Berlin – In Frankreich gingen diesen Sommer Impfgegner auf die Barrikaden, nachdem der Staat eine Impfpflicht für Kleinkinder beschlossen hatte. Impfgegnerschaft und -skeptizismus sind weltweite Probleme und ausgerechnet in Europa gedeihen sie am besten.

Dr. Pauline Paterson
„Das Vertrauen in die Impfsicherheit ist vor allem in den europäischen Ländern am schwächsten“, sagte Dr. Pauline Paterson, Forscherin und Co-Direktorin vom „Vaccine Confidence Project“ der London School of Hygiene & Tropical Medicine, Großbritannien, auf dem World Health Summit (WHS) 2017 in Berlin [1]. Experten diskutierten dort Ursachen und Lösungen für die Impfverdrossenheit und was Ärzte tun können, um diesem Trend entgegenzuwirken.
Strategien sind gefragt, denn in einigen industrialisierten Ländern sinken die Impfraten. In Europa wurden 2015 rund 26.000 Masernfälle registriert, allein in Deutschland waren es 2.464 Fälle – nur noch die Zahlen von Kirgisistan waren im europäischen Vergleich höher. Dabei ist Frankreich das Land mit dem geringsten Vertrauen in Impfstoffe.
In einer Umfrage des „Vaccine Confidence Project“ mit rund 66.000 Teilnehmern aus 67 Ländern, antworteten 40% der Franzosen, dass sie nicht an die Aussage „Impfstoffe sind sicher“ glauben – im globalen Durchschnitt waren es nur 12%.
Mythen und Gerüchte
Ärzte sehen sich zunehmend mit Impfskeptikern konfrontiert. Gerüchte und Mythen, die jeder wissenschaftlichen Evidenz entbehren, verbreiten sich weltweit: So behauptet die Anti-Impfbewegung etwa, es gäbe einen Zusammenhang zwischen dem MMR-Impfstoff gegen Masern, Mumps und Röteln (MMR) und Autismus, erinnerte Prof. Dr. Heidi Larson, Direktorin des „Vaccine Confidence Project“.

Prof. Dr. Heidi Larson
Das Misstrauen gegen Regierungen sei oft groß, es grassierten Gerüchte, diese machten mit der pharmazeutischen Industrie gemeinsame Sache – und schädliche Substanzen in den Impfstoffen stellten eine Gefahr für die Gesundheit der Kinder dar. In den sozialen Netzwerken tauschen Impfgegner international ihre Mythen aus. Den harten Kern der Impfgegner zu überzeugen, sei eher schwierig, selbst nach Ausbruch von Epidemien gäben diese kaum ihre Haltung auf, sagte Larson.
Recall-System könnte einen Teil des Problems lösen
Doch es gibt auch die Gruppe der Unentschlossenen und jene, die das Impfen ihrer Kinder nicht mehr als Priorität sehen, weil sie denken, dass sie ohnehin nicht erkranken. „Rund 2 Drittel der Eltern, die ihre Kinder nicht impfen lassen, geben an, dass sie zu beschäftigt seien oder es einfach vergessen hätten“, berichtete Prof. Dr. Horst von Bernuth, Leiter der Sektion Immunologie an der Charité Berlin, Klinik für Pädiatrie. „Meiner Meinung könnten wir 2 Drittel der Menschen durch simple Erinnerungen erreichen, wir müssen nur ein obligatorisches Recall-System einrichten“, so der Pädiater.
Viele Eltern sähen das Impfen als individuelle Entscheidung an, die nur ihr Kind betreffe. „Leider vergessen wir Ärzte zu sagen, dass das Impfen nicht nur als eigener Schutz, sondern auch zum Schutz der anderen dient, die sich nicht impfen lassen können, weil sie etwa unter Immunsuppression stehen oder eine Chemotherapie bekommen“, so von Bernuth.
„Impfungen sind in gewisser Weise auch ein Opfer ihres eigenen Erfolges“, betonte der Mediziner. So hätten viele junge Eltern keine Bekanntschaft mit den Masern gemacht und unterschätzen deshalb die Krankheit. Wenn aber der 1. Todesfall eines Kindes berichtet werde, löse dies einen Ansturm der Eltern auf die Arztpraxen aus. „Auf dem Höhepunkt der Masern-Epidemie vor 2 Jahren gab es in Berlin keinen Impfstoff mehr“, ergänzte er.
Einer Impfpflicht für Deutschland erteilte von Bernuth jedoch eine klare Absage. Ob die Zwangsmaßnahmen in Frankreich wirklich effektiv sein werden, bezweifelt er, da mit großem Widerstand der streikerprobten Franzosen zu rechnen sei.
Vielmehr sollte nach seiner Ansicht der niedrigschwellige Zugang zur Impfung auch in Deutschland erleichtert werden, etwa in den Kindergärten und Schulen, an Universitäten und in den Seniorenheimen. „Eine lebenslange obligatorische Erinnerung und Information anstatt Zwangsimpfungen könnte meiner Ansicht nach die Impfverdrossenheit überwinden“, meint er.
Kommunikation mit Skeptikern
Doch wie sollten Ärzte mit Skeptikern kommunizieren? Paterson betonte, dass es wichtig sei, wie Ärzte das Thema Impfung bei den Eltern ansprächen. So machte es in einer Untersuchung von 2013, die in Pediatrics erschienen ist, einen Unterschied, ob der Arzt entschieden zu den Eltern sagte „Es ist Zeit für die Impfungen, wir werden gegen MMR und Windpocken impfen“ oder nur fragte „Was halten Sie von Impfungen?“ Im 1. Fall akzeptierten rund 74% der Eltern (n = 51) die Impfung, im 2. Fall nur 1 Person (4%), wobei 3 (13%) einen eigenen Plan vorschlugen, 83% erteilten der Impfung eine komplette Absage.
Nützlich seien auch die Empfehlungen des European Centre for Disease Prevention and Control (ECDC), wie Ärzte mit Irrmeinungen und Mythen zur Masern-Impfung umgehen können. Unter anderem sollen sie:
Sich in Kernaussagen auf die Fakten konzentrieren, nicht auf die Mythen. Die Einleitung sollte nur die Hauptfakten erwähnen, die man sich leicht merken kann.
Alternative Erklärungen zur Irrmeinung geben, um die Wissenslücken zu füllen.
Eine achtsame, moderate Sprache verwenden und strenge ablehnende Formulierungen vermeiden. Werden die Risiken verbal zu streng verneint, könnte dies zu einer noch höheren Wahrnehmung des Risikos auf Seiten der Eltern führen.
Mit Impfskeptikern sollten sich Ärzte Zeit nehmen und mit ihnen ins Gespräch kommen, empfahl von Bernuth. Viele sagten: „Ich bin nicht völlig überzeugt, dass die Vorteile größer sind als die Risiken.“ Sein Vorschlag: „Ich würde nie den Eltern sagen, dass Impfungen gegen Masern völlig sicher seien.“ Er lege in der Regel zuerst dar, dass Impfstoffe aus abgetöteten Erregern keinem ernsthaft schaden könnten; Lebendimpfstoffen hingegen in sehr seltenen Fällen schädliche Nebenwirkungen zeigen könnten, aber das Risiko an dem Masern-Wildtypvirus zu erkranken, doch noch viel größer sei.
Von Bernuth betonte, dass eine empathische Haltung der Ärzte gegenüber den Menschen, die kritische Fragen haben, zentral sei. „Für Menschen, die skeptisch sind, aber durch gute Argumente überzeugt werden können, sollten Sie sich genügend Zeit einräumen. Ich lasse die Leute zuerst reden und beginne selbst nicht zu früh mit meinen Erklärungen“, so der Mediziner.
Peterson pflichtete dabei: Die Menschen hätten ein Anliegen und wollten ernst genommen und nicht als ignorant bezeichnet werden. Ihre Kollegin Larson kritisierte, dass in der Medizinerausbildung zu wenig Zeit für das Thema Impfstoffe verwendet werde: Angehende Ärzte und auch Menschen in Gesundheitsberufen bräuchten ihrer Ansicht nach zudem praktisches Training darin, wie sie ein schwieriges Gespräch mit Patienten führen.
REFERENZEN:
1. World Health Summit, 15. bis 17. September 2017, Berlin
MEHR
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Diesen Artikel so zitieren: Von Mythen und Vergesslichkeit: Impfskepsis ist ein globales, aber vor allem auch europäisches Problem - Medscape - 20. Okt 2017.
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