Köln – Überstunden für Allergologen, Notaufnahmen voller Gewitterasthma-Patienten und aus den Subtropen bekannte Infektionskrankheiten in der deutschen Kinderarztpraxis: Darauf müssen Pädiater in den kommenden Jahren vorbereitet sein, vermittelte ein Workshop beim DGKJ-Kongress [1]. Verantwortlich dafür ist der Klimawandel – „Klimawandel und Gesundheit“ heißt darum das mehrphasige Projekt, zu dem dieser Workshop den Auftakt bildete.
Wenn aggressivere Allergene länger fliegen
Kinderarzt Dr. Stephan Böse-O’Reilly, Leiter der Arbeitsgemeinschaft Globale Umweltmedizin an Institut und Poliklinik für Arbeits-, Sozial- und Umweltmedizin des Universitätsklinikums München, informierte über die Herausforderungen für Allergologen. Denn wo die Temperaturen steigen und die Luftverschmutzung zunimmt, erhöhen sich zum einen die Ozonwerte in Bodennähe, was die Schleimhäute reizt, allergische Rhinitis und Asthma begünstigt. Zum anderen breiten sich dort Allergene an Orten und zu Jahreszeiten aus, wo sie vorher keine Chance hatten.
„Die Hausstaubmilbe fühlt sich in höheren Lagen wohl, wo es sie früher nicht gab“, nannte Böse-O’Reilly ein Beispiel. Von wegen: Allergenkarenz in den Bergen! Menschen mit Heuschnupfensymptomen kommen inzwischen fast das ganze Jahr in HNO- und Hausarztpraxen. „Früher sagten wir: Ein guter Pollenallergiker ist nach der Hälfte des Jahres fertig“, so der Experte. „Jetzt haben wir zum Beispiel die Ambrosie, die bis in den Oktober blüht. Was die Pollen angeht, ist sie ein kleines Monster.“
Ambrosia artemisiifolia liefert je Pflanze bis zu einer Milliarde Pollen, die Anzahl steigt mit den CO2-Werten. „Der Klimawandel düngt also sozusagen diese Pflanze“, so Böse-O’Reilly. „Wir müssen uns daran gewöhnen, dass wir sie immer häufiger sehen.“ Und damit Kinder und Erwachsene, die deswegen ärztliche Hilfe suchen. Besonders belastend für sie: Kreuzreaktionen mit Beifuß und Melone sind nicht selten, und die Asthmarate liegt unter Ambrosia-Allergikern doppelt so hoch wie unter anderen Heuschnupfen-Geplagten.
Auch an der Verbreitung des Eichen-Prozessionsspinners (Thaumetopoea processionea) ist der Klimawandel mitschuldig, so der Experte. Im Warmen fühlen die Falter sich besonders wohl. Und es sind ihre Raupen, die mit ihren mit dem Nesselgift Thaumetopoein gefüllten, umherfliegenden Brennhaaren Menschen gefährlich werden. „Da genügen wenige Haare, die Hautkontakt haben, um starke allergische Reaktionen zu verursachen“, betonte Böse-O‘Reilly.
Bei Ausschlag, Juckreiz, Konjunktivitis mit oder ohne Reaktionen der Atemwege sollten Kinderärzte daher an einen möglichen Kontakt zu diesen Brennhaaren denken und, wenn er sich bestätigt, entsprechend therapieren, z.B. mit Kortisoncreme oder Antihistaminika.
Es ist aktuell nicht zu erwarten, dass die Feinstaubkonzentration abnimmt – das wird die Arztpraxen und Kliniken weiter füllen, legte der Experte nahe. Denn Pollen interagieren mit Feinstaub und verändern sich so, dass ihre Inhalation verstärkt basophile und eosinophile Granulozyten aktiviert.
Der Feinstaub hat laut Böse-O`Reilly auch einen Anteil daran, dass sich vor und während Wärmegewittern Asthmaanfälle häufen. Wenn der Gewitterregen fällt, brechen durch den osmotischen Schock Pollen auf, die Allergene darin können stark zerkleinert und lungengängig werden und an Feinstaub binden. Asthmatiker, die diese Mischung einatmen, erleiden häufig starke Anfälle.
Neue Mücken – neues Fieber
Mit dem Klimawandel werden sich auch die vektorbürtigen Erkrankungen verändern, also solche, die einen Überträger benötigen, stellte der Kinder- und Jugendarzt sowie Reisemediziner Dr. Ignaz Schmidt aus Kreuzau in Aussicht. Ein Beispiel: „Bei weniger Regen können sich Flüsse in stehende Gewässer verwandeln, und es gibt vermehrt Wassersammelbehälter“ – so vermehren sich auch die Mücken.
Aedes albopictus (Asiatische Tigermücke) sowie Culex-Mücken fühlen sich in Deutschland immer wohler, informierte Schmidt.
Culex-Mücken übertragen das West-Nil-Fieber.
Mit der Tigermücke können sich Chikungunya-, Dengue- und Zika-Virus theoretisch auch hierzulande verbreiten.
Schmidt wies allerdings darauf hin, dass alle Klimaschätzungen zwar nahelegen, dass die Asiatische Tigermücke sich dauerhaft hier etabliert – „sie zeigen aber nicht das Risiko einer Übertragung von Erkrankungen an.“
Sich im nächsten Jahrzehnt in Nordeuropa ausbreiten könnten sich Schmidt zufolge zusätzlich die Sandmücken (Phlebotominae). Sie sind im Mittelmeerraum verbreitet und übertragen die Erreger der Leishmaniose auf Mensch und Hund.
Schmidt verwies darauf, dass die meisten dieser Erkrankungen beim Menschen eher mild verlaufen und/oder gut behandelbar sind. Komplikationen drohen allerdings kleinen Kindern, Menschen mit geschwächtem Immunsystem und Schwangeren beziehungsweise deren Ungeborenen. Der Experte empfahl Kinderärzten, Familien vor Reisen umfassend zu Schutzmaßnahmen zu beraten. Bei Reisen mit Hund in den Mittelmeerraum sei es sinnvoll zu empfehlen: „Lassen Sie Ihren Hund gegen Leishmaniose impfen!“
Bei ungewöhnlich anmutendem Fieber, Gliederschmerzen und/oder Ausschlägen riet Schmidt dazu, die Patienten beziehungsweise ihre Eltern nach den letzten Reisen zu fragen und Symptome importierter Infektionskrankheiten zu kennen.
Der Workshop, vermittelten Schmidt und Böse-O‘Reilly abschließend, ist der Startschuss zu einer umfassenden Fortbildungsreihe, die weitere Präsenzseminare und umfangreiche Onlinematerialien für die Teilnehmer umfasst.
REFERENZEN:
1. 113. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin (DGKJ), 20. bis 23. September 2017, Köln
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Diesen Artikel so zitieren: Feinstaub, aber auch ganzjährig Heuschnupfen, exotische Viren – Klimawandel verändert Krankheitsspektrum beim Kinderarzt - Medscape - 16. Okt 2017.
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