Heilpraktiker im Zwielicht: Der Prozess gegen einen 52-jährigen Heilpraktiker und Psychotherapeuten aus Aachen beginnt heute vor der 2. Großen Strafkammer. 270 Milligramm 2C-E sollen der Beschuldigte und seine Ehefrau auf einem Psycholyse-Seminar zur Bewusstseinserweiterung an die Teilnehmer verteilt haben.
Ende 2016 hatte die Staatsanwaltschaft Stade Anklage vor der Großen Strafkammer des Landgerichts Stade erhoben. Es geht dabei sowohl um den Vorwurf des unerlaubten Besitzes von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge als auch um unerlaubtes Überlassen von Betäubungsmitteln zum unmittelbaren Verbrauch, teilte Oberstaatsanwalt Kai Thomas Breas, Sprecher der Staatsanwaltschaft Stade, mit.
Wie Petra Baars, Richterin am Landgericht Stade und Pressesprecherin des Gerichts bestätigt, wurde das Strafverfahren gegen die mitangeklagte 48 Jahre alte Ehefrau des Angeklagten mit Zustimmung der Staatsanwaltschaft Stade gegen Zahlung einer Geldbuße nach § 153 a StPO eingestellt. Ohnehin war die Ehefrau nur wegen Überlassens von Betäubungsmitteln angeklagt worden. Keinen hinreichenden Tatverdacht sah die Kammer hingegen dafür, dass die Ehefrau wusste, dass ihr Ehemann Betäubungsmittel in nicht geringer Menge besessen und in der Tagungsstätte deponiert haben soll. Für den Prozess sind zunächst 3 Verhandlungstage vorgesehen.
Wahnvorstellungen statt Bewusstseinserweiterung
Das Heilpraktiker-Ehepaar hatte ab dem 3. September 2015 in einer Tagungsstätte in Handeloh gemeinsam ein Seminar für 27 Teilnehmer abgehalten, in dem es um die „Förderung der Bewusstseinsentwicklung“ ging. Dabei sollen verschiedene Betäubungsmittel – darunter die bewusstseinserweiternde Droge 2C-E – zwecks Durchführung einer Psycholyse an die Teilnehmer verteilt worden sein.
Unter den Teilnehmern waren Heilpraktiker, Ärzte, Homöopathen und Psychologen. Nach Augenzeugen-Berichten torkelten die Teilnehmer orientierungslos umher, getrieben von quälenden Wahnvorstellungen. Oder sie wälzten sich auf dem Boden, rangen um Luft, wandten sich in Krämpfen, verletzten sich selbst. Aufgrund der Einnahme mussten die 27 Seminar-Teilnehmer mit zum Teil lebensbedrohlichen Zuständen in umliegende Krankenhäuser gebracht werden.
160 Helfer hatten zuvor stundenlang versucht, das Schlimmste zu verhindern. Zahlreiche Krankenwagen, Feuerwehrfahrzeuge und ein Rettungshubschrauber verwandelten die sonst so stille niedersächsische Gemeinde Handeloh in ein riesiges Feldlazarett. Notärzte und Sanitäter spritzten Beruhigungsmittel, verabreichten Sauerstoff, gaben Herzmassagen, legten Verbände an.
Heilpraktiker steht dem „Weltenlehrer“ Samuel Widmer nahe
Das eingesetzte Halluzinogen 2C-E ist in der Drogenszene unter dem Namen Aquarust bekannt. Es kann wie Speed oder Kokain Wahnbilder auslösen und verändert die Wahrnehmung von Farben und Geräuschen. Nebenwirkungen sind oft Atemnot, Schmerzen, Krämpfe und Herzrhythmusstörungen.
Der jetzt in Stade angeklagte Heilpraktiker steht dem im Mai verstorbenen Schweizer Drogenguru und „Weltenlehrer“ Samuel Widmer nahe. Widmers Kirschblüten-Gemeinschaft wird von der Zentralstelle für Weltanschauungsfragen der Evangelischen Kirche als „problematisch“ eingestuft, Kritiker sprechen von einer Sekte.
Psycholyse wissenschaftlich nicht anerkannt
Bei der Psycholyse werden verbotene psychoaktive Substanzen wie LSD und Amphetamine eingesetzt. Das Verfahren ist wissenschaftlich nicht anerkannt und die Kosten werden von den Kassen nicht übernommen.
Historischer Bezugspunkt der Psycholyse sind Mythen und Naturreligionen wie der Schamanismus. Auch dabei geht es um die Öffnung der Seele – mit Drogen, durch Musik, Tanz und Spiritualität. Befürworter der Psycholyse glauben, dass nur mithilfe bestimmter Drogen besonders tiefe Schichten des Unterbewussten erreicht werden können. Sie halten die Methoden denen der herkömmlichen analytischen Techniken wie etwa der klassischen Gesprächstherapie überlegen.
„Total absurd“, sagt dazu Prof. Dr. Arno Deister, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie in einem Bericht auf SpON . Die Heilung psychischer Krankheiten erfordere die Auseinandersetzung mit der eigenen Person. Dies sei vor allem im Dialog mit einem kompetenten Therapeuten möglich. Nur so könne die Bereitschaft geweckt werden, etwas zu verändern.
Drogenkonsum führe jedoch gerade nicht zur Bewusstseinserweiterung, sondern lediglich zur Auflösung von Bewusstsein. Wer illegale Rauschmittel verabreicht, macht sich laut Deister „schlicht strafbar, er begeht Körperverletzung“.
Auch Dr. Iris Hauth, Past-Präsidentin und im Vorstand der DGPPN, stellt im Gespräch mit der Südwest Presse klar: „Wenn jemand zu diesem Zweck illegale Drogen verabreicht, dann ist das eine Straftat. Außerdem wird dabei dem Machtmissbrauch durch den Therapeuten Tür und Tor geöffnet.“
„Psycholyse ist ein Versprechen auf schnelle Heilung, das therapeutisch nicht eingelöst werden kann“, sagt auch Prof. Dr. Michael Utsch von der Zentralstelle für Weltanschauungsfragen der Evangelischen Kirche in der WELT. „Damit bekommt die Methode fast einen Heilscharakter“, warnt Utsch.
Drogenkonsum mit teils irreparablen Folgen
Laszlo Pota, Leiter der Fachgruppe Sucht beim Berufsverband Deutscher Psychologinnen und Psychologen, hält Therapiesitzungen wie die Psycholyse für hochgradig gefährlich. In einer Dokumentation des Magazins Kontrovers, des Politikmagazins des BR-Fernsehens, sagt er: „Das einzusetzen bedeutet, dass man unter Umständen Gefahr läuft, jemanden in einer Form zu beeinflussen, zu manipulieren, dass wir die Folgen dann nicht mehr aufhalten können. Früher sagte man: ‚Hängen geblieben auf LSD‘. Jemand, der einen Horrortrip erlebt, der kann unter Umständen ein Leben lang darauf hängen bleiben oder aber eben einen Schaden erleiden, der schwerste Traumata auslösen kann.“ Experimentiere jemand damit im therapeutischen Bereich, dann „weiß derjenige nicht, was er tut“, stellt Pota klar.
Viele Psycholyse-Anhänger sind approbierte Ärzte oder Psychotherapeuten. So wie der Berliner Allgemeinmediziner Garri R., dem 2009 eine Gruppensitzung mit Ecstasy (MDMA) entglitt. 2 Menschen starben in der Folge. Der Therapeut wurde zu einer Haftstrafe von 4 Jahren und 3 Monaten verurteilt, seine Berufserlaubnis hat er verloren.
Auch Garri R. hat in der Schweiz bei Samuel Widmer diese Form der Psychotherapie gelernt. Ein weiterer Widmer-Anhänger ist der Diplom-Psychologe und Psychotherapeut Christoph Kahse. In der Kontrovers-Dokumentation sind Aufnahmen aus einer Psycholyse-Sitzung Kahses zu sehen. Dort bekommen die Probanden zunächst MDMA und nach 3 Stunden LSD verabreicht.
Auf Einladung der studentischen Fachschaft hielt Kahse an der Universität Erfurt einen Vortrag vor Psychologie-Studenten und erklärte, dass in der Psycholyse MDMA, LSD und andere Drogen zur therapeutischen Behandlung psychischer Probleme, zur Selbsterkenntnis und Persönlichkeits-Entwicklung benutzt würden. Und er stellt klar: „Unter Psycholyse verstehe ich den bewussten und ritualisierten Gebrauch von Psychedelika wie zum Beispiel MDMA oder LSD.“
Kahse distanziert sich vom Vorgehen in Berlin, die Vorfälle seien „verursacht durch einen in jeder Hinsicht unsachgemäßen Umgang mit den verwendeten Medikamenten“. Allerdings hatten laut Kontrovers sowohl Kahse als auch R. herausgehobene Positionen bei Widmer inne. Wie der Bayerische Rundfunk unlängst berichtete, wurde die Psychotherapeutenkammer Bayern aufgrund der Recherchen von Kontrovers jetzt aktiv und prüft, ob sie weitere Schritte gegen Kahse einleite
Heilpraktiker-Ausbildungen auf dem Prüfstand
Die Vorfälle in Handeloh und die im August 2016 bekannt gewordenen Todesfälle im alternativen Krebszentrum Brüggen (wie Medscape berichtete) hatten jedenfalls den Pflegebeauftragten der Bundesregierung Josef Karl Laumann im September vergangenen Jahres dazu bewogen, die Heilpraktiker-Ausbildung prüfen zu lassen.
Wie Medscape berichtete, ist das auch geschehen. Künftig gibt es einheitliche Überprüfungs-Richtlinien für Heilpraktiker-Anwärter. Laut Bundesgesundheitsministerium (BGM) soll so die Qualität der Überprüfung und damit auch der Patientenschutz verbessert werden, die Leitlinien zur Überprüfung von Heilpraktiker-Anwärtern sollen bis spätestens zum 31. Dezember 2017 im Bundesanzeiger bekannt gemacht werden.
„Heilpraktiker dürfen mehr, als sie können“, hatte das Informations-Netzwerk Homöopathie (INH) in einer Stellungnahme im September 2016 klar gestellt. Das INH kritisiert, dass es keine festgelegten Ausbildungsinhalte gibt, die vor dem Amtsarzt abzulegenden Prüfungen sich auf die Abfrage theoretischen Wissens beschränken, das man sich aneignen kann, ohne je einen Patienten gesehen zu haben, es gibt auch keine gesetzlich geregelte Pflicht zur Weiterbildung.
Auch die geplante begrenzte Novellierung des Heilpraktiker-Gesetzes ändert daran nichts, wie der Münsteraner Kreis in seinem Positionspapier zur Heilpraktiker-Ausbildung deutlich gemacht hat.
Nach wie vor ist der Gang zum Heilpraktiker beliebt. Eine wichtige Rolle spielt aus Sicht des INH dabei, dass bei den Ärzten das Sprechzimmer quasi „wegrationalisiert“ wurde und Patienten sich aufgrund dessen alleingelassen, als „Fall“ behandelt und abgefertigt fühlen.
Keine gute Entwicklung, meint das INH und setzt sich für eine Aufwertung und bessere Honorierung der „sprechenden Medizin“ ein. „Es wäre gut, wenn in der Medizin gar keine Lücke entstünde, in der sich die Patienten auf die Suche nach ‚Alternativen‘ machen müssen“, stellt die Allgemeinmedizinerin Dr. Natalie Grams fest, Sprecherin des Informationsnetzwerks und Mitglied des Münsteraner Kreises.
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Diesen Artikel so zitieren: Krankenhaus statt Bewusstseinserweiterung: Prozessbeginn zum „Psycholyse-Seminar“ - Medscape - 2. Nov 2017.
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