Fetale Alkohol-Spektrum-Störungen beim Kind schneller erkennen – Tipps aus der Praxis für Kinder- und Familienärzte

Petra Plaum

Interessenkonflikte

12. Oktober 2017

Köln – Wenn ein Kleinkind im Sandkasten  anderen immer wieder die Schaufel auf den Kopf haut, kann eine Fetale Alkohol-Spektrum-Störung  dahinterstecken. Ebenso, wenn ein 6-Jähriger sich auffallend vertrauensvoll  sofort auf den Schoß des Arztes setzt. Oder wenn 9-Jährige angezogen unter der  Dusche stehen, 15-Jährige sich auf dem Schulweg verlaufen oder 16-jährige  Einbrüche begehen. Die  vielen Facetten, die Kinder mit Fetalen Alkohol-Spektrum-Störungen zeigen, kurz  FASD (für Fetal Alcohol Spectrum Disorders), machen diese Erkrankungen so  schwer erkennbar, verdeutlichte die Kinderärztin und Psychologin Dr. Mirjam Landgraf vom Dr. von  Haunerschen Kinderspital der LMU München auf dem Kinderärztekongress in Köln [1].  Zudem haben nicht alle Patienten die FASD-typischen dysmorphen Gesichtszüge, und  die Mehrzahl der Patienten verfügt über einen normalen oder nur leicht unterdurchschnittlichen  IQ.

           

Dr. Mirjam Landgraf

           

Rund ein  Drittel aller Frauen in Europa lebt nicht die gesamte Schwangerschaft hindurch  abstinent, jede 8. Frau gibt sogar gelegentliches Rauschtrinken (Binge  Drinking) zu. Die Folge: „Experten  gehen davon aus, dass ein Prozent aller Schulkinder in Europa eine FASD haben“,  verdeutlichte Landgraf. „Damit ist FASD viel häufiger als Trisomie 21 und die  häufigste angeborene Erkrankung überhaupt.“

Landgraf,  die die  TESS-(Toxin-Exposition in der Schwangerschaft)-Ambulanz am Dr. von Haunerschen  Kinderspital leitet, mahnt:  „Wir haben  wissenschaftlich erwiesen keine Menge des Alkoholkonsums, die für das Kind  ungefährlich ist.“ Nicht ausgeschlossen also, dass schon ein Vollrausch  in der Frühschwangerschaft oder das gelegentliche Glas Wein die Schwangerschaft  hindurch Schaden anrichtet.

Mit 4 Säulen zur Diagnose

Die zerebralen  Schädigungen sind irreversibel, doch mit früher, umfassender Förderung wird die  Prognose für ein gelingendes Leben der Patienten besser, so Landgraf. Sie ist  die Erstautorin der aktuellen S3-Leitlinie zu FASD, deren Diagnose auf 4 Säulen  beruht.

Säule 1  sind Wachstumsauffälligkeiten – eine  Körperlänge, die dem Alter entsprechend maximal auf der 10. Perzentile liegt  und/oder ein entsprechend niedriges Körpergewicht. Landgraf empfahl Pädiatern,  bei auffällig kleinen oder leichten Kindern prinzipiell an eine mögliche FASD  zu denken.

 
Experten gehen davon aus, dass ein Prozent aller Schulkinder in Europa eine FASD haben. Dr. Mirjam Landgraf
 

Säule 2 sind  faziale Auffälligkeiten: Ein Teil der Kinder mit FASD weist die typischen  Merkmale kurze Lidspalten, verstrichenes Philtrum und schmale Oberlippe auf.  „Ob die Lidspalte wirklich zu kurz ist, können Sie allerdings nicht schätzen,  das müssen Sie messen“, betonte die Expertin. Bei unruhigen Kindern empfahl sie  die Foto-Dokumentation mit einem Klebepunkt im Gesicht, der einen vorher  festgelegten Durchmesser hat, sodass die Maße anschließend auf dem Foto statt  am Kind ermittelt werden können.

Normkurven für die  Lidspaltenlänge von Kindern bis 6 Jahren gibt es von Kerstin Strömland und ihren Kollegen,  ab 6 Jahren sind die Normkurven von Dr. Sterling Clarren aussagekräftig. Was die Ausprägung des Philtrums und der Lippe angeht, liefern  die Lip-Philtrum Guides von Dr. Susan Astley zuverlässige Informationen für Kinder  verschiedener Ethnien.

Das  syndromale Aussehen der jungen Patienten verwächst sich häufig mit der Zeit.  Auch weisen Kinder mit genetisch bedingten Erkrankungen wie dem Noonan-Syndrom  oder Di-George-Syndrom oft ähnliche faziale Auffälligkeiten wie Kinder mit FASD  auf. Und mancher Patient bringt nur 2 sichtbare Merkmale, nur eins oder keins,  aber andere Symptome einer FASD mit.

Als 3.  und bedeutsamste Säule der Diagnostik bezeichnete Landgraf eine Kombination aus  ZNS-Auffälligkeiten – hier setzen auch die Therapien an. Die Hinweise auf FASD reichen  dabei von Mikrozephalie über epileptische Anfälle bis zur globalen  Intelligenzminderung. Häufig finden sich auch – trotz durchschnittlichem IQ – Schwierigkeiten  in den Planungsfähigkeiten, im Transfer von Gelerntem, im Gedächtnis, im  Verhalten, in der Aufmerksamkeit und beim Alltagsmanagement.

Säule 4  der Diagnostik ist der Alkoholkonsum der Mutter zu irgendeinem Zeitpunkt der  Schwangerschaft. Landgraf empfahl Kinderärzten, im Zweifelsfall auch Angehörige  oder das Jugendamt zu befragen. Auch der Mutterpass kann Hinweise auf einen  möglichen Alkoholkonsum in der Schwangerschaft geben – etwa, wenn der 1. Vorsorgetermin  sehr spät stattfand oder bei der Aufklärung das Kreuzchen für Alkoholkonsum  gesetzt wurde. 

Viele  Kinder mit FASD leben als Pflegekinder oder sind adoptiert, so dass der  Alkoholkonsum der Mutter dann nicht direkt hinterfragt werden kann. Die  Diagnose „Vollbild der Fetalen Alkohol-Spektrum-Störung (Fetales Alkoholsyndrom  FAS)“ ist dann auch möglich, wenn die anderen 3 Säulen für diese Erkrankung  sprechen.

Einzelne Störungen: FAS, pFAS und ARND

Von  partiellem FAS, kurz pFAS, sprechen die Experten dann, wenn lediglich 2 bis 3  faziale Auffälligkeiten und mindestens 3 ZNS-Auffälligkeiten vorhanden sind,  dazu ein mütterlicher Alkoholkonsum während der Schwangerschaft wahrscheinlich  oder bestätigt ist.

 
Wir haben wissenschaftlich erwiesen keine Menge des Alkoholkonsums, die für das Kind ungefährlich ist. Dr. Mirjam Landgraf
 

Wachstumsstörungen  sind für diese Diagnose nicht nötig. Eine 3. Patientengruppe sind Kinder mit  alkoholbedingter entwicklungsneurologischer Störung (Alcohol-Related  Neurodevelopmental Disorders, kurz ARND). Für diese Diagnose muss der  mütterliche Alkoholkonsum bestätigt sein und eine Kombination von mindestens 3  ZNS-Auffälligkeiten vorliegen.

„Automatisch  davon auszugehen, dass Kinder mit pFAS und ARND weniger schwer beeinträchtigt  sind als Kinder mit FAS und somit eine bessere Prognose haben, wäre falsch“,  gibt Landgraf zu bedenken. Dass man den Kindern ihre Schädigungen nicht ansehe,  helfe nicht beim Alltagsmanagement.

Auch ist  ein höherer IQ kein Garant für eine bessere Prognose. Vielmehr erfahren  Landgraf zufolge Kinder mit einer FASD plus geistiger Behinderung oft eine  bessere Förderung als Kinder, die lediglich eine Lernbehinderung haben und/oder  denen ihre Beeinträchtigungen zunächst nicht anzumerken sind. „80 bis 90  Prozent der Kindert mit FASD, die wir behandeln, haben einen  durchschnittlichen oder leicht unterdurchschnittlichen IQ“, informierte  Landgraf. „Aber so gut wie alle haben Exekutiv-Funktionsstörungen.“

Die  Expertin berichtete von „Wutschalter-Kindern“, die sich und andere wiederholt  in Gefahr bringen – ohne hinterher sagen zu können, weshalb. Andere kapseln  sich ab, rennen vor Problemen buchstäblich davon. Spielideen entwickeln  FASD-Patienten kaum, so Landgraf. Viele Kinder und Jugendliche mit FASD sind  auch besonders anhänglich und vertrauensvoll und müssen vor Menschen geschützt  werden, die dieses Vertrauen missbrauchen.

Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge  verstehen, Problemlösungs-Strategien entwickeln, sich etwas von anderen  abschauen – dieser Transfer funktioniere nur bei wenigen der Patienten. „Man  muss Anweisungen nicht hundert Mal wiederholen, sondern Millionen Mal. Und wenn  etwas klappt, kann es sein, dass sie nach 3 Wochen Pause alles wieder vergessen  haben“, beschrieb sie ihre Erfahrungen.

Nicht nur ein stabilisierendes Umfeld  ist nötig

Ob ARND,  pFAS oder FAS: Alle Patienten benötigen laut Landgraf ein stabilisierendes  Umfeld, auf sie zugeschnittene Therapien und eine Bildung, die zu den  Möglichkeiten passt. Die Transition ins Erwachsenenleben mit Berufsalltag und  Haushaltsführung ist schwierig, erklärte Landgraf. Einrichtungen, die  Arbeitsplätze plus betreutes Wohnen speziell für FASD-Patienten anbieten, sind rar.  Die fehlende Perspektive im Erwachsenenleben lässt FASD-Patienten oft zu  Bildungsverlierern werden.

 
Orientieren Sie sich nicht am IQ, sondern an den individuellen Stärken und Schwächen Ihres Kindes. Dr. Mirjam Landgraf
 

Dr. Svetlana Popova zeigte 2016 in einem Review, dass 91% der Patienten  Verhaltensstörungen entwickeln, 37% bis zum Erwachsenenalter Depressionen, 27%  Angststörungen und 55% Alkohol- und Drogenabusus. Dr. Ann Streissguth beschrieb, dass nicht einmal 30% als  Erwachsene alleine wohnen konnten. Auch die Rate an Straftaten und  Selbstmordversuchen war unter FASD-Patienten auffallend hoch.

Was Ärzte Eltern raten können

Landgraf  betonte, dass sich solchen Verläufen durch Förderung von klein auf und in einem  stabilen, gewaltfreien Elternhaus zu einem gewissen Grad vorbeugen lässt. Wie  Kinderärzte und Psychologen Eltern beraten sollten, empfahl sie: „Das wächst  sich nicht aus, und reparieren kann man die Schädigungen nicht, aber  funktionelle Therapien können Ihrem Kind helfen. Orientieren Sie sich nicht am IQ, sondern an den  individuellen Stärken und Schwächen Ihres Kindes. Wichtig auch: Stecken  Sie sich kleine Ziele! Holen Sie sich Entlastung, wo immer möglich.“

Wenn  Kinderärzte genau hinschauen und dazu beitragen, dass Kinder mit FASD früh  diagnostiziert und umfassend gefördert werden, könnten die Langzeit-Prognosen  insgesamt besser werden als zurzeit, zeigte sie sich überzeugt. Das  Allerwichtigste sei jedoch, gesellschaftlich etwas zu verändern: Wenn werdende  Mütter bereits vor der Empfängnis nichts mehr trinken.



REFERENZEN:

1. 113. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin  (DGKJ), 20. bis 23. September 2017, Köln

Kommentar

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