Köln – Wenn ein Kleinkind im Sandkasten anderen immer wieder die Schaufel auf den Kopf haut, kann eine Fetale Alkohol-Spektrum-Störung dahinterstecken. Ebenso, wenn ein 6-Jähriger sich auffallend vertrauensvoll sofort auf den Schoß des Arztes setzt. Oder wenn 9-Jährige angezogen unter der Dusche stehen, 15-Jährige sich auf dem Schulweg verlaufen oder 16-jährige Einbrüche begehen. Die vielen Facetten, die Kinder mit Fetalen Alkohol-Spektrum-Störungen zeigen, kurz FASD (für Fetal Alcohol Spectrum Disorders), machen diese Erkrankungen so schwer erkennbar, verdeutlichte die Kinderärztin und Psychologin Dr. Mirjam Landgraf vom Dr. von Haunerschen Kinderspital der LMU München auf dem Kinderärztekongress in Köln [1]. Zudem haben nicht alle Patienten die FASD-typischen dysmorphen Gesichtszüge, und die Mehrzahl der Patienten verfügt über einen normalen oder nur leicht unterdurchschnittlichen IQ.

Dr. Mirjam Landgraf
Rund ein Drittel aller Frauen in Europa lebt nicht die gesamte Schwangerschaft hindurch abstinent, jede 8. Frau gibt sogar gelegentliches Rauschtrinken (Binge Drinking) zu. Die Folge: „Experten gehen davon aus, dass ein Prozent aller Schulkinder in Europa eine FASD haben“, verdeutlichte Landgraf. „Damit ist FASD viel häufiger als Trisomie 21 und die häufigste angeborene Erkrankung überhaupt.“
Landgraf, die die TESS-(Toxin-Exposition in der Schwangerschaft)-Ambulanz am Dr. von Haunerschen Kinderspital leitet, mahnt: „Wir haben wissenschaftlich erwiesen keine Menge des Alkoholkonsums, die für das Kind ungefährlich ist.“ Nicht ausgeschlossen also, dass schon ein Vollrausch in der Frühschwangerschaft oder das gelegentliche Glas Wein die Schwangerschaft hindurch Schaden anrichtet.
Mit 4 Säulen zur Diagnose
Die zerebralen Schädigungen sind irreversibel, doch mit früher, umfassender Förderung wird die Prognose für ein gelingendes Leben der Patienten besser, so Landgraf. Sie ist die Erstautorin der aktuellen S3-Leitlinie zu FASD, deren Diagnose auf 4 Säulen beruht.
Säule 1 sind Wachstumsauffälligkeiten – eine Körperlänge, die dem Alter entsprechend maximal auf der 10. Perzentile liegt und/oder ein entsprechend niedriges Körpergewicht. Landgraf empfahl Pädiatern, bei auffällig kleinen oder leichten Kindern prinzipiell an eine mögliche FASD zu denken.
Säule 2 sind faziale Auffälligkeiten: Ein Teil der Kinder mit FASD weist die typischen Merkmale kurze Lidspalten, verstrichenes Philtrum und schmale Oberlippe auf. „Ob die Lidspalte wirklich zu kurz ist, können Sie allerdings nicht schätzen, das müssen Sie messen“, betonte die Expertin. Bei unruhigen Kindern empfahl sie die Foto-Dokumentation mit einem Klebepunkt im Gesicht, der einen vorher festgelegten Durchmesser hat, sodass die Maße anschließend auf dem Foto statt am Kind ermittelt werden können.
Normkurven für die Lidspaltenlänge von Kindern bis 6 Jahren gibt es von Kerstin Strömland und ihren Kollegen, ab 6 Jahren sind die Normkurven von Dr. Sterling Clarren aussagekräftig. Was die Ausprägung des Philtrums und der Lippe angeht, liefern die Lip-Philtrum Guides von Dr. Susan Astley zuverlässige Informationen für Kinder verschiedener Ethnien.
Das syndromale Aussehen der jungen Patienten verwächst sich häufig mit der Zeit. Auch weisen Kinder mit genetisch bedingten Erkrankungen wie dem Noonan-Syndrom oder Di-George-Syndrom oft ähnliche faziale Auffälligkeiten wie Kinder mit FASD auf. Und mancher Patient bringt nur 2 sichtbare Merkmale, nur eins oder keins, aber andere Symptome einer FASD mit.
Als 3. und bedeutsamste Säule der Diagnostik bezeichnete Landgraf eine Kombination aus ZNS-Auffälligkeiten – hier setzen auch die Therapien an. Die Hinweise auf FASD reichen dabei von Mikrozephalie über epileptische Anfälle bis zur globalen Intelligenzminderung. Häufig finden sich auch – trotz durchschnittlichem IQ – Schwierigkeiten in den Planungsfähigkeiten, im Transfer von Gelerntem, im Gedächtnis, im Verhalten, in der Aufmerksamkeit und beim Alltagsmanagement.
Säule 4 der Diagnostik ist der Alkoholkonsum der Mutter zu irgendeinem Zeitpunkt der Schwangerschaft. Landgraf empfahl Kinderärzten, im Zweifelsfall auch Angehörige oder das Jugendamt zu befragen. Auch der Mutterpass kann Hinweise auf einen möglichen Alkoholkonsum in der Schwangerschaft geben – etwa, wenn der 1. Vorsorgetermin sehr spät stattfand oder bei der Aufklärung das Kreuzchen für Alkoholkonsum gesetzt wurde.
Viele Kinder mit FASD leben als Pflegekinder oder sind adoptiert, so dass der Alkoholkonsum der Mutter dann nicht direkt hinterfragt werden kann. Die Diagnose „Vollbild der Fetalen Alkohol-Spektrum-Störung (Fetales Alkoholsyndrom FAS)“ ist dann auch möglich, wenn die anderen 3 Säulen für diese Erkrankung sprechen.
Einzelne Störungen: FAS, pFAS und ARND
Von partiellem FAS, kurz pFAS, sprechen die Experten dann, wenn lediglich 2 bis 3 faziale Auffälligkeiten und mindestens 3 ZNS-Auffälligkeiten vorhanden sind, dazu ein mütterlicher Alkoholkonsum während der Schwangerschaft wahrscheinlich oder bestätigt ist.
Wachstumsstörungen sind für diese Diagnose nicht nötig. Eine 3. Patientengruppe sind Kinder mit alkoholbedingter entwicklungsneurologischer Störung (Alcohol-Related Neurodevelopmental Disorders, kurz ARND). Für diese Diagnose muss der mütterliche Alkoholkonsum bestätigt sein und eine Kombination von mindestens 3 ZNS-Auffälligkeiten vorliegen.
„Automatisch davon auszugehen, dass Kinder mit pFAS und ARND weniger schwer beeinträchtigt sind als Kinder mit FAS und somit eine bessere Prognose haben, wäre falsch“, gibt Landgraf zu bedenken. Dass man den Kindern ihre Schädigungen nicht ansehe, helfe nicht beim Alltagsmanagement.
Auch ist ein höherer IQ kein Garant für eine bessere Prognose. Vielmehr erfahren Landgraf zufolge Kinder mit einer FASD plus geistiger Behinderung oft eine bessere Förderung als Kinder, die lediglich eine Lernbehinderung haben und/oder denen ihre Beeinträchtigungen zunächst nicht anzumerken sind. „80 bis 90 Prozent der Kindert mit FASD, die wir behandeln, haben einen durchschnittlichen oder leicht unterdurchschnittlichen IQ“, informierte Landgraf. „Aber so gut wie alle haben Exekutiv-Funktionsstörungen.“
Die Expertin berichtete von „Wutschalter-Kindern“, die sich und andere wiederholt in Gefahr bringen – ohne hinterher sagen zu können, weshalb. Andere kapseln sich ab, rennen vor Problemen buchstäblich davon. Spielideen entwickeln FASD-Patienten kaum, so Landgraf. Viele Kinder und Jugendliche mit FASD sind auch besonders anhänglich und vertrauensvoll und müssen vor Menschen geschützt werden, die dieses Vertrauen missbrauchen.
Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge verstehen, Problemlösungs-Strategien entwickeln, sich etwas von anderen abschauen – dieser Transfer funktioniere nur bei wenigen der Patienten. „Man muss Anweisungen nicht hundert Mal wiederholen, sondern Millionen Mal. Und wenn etwas klappt, kann es sein, dass sie nach 3 Wochen Pause alles wieder vergessen haben“, beschrieb sie ihre Erfahrungen.
Nicht nur ein stabilisierendes Umfeld ist nötig
Ob ARND, pFAS oder FAS: Alle Patienten benötigen laut Landgraf ein stabilisierendes Umfeld, auf sie zugeschnittene Therapien und eine Bildung, die zu den Möglichkeiten passt. Die Transition ins Erwachsenenleben mit Berufsalltag und Haushaltsführung ist schwierig, erklärte Landgraf. Einrichtungen, die Arbeitsplätze plus betreutes Wohnen speziell für FASD-Patienten anbieten, sind rar. Die fehlende Perspektive im Erwachsenenleben lässt FASD-Patienten oft zu Bildungsverlierern werden.
Dr. Svetlana Popova zeigte 2016 in einem Review, dass 91% der Patienten Verhaltensstörungen entwickeln, 37% bis zum Erwachsenenalter Depressionen, 27% Angststörungen und 55% Alkohol- und Drogenabusus. Dr. Ann Streissguth beschrieb, dass nicht einmal 30% als Erwachsene alleine wohnen konnten. Auch die Rate an Straftaten und Selbstmordversuchen war unter FASD-Patienten auffallend hoch.
Was Ärzte Eltern raten können
Landgraf betonte, dass sich solchen Verläufen durch Förderung von klein auf und in einem stabilen, gewaltfreien Elternhaus zu einem gewissen Grad vorbeugen lässt. Wie Kinderärzte und Psychologen Eltern beraten sollten, empfahl sie: „Das wächst sich nicht aus, und reparieren kann man die Schädigungen nicht, aber funktionelle Therapien können Ihrem Kind helfen. Orientieren Sie sich nicht am IQ, sondern an den individuellen Stärken und Schwächen Ihres Kindes. Wichtig auch: Stecken Sie sich kleine Ziele! Holen Sie sich Entlastung, wo immer möglich.“
Wenn Kinderärzte genau hinschauen und dazu beitragen, dass Kinder mit FASD früh diagnostiziert und umfassend gefördert werden, könnten die Langzeit-Prognosen insgesamt besser werden als zurzeit, zeigte sie sich überzeugt. Das Allerwichtigste sei jedoch, gesellschaftlich etwas zu verändern: Wenn werdende Mütter bereits vor der Empfängnis nichts mehr trinken.
REFERENZEN:
1. 113. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin (DGKJ), 20. bis 23. September 2017, Köln
Medscape Nachrichten © 2017 WebMD, LLC
Diesen Artikel so zitieren: Fetale Alkohol-Spektrum-Störungen beim Kind schneller erkennen – Tipps aus der Praxis für Kinder- und Familienärzte - Medscape - 12. Okt 2017.
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