarmen SMN-Genkopie optimiert und so den Krankheitsverlauf positiv beeinflusst. Nusinersen ist seit Juli 2017 in Deutschland für alle Formen der SMA zugelassen.

Nusinersen verdoppelt Überlebenwahrscheinlichkeit im 1. Jahr

In der ENDEAR-Studie schloss die Gruppe um den Erstautor Dr. Richard S. Finkel, Nemours Childen`s Hospital, Orlando, USA, 121 Säuglinge mit SMA I ein und ordnete 2 Drittel der Verumgruppe und 1 Drittel der Placebogruppe zu. Im Alter von 2 bis 8 Monaten erhielten 81 Kinder die 1. Dosis Nusi nersen, dann 2, 4, 9 und 26 Wochen später erneut und danach alle 4 Monate eine Erhaltungsdosis.

 
Durch Nusinersen wurde die bisher unbehandelbare Erkrankung SMA therapierbar. Dr. Jonas Denecke
 

Nach 2 Jahren hatten 51% der Kinder der Verumgruppe definierte Fortschritte nach dem HINE-Score (Hammersmith Infant Neurological Examination, Score zur Beurteilung von altersentsprechender Kopfkontrolle, Greifen mit Hand, Drehen im Liegen) erreicht, in der Kontrollgruppe kein einziges Kind. Die Studie war deshalb bereits frühzeitig abgebrochen worden. Die Wahrscheinlichkeit für ein Überleben ohne permanente Beatmung lag in der Verumgruppe nach einem Behandlungsjahr bei 0,53 und in der Kontrollgruppe bei 0,27, war also etwa doppelt so hoch, der Unterschied war signifikant (p = 0,005).

Tendenziell profitierten die Kinder umso mehr von der Behandlung, je früher diese eingesetzt hatte. Nebenwirkungen traten in beiden Gruppen in ähnlichem Maße auf.

Gentherapie bisher nur in einer Pilotstudie getestet

In die Gentherapie schloss die Gruppe um Dr. Jerry R. Mendell am Nationwide Children`s Hospital, Columbus, Ohio, 15 ebenfalls an SMA I schwer erkrankte Säuglinge im Alter von 1 bis 8 Monaten ein. Die ersten 3 Kinder erhielten intravenös eine niedrigere, die später Rekrutierten eine 3-fach höhere Dosis von SMN-DNS, eingebettet in einen apathogenen Vektor, der für eine Inkorporation des SMN-Gens in die Zelle sorgt.

Der primäre Endpunkt dieser Studie war die Sicherheit. Der sekundäre war die Zeit bis zum Tod oder dem notwendigen Einsatz permanenter Beatmung. Nach 20 Monaten war dieser allerdings bei keinem der Kinder eingetreten. Es gab keine Kontrollgruppe, aber lediglich 8% vergleichbar erkrankter Kinder kamen in diesem Alter bisher ohne permanente Beatmung aus.

 
Die Daten der gentherapeutischen Pilotstudie von Mendell sind vielversprechend, aber sie beziehen sich nur auf 15 Fälle. Dr. Jonas Denecke
 

In der Beurteilung der motorischen Fähigkeiten hatten die Kinder mit der höheren Dosis mehr Fortschritte gemacht. 8 von 9 dieser Kinder erreichten im CHOP-INTEND-Score (Children`s Hospital of Philadelphia Infant Test of Neuromuscular Disorders, Score zur Beurteilung von altersentsprechenden motorischen Fähigkeiten) über 50 von 64 Punkten. Kinder mit SMA I blieben bisher stets unter einem Level von 40 Punkten.

Bei 4 Kindern kam es zu stark erhöhten Leberwerten, die eine Prednisolon-Behandlung erforderten. Aufgrund dieser Erfahrungen erhielten Kinder, die später in die Studie aufgenommen wurden, zu Beginn der Behandlung präventive Dosen von Prednisolon über 30 Tage.

Welche Therapieoption ist vielversprechender?

„Die Nusinersen-Therapie ist zwar neu, aber sehr spezifisch wirksam und bereits zugelassen. Andererseits liegen noch keine Langzeitdaten vor und der Applikationsweg ist nicht ohne Belastung für die Patienten. Ich sehe sie somit eher als Verfahren an, welches in Zukunft durch weitere Therapieoptionen erweitert oder ersetzt werden wird“, äußert sich Denecke.

„Die Daten der gentherapeutischen Pilotstudie von Mendell sind vielversprechend, aber beziehen sich nur auf 15 Fälle. Eine Einschätzung längerfristiger Nebenwirkungen ist deutlich schwieriger als bei der Antisense-Oligonukleotid-Therapie. Außerdem weiß ich nicht, wie rasch diese Gentherapie breit verfügbar sein wird“, wägt Denecke ab. „Positiv ist die weniger belastende Applikation und die Verfügbarkeit des SMN-Proteins auch außerhalb des ZNS.“

Die Forscher, die die Gentherapie anwendeten, verweisen auf Tierexperimente, die zeigten, dass je früher die Genübertragung erfolgte, die positive Entwicklung umso besser verlief. Die Kinder in ihrer Studie, die schon im 1. Lebensmonat behandelt wurden, da ihre Krankheit aus Genanalysen der Eltern bereits bekannt war, zeigten die größten Therapieerfolge. Die Erklärung dafür könnte sein, dass die Motoneurone das SMN-Protein nicht zu ihrer Entstehung, sondern zu ihrer Erhaltung benötigen. Die Kinder werden also mit intakten Motoneuronen geboren, diese werden aber durch den Mangel an SMN-Protein in der Folge geschädigt und letztlich zerstört.

 
Somit ist, wenn eine SMA differentialdiagnostisch in Betracht gezogen wird, eine unverzügliche genetische Diagnosesicherung heute wichtiger denn je. Dr. Jonas Denecke
 

Einmal zerstörte Neuronen werden nach dem derzeitigen Stand der Forschung auch durch die Gegenwart von intaktem SMN-Protein nicht regeneriert. Somit können durch beide Therapien keine Schädigungen rückgängig gemacht, sondern bestenfalls neue Schäden an Motoneuronen verhindert werden. Diese Erklärung gilt somit für die Wirksamkeit, aber auch die Grenzen beider Therapien.

„Die Forschung zu Therapieoptionen der SMA ist aktuell außerordentlich dynamisch.“, so Denecke. „Weitere medikamentöse wie gentherapeutische Ansätze befinden sich in teils fortgeschrittenen Studien. Mitentscheidend für den Therapieerfolg ist eine frühzeitige Diagnosestellung. Somit ist, wenn eine SMA differentialdiagnostisch in Betracht gezogen wird, eine unverzügliche genetische Diagnosesicherung heute wichtiger denn je.“



REFERENZEN:

1. Finkel RS, et al: NEJM 2017;377:1723-1732

2. Mendell, JR et al: NEJM 2017;377:1713-1722

Kommentar

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