Cannabis gegen Schmerzen: „Die Praxen werden quasi von Patienten mit falschen Erwartungen überrannt“

Sonja Böhm

Interessenkonflikte

17. Oktober 2017

Mannheim – Seit der Änderung des Betäubungsmittelrechts im März dieses Jahres dürfen Ärzte aller Fachrichtungen Cannabisblüten und -extrakte verordnen. Doch obwohl unter anderem die Deutsche Schmerzgesellschaft offiziell „die Gesetzesänderung begrüßt, weil sie Barrieren bei der Kostenerstattung abbaut“, sind die Schmerzmediziner so richtig glücklich nicht mit der Neuregelung. Dies wurde auf dem Deutschen Schmerzkongress deutlich [1].

Prof. Dr. Winfried Häuser

Quelle: DSG

„Viele Schmerzpraxen und -ambulanzen sehen sich mit mehr oder minder vehement vorgetragenen Forderungen von Patienten zur Rezeptierung von Cannabis konfrontiert“, sagte Prof. Dr. Winfried Häuser, Präsident des Deutschen Schmerzkongresses, in Mannheim. „Die Praxen werden quasi von Patienten mit falschen Erwartungen überrannt.“

Kein „geprüftes Arzneimittel“

Denn in Publikumsmedien und in vielen Internetforen werde der Eindruck erweckt, dass mit Cannabis nun endlich ein wirksames Schmerzmittel verfügbar werde, das zuvor den Patienten vorenthalten worden sei. „Es herrscht die falsche Vorstellung, es handle sich um ein geprüftes Arzneimittel“, ergänzte PD Dr. Stefanie Förderreuther, Präsidentin der Deutschen Migräne- und Kopfschmerzgesellschaft.

PD Dr. Stefanie Förderreuther

Quelle: DSG

Doch so einfach ist es nicht. Wie Häuser, Ärztlicher Leiter des Schwerpunkts Psychosomatik der Klinik Innere Medizin I des Klinikums Saarbrücken, auf einer Pressekonferenz beim Kongress sagte, sei es zunächst wichtig, den Patienten gegenüber klarzustellen, dass Cannabis selbst kein Wirkstoff ist, sondern ein Produkt auf Basis einer Pflanze.

Und das gibt es in ganz unterschiedlichsten Formen:

  • als getrocknete Blüten (Medizinalhanf oder medizinisches Cannabis),

  • standardisierte Extrakte (Rezepturarzneimittel), die nach dem aus den Blüten extrahierten Gehalt an Tetrahydrocannabinol (THC) und/oder Cannabidiol (CBD) standardisiert sind oder

  • synthetisch hergestellte Cannabis-Analoga (das Fertigarzneimittel Nabilon).

Dabei haben die derzeit 14 (!) Sorten rezeptierbarer Cannabisblüten einen THC-Gehalt, der von 1 bis 22% reicht, und CBD-Konzentrationen zwischen 0,05 und 9%.

Welcher Wirkstoffgehalt aber bei welcher Indikation wie wirkt (und welche Nebenwirkungen hat), ist aufgrund fehlender valider wissenschaftlicher Studien völlig unklar.

 
Viele Schmerzpraxen und -ambulanzen sehen sich mit mehr oder minder vehement vorgetragenen Forderungen von Patienten zur Rezeptierung von Cannabis konfrontiert. Prof. Dr. Winfried Häuser
 

In welcher Darreichungsform: Als Joint, per Vaporisator oder als Tee?

Was die Sache bei den Blüten noch weiter kompliziert, ist die Frage, in welcher Darreichungsform sie gegeben werden sollen und wieviel Wirkstoff jeweils dann tatsächlich ankommt.

Sich die Cannabisblüten mit Tabak gemischt in Form eines Joints zuzuführen, das lehnt z.B. die Bundesärztekammer kategorisch ab – allein schon wegen der gesundheitsschädlichen Folgen des Tabakrauchens. Auch weiß man so natürlich nicht, wieviel Wirkstoff wo ankommt. Es gibt auch einen Vaporisator dafür, doch der kostet rund 600 Euro und wird nicht erstattet und das Handling ist für Ungeübte schwierig, berichtete Häuser. Vielleicht als Tee? „Die Wirkstoff-Ausbeute liegt so bei etwa 5 bis 10 Prozent und man muss ihn rund eine Stunde kochen“, machte er die Problematik bei dieser Methode deutlich.

Die Dosierung, die ja auch von der Indikation abhängig ist, sei nach wie vor das größte Problem, so der Schmerzmediziner. Seine persönliche Konsequenz: „Ich verschreibe Blüten generell nicht!“

 
Es herrscht die falsche Vorstellung, es handle sich um ein geprüftes Arzneimittel. PD Dr. Stefanie Förderreuther
 

Und die standardisierten Extrakte? Der Gesetzgeber hat einige Einschränkungen für die Verordnung vorgesehen:

  • Es muss sich um eine schwerwiegende Erkrankung handeln.

  • Es dürfen keine Alternativen verfügbar sein.

  • Es muss Aussicht auf Wirksamkeit bestehen.

In der Praxis werde das Ganze häufiger zum „Clinch mit den Krankenkassen“, berichtete Häuser. Sowohl Patient als auch Arzt müssen den Antrag stellen – und rund die Hälfte der Anträge wird nach seiner Erfahrung abgelehnt.

Und bei welcher Indikation?

Die bislang beste – wenn auch immer noch begrenzte – Datenlage für den Einsatz des Rezepturarzneimittels THC/CBD-Spray (nicht aber für Dronabinol, Medizinalhanf und Nabilon) sieht er derzeit beim chronischen neuropathischen Schmerz. Bei allen anderen chronischen Schmerzsyndromen, auch bei Tumorschmerzen oder dem Fibromyalgie-Syndrom, aber auch bei Appetitverlust und Übelkeit in der Palliativmedizin, gebe es für keines der Cannabinoide eine ausreichende Evidenz. Zu diesem Schluss kommt Häuser gemeinsam mit Kollegen nach der Auswertung von 11 systematischen Übersichten mit 750 Studien, deren Ergebnisse er aktuell im Deutschen Ärzteblatt veröffentlicht hat.

 
Ich verschreibe Blüten generell nicht! Prof. Dr. Winfried Häuser
 

Vieles ist bei der Anwendung von Cannabinoiden einfach noch nicht evidenzbasiert genug, bestätigte auch Förderreuther. „Die intensive Medienberichterstattung hat dazu geführt, dass auch Kopfschmerz-Patienten eine Verordnung zum Teil vehement einfordern“, berichtete sie. „Doch leider ist die Studienlage auch in diesem Bereich noch zu dürftig, als dass wir eine reguläre Behandlung mit Cannabinoiden empfehlen würden.“ Es seien „nur Einzelfälle zu positiven Effekten“ publiziert, kontrollierte Studien fehlten völlig.

Wichtig seien vor allem Studien, die nicht nur die Wirksamkeit sondern auch die Sicherheit belegten. „Anders als bei allen übrigen zur Kopfschmerz-Behandlung zugelassenen Substanzen fehlen solche Daten“, so die Oberärztin der Neurologischen Klinik an der LMU München weiter. Die Wirkeffekte von Cannabinoiden auf den menschlichen Körper seien „noch weitgehend unerforscht“. Art, Schwere und Häufigkeit von Nebenwirkungen wie Verwirrtheit und Psychosen müssten noch genauer erfasst werden. Sie warnte vor allem vor einer Anwendung vor dem 18. Lebensjahr.

Das jugendliche Gehirn sei wohl anfälliger, es müsse mit einem höheren Abhängigkeitsrisiko und anhaltenden ungünstigen Auswirkungen auf Aufmerksamkeitsleistungen, verbales Lernen und Gedächtnis sowie psychischen Veränderungen, die etwa eine schlechtere Impulskontrolle bedingen, gerechnet werden. Auch kann das Risiko für die Entwicklung von Psychosen erhöht sein. In der Schwangerschaft sind Cannabinoide ohnehin kontraindiziert.

 
Leider ist die Studienlage auch in diesem Bereich [bei Kopfschmerzen] noch zu dürftig, als dass wir eine reguläre Behandlung mit Cannabinoiden empfehlen würden. PD Dr. Stefanie Förderreuther
 

Insgesamt rät die DMKG dementsprechend von der Verordnung bzw. Anwendung von Cannabis zur Behandlung von Migräne und anderen Kopfschmerzen generell ab. Sowohl DMKG als auch die Deutsche Schmerzgesellschaft lehnen zudem „jede Form der Eigentherapie wegen unüberschaubaren Nebenwirkungen durch drohende Dosisschwankungen“ generell ab. Auch sollten – wenn sie denn angewendet werden – Cannabinoide stets kombiniert mit physiotherapeutischen und schmerzpsychotherapeutischen Verfahren eingesetzt werden, empfehlen Häuser und Föderreuther.

100 Cannabinoide – welches ist für die Schmerzlinderung wichtig?

Die weibliche Hanfpflanze Cannabis sativa enthält rund 500 verschiedene Komponenten, darunter etwa 100 Cannabinoide. Vor allem 2 Cannbinoide – Tetrahydrocannabinol (THC) und Cannabidiol (CBD) – sind in ihrer Wirkung gegen Schmerzen und Entzündungen untersucht. THC ist eher für die euphorisierende Wirkung von Cannabis verantwortlich. CBD werden dagegen entzündungshemmende Eigenschaften zugeschrieben, aber es ist nach tierexperimentellen Daten wohl auch für angstlösende, antidepressive, neuroprotektive, schmerzlindernde, antiemetische, antikonvulsive und die Kognition steigende Effekte verantwortlich.

Inwieweit beide Inhaltsstoffe zur Besserung von Schmerzsyndromen beitragen, ist zwar nicht gesichert – vieles spricht jedoch für CBD, so der Vizepräsident der DMKG, Prof. Dr. Andreas Straube, im Gespräch mit Medscape.

DMKG-Präsidentin Förderreuther wies darauf hin, dass „Cannabinoide keinen ausschließlich und spezifisch schmerzlindernden Effekt haben“. Daher könnten bei der Anwendung „weder einheitliche noch spezifisch schmerzlindernde Effekte“ erwartet werden. Sie betonte, dass mit den etablierten medikamentösen und nicht-medikamentösen Behandlungsmethoden auch Patienten mit chronischen Kopfschmerzen in aller Regel gut behandelt werden können. 



REFERENZEN:

1. Deutscher Schmerzkongress 2017, 11. bis 14 Oktober 2017, Mannheim

Kommentar

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