Multiple Sklerose, Natalizumab und das PML-Risiko: Immunsuppressiva und lange Behandlungsdauer erhöhen das Risiko

Dr. Susanne Heinzl

Interessenkonflikte

27. Oktober 2017

Anhand der Daten von 4 großen Beobachtungsstudien, in denen Natalizumab bei 37.249 Patienten mit Multipler Sklerose (MS) untersucht worden war, haben Dr. Pei-Ran Ho und Kollegen von der Firma Biogen, Cambridge, Massachusetts, USA, eine neue Methode entwickelt, um das Risiko für die Entwicklung einer progressiven multifokalen Leukenzephalopathie (PML) zu berechnen.

Grundlage waren patientenbezogene Risikofaktoren aus den Studien unter Berücksichtigung des JCV-Antikörperstatus (JCV: John-Cunningham-Virus) und des vorherigen Gebrauchs von Immunsuppressiva. Die Ergebnisse wurden in Lancet Neurology publiziert [1].

„Sehr wichtig für die tägliche Praxis ist, dass die Methode eine Berechnung des kumulativen Risikos für Patienten unter Natalizumab-Therapie entsprechend ihrer Therapiedauer liefert“, so Prof. Dr.  Tobias Derfuss und Prof. Dr. Ludwig Kappos, Neurologische Klinik des Universitätshospitals, Basel, im begleitenden Editorial [2].

 
Sehr wichtig für die tägliche Praxis ist, dass die Methode eine Berechnung des kumulativen Risikos für Patienten unter Natalizumab-Therapie entsprechend ihrer Therapiedauer liefert. Prof. Dr. Tobias Derfuss und Prof. Dr. Ludwig Kappos
 

Die Zeit sei nun reif, um derzeitige Kenntnisse zur Risikostratifizierung und auch den JCV-Index in die klinische Entscheidungsfindung bei Patienten mit MS einzubeziehen und so einen Schritt Richtung personalisierter Medizin zu gehen.

Neue Analyse nach Kritik an früheren Berechnungen

Biogen hatte schon 2012 im New England Journal of Medicine Verfahren zur Risikoberechnung und Risikofaktoren für die PML vorgestellt. Die dort erhobenen Werte waren jedoch kritisiert worden: Eine Münsteraner Arbeitsgruppe befand sie als zu niedrig (wie Medscape berichtete). Ho und seine Kollegen präsentierten nun verlässlichere Berechnungen, die vermehrt auf konkreten Fakten und weniger auf Annahmen beruhten.

Die Daten der Patienten aus den 4 offenen Beobachtungsstudien STRATIFY-2, STRATA, TOP und TYGRIS wurden gepoolt und mit und ohne Schätzung für fehlende Werte zum JCV-Antikörperstatus und früherem Immunsuppressiva-Gebrauch analysiert. Bei JCV-Antikörper-positiven Patienten errechneten die Autoren das kumulative PML-Risiko mit und ohne vorherige Immunsuppression mit Hilfe einer Kaplan-Meyer-Analyse. Das jährliche PML-Risiko (pro 12 Infusionen Natalizumab) für Patienten ohne PML im vorangegangenen Jahr wurde mit Hilfe der Life-Table-Methode erfasst. Bei JCV-Antikörper-positiven Patienten verfeinerten die Autoren die Risikoschätzungen mit Hilfe des JCV-Antikörper-Index weiter.

Je länger die Therapie, desto höher das PML-Risiko

Bei 156 der 37.249 gepoolten Patienten kam es zu einer PML (4,19/1.000 Patienten). Bei Patienten ohne JCV-Antikörper (n = 13.996) war das errechnete PML-Risiko mit 0,07/1.000 Patienten gering. Das kumulierte PML-Risiko über 6 Jahre (72 Infusionen) stieg bei Vorliegen von JCV-Antikörpern und vorheriger Immunsuppression auf 27/1.000 Patienten und ohne vorherige Immunsuppression auf 17/1.000 Patienten.

 
Aber das größte und wichtigste Problem ist die steigende Gesamtinzidenz der Natalizumab-assoziierten PML … auf die derzeitigen Berechnungen von mehr als 4,0/1.000 Patienten. Prof. Dr. Tobias Derfuss und Prof. Dr. Ludwig Kappos
 

Wie schon in vorhergehenden Analysen gezeigt wurde, so konnten Ho und Kollegen nun auch in dieser Arbeit zeigen, dass das PML-Risiko mit steigendem JCV-Index zunahm. Für die Risikobeurteilung der Patienten legten sie 3 Indexbereiche fest: ≤ 0,9, > 0,9 bis ≤ 1,5 und > 1,5. Je höher der JCV-Index bei den Patienten war und je länger die Therapie dauerte, umso größer war das kumulative Risiko für eine PML:

  • Bei einem Index bis 0,9 betrug das kumulative Risiko nach 6 Jahren 1,6/1.000 Patienten,

  • bei einem Index zwischen 0,9 und 1,5 betrug es 8,5/1.000 Patienten und

  • bei einem Index über 1,5 lag es bei 28/1.000 Patienten.

Noch viele ungelöste Fragen

Nach Meinung der Editorialisten bedeutet diese Studie zwar einen Fortschritt, aber es gibt noch viele ungelöste Fragen. Hierzu gehören zum Beispiel die niedrige Spezifität des Antikörpertests zur PML-Vorhersage, die Serokonversionsraten von bis zu 10% pro Jahr sowie die Variabilität der JCV-Indexwerte: Denn pro Jahr ändert sich bei mehr als 3% der Patienten der JCV-Index von unter 0,9 auf über 1,5.

„Aber das größte und wichtigste Problem, der Elefant im Raum, ist die steigende Gesamtinzidenz der Natalizumab-assoziierten PML von den ersten Berechnungen von 1,0/1.000 Personen, die mit Natalizumab behandelt werden, kurz nachdem es zum zweiten Mal zugelassen wurde, auf die derzeitigen Berechnungen von mehr als 4,0/1.000 Patienten“, so die Basler Neurologen.

 
Warum bessere Kenntnisse zur Risikostratifizierung nicht zu einem Rückgang der Inzidenz geführt haben, bleibt unklar. Prof. Dr. Tobias Derfuss und Prof. Dr. Ludwig Kappos
 

Im Juni 2017 seien 730 bestätigte PML-Fälle im Zusammenhang mit einer Natalizumab-Behandlung bekannt gewesen. „Warum bessere Kenntnisse zur Risikostratifizierung nicht zu einem Rückgang der Inzidenz geführt haben, bleibt unklar.“ Es bleibe zu hoffen, dass mit einer robusteren Risikoberechnung und alternativen Behandlungsmethoden zum Ersatz von Natalizumab bei Hochrisikopatienten Neurologen beim Einsatz des Antikörpers vorsichtiger würden. So könne man eine Reduktion der Natalizumab-assoziierten PML erreichen.



REFERENZEN:

1. Ho PR, et al: Lancet Neurology (online) 29. September 2017

2. Derfuss T, et al: Lancet Neurology (online) 29. September 2017

Kommentar

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