Kindesmisshandlung: Wo und wie genauestens hingeschaut und gefragt werden sollte – und was „hochverdächtig“ ist

Petra Plaum

Interessenkonflikte

2. Oktober 2017

Köln Um Misshandlungen von Kindern belegen und die Patienten vor weiteren Übergriffen schützen zu können, benötigen Ärzte viel Zeit, Expertise und Fingerspitzengefühl – und werden keinesfalls angemessen dafür bezahlt. Mediziner wie Gesundheitspolitiker dafür zu sensibilisieren und den medizinischen Kinderschutz zu stärken, war ein Kernanliegen der 113. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin (DGKJ) [1].

Einige Zahlen verdeutlichen das Problem. In der Kriminalstatistik des Statistischen Bundesamtes wurden im Jahr 2016 erfasst:

  • 14.296 Fälle von sexualisierter Gewalt gegen Kinder und Jugendliche und

  • 4.237 körperliche Misshandlungen.

Und: Die Dunkelziffer ist hoch.

Diagnostik mit Geduld, Fingerspitzengefühl …

Um bei einem Verdacht eine Misshandlung auszuschließen beziehungsweise weitere Schritte einzuleiten, empfahl Dr. Stephan Waltz aus der Abteilung Kinderneurologie, Epileptologie und Sozialpädiatrie der Kliniken Köln allen Kollegen: „Beschäftigen Sie sich 40 bis 45 Minuten mit diesem Kind. Schreiben Sie das, was die Eltern über den Unfallhergang sagen, im Wortlaut auf. Sprechen Sie ruhig und freundlich mit den Eltern, schließen Sie ein Bündnis mit ihnen.“

Waltz, der auch als Tagungspräsident der Deutschen Gesellschaft für Sozialpädiatrie und Jugendmedizin (DGSPJ) auftrat, riet zur gründlichen, sensiblen Ganzkörperuntersuchung. Dabei sollten die Ärzte die Herkunft jeder Verletzung hinterfragen – sobald Eltern einen Kindergartensturz erwähnten, könne das Klinikpersonal im Kindergarten anrufen und klären, ob die Geschichte so stimme. Fragen zum Verhalten des Kindes im Alltag und zu durchgemachten Erkrankungen gehörten ebenfalls in jede Anamnese.

… und mehrfacher Bildgebung

Wie Ärzte speziell bei Babys und Kleinkindern mit Verdacht auf das Schütteltrauma vorgehen sollten, dazu referierte Prof. Dr. Dirk Petersen aus Lübeck im Rahmen eines Symposiums in Köln. „Ist es klug, zusätzlich zum MRT ein CT zu machen?“, fragte der Radiologe – eine rhetorische Frage. Seine Antwort: Durchaus, denn mögliche Knochenschäden oder -frakturen seien im MRT meist nicht zu sehen. Während das MRT bei älteren, intra- wie extrazerebralen Blutungen deutlich überlegen sei, erlaube das CT genauere Aussagen über frische Blutungen, Knochen und Schädelnähte.

 
Beschäftigen Sie sich 40 bis 45 Minuten mit diesem Kind. Dr. Stephan Waltz
 

In Wort und Bild präsentierte er den Kongressteilnehmern Bilder schwer bis tödlich verletzter Babys, die ein Schütteltrauma oder sogar mehrere erlitten hatten. Viele wurden bewusstlos oder auffallend schläfrig, nach Erbrechen oder Krampfanfällen eingeliefert, ohne äußere Verletzungen, woraufhin die Bildgebung erfolgte.

Ein subdurales Hämatom, verbunden mit retinalen Blutungen, nannte Petersen „hochverdächtig“ – „es gibt aber auch Schütteltraumata ohne Retinablutung.“ Auffällig sei auch eine Angabe wie „ist vom Sofa gefallen“ bei einer Diagnose, die auf einen Sturz aus viel größerer Höhe oder aber Gewalteinwirkung hinweise. Schätzungen gehen von 100 bis 200 Patienten mit Schütteltrauma pro Jahr in Deutschland aus – 30% der Kinder überleben die Misshandlung nicht.

Petersen riet zu Akribie bei der Anamnese, schließlich verursachen Erkrankungen wie Glutarazidurie Typ I oder das Menkes-Syndrom teilweise dieselben Symptome – und Kinder, die damit geboren wurden, sind nur bei rascher Einleitung der richtigen Therapie zu retten.  

 
Sprechen Sie ruhig und freundlich mit den Eltern, schließen Sie ein Bündnis mit ihnen. Dr. Stephan Waltz
 

Und danach? Interdisziplinäre Teams und Krankenkassen gefragt

Waltz betonte, dass es in der Klinik vor allem darum gehe, die Patienten aus der Gefahrenzone zu nehmen – zum Beispiel durch die stationäre Aufnahme. Je nach Situation kann oft mit Eltern zusammengearbeitet und die Familiensituation stabilisiert werden, verdeutlichte Waltz. „Hierfür brauchen wir interdisziplinäre Teams unter anderem aus Kinderärzten, Kindergynäkologen, Chirurgen, Radiologen, Pflegekräften, Psychologen, Sozialdienst und Jugendamt“, betonte er.

Bewährt habe sich langfristig die Arbeit am Runden Tisch, wo möglich, gemeinsam mit den Patienteneltern. Für den Runden Tisch in vielen Kliniken gelte: „Hier wird gute, manchmal auch belastende Arbeit geleistet. Allerdings wird diese Arbeit tatsächlich nicht vergütet.“

Vergütung wie bei einem Sportunfall

Das Problem: Zwar hat das Deutsche Institut für Medizinische Dokumentation und Information (DIMDI) bereits 2013 einen Operations- und Prozedurenschlüssel OPS 1-945 für die Diagnostik bei Verdacht auf Gefährdung von Kindeswohl und Kindergesundheit eingeführt. Damit können Leistungen zum medizinischen Kinderschutz grundsätzlich abgerechnet werden. Noch haben der GKV-Spitzenverband, der Verband der Privaten Krankenversicherung und die Deutsche Krankenhausgesellschaft den OPS 1-945 jedoch nicht freigegeben. Die Folge: „Kommt ein Kind mit Verletzungen durch Kindesmisshandlung ins Krankenhaus, so wird die Arbeit dort nicht anders vergütet als bei einem Sportunfall“, berichtete Waltz.

PD. Dr. Barbara Ludwikowski, Chefärztin für Kinderchirurgie und Kinderurologie am Kinder- und Jugendklinikum Auf der Bult in Hannover, ergänzte ihre Erfahrung: „Wenn wir OPS 1-945 angeben, will die Kasse die Versorgung der Fraktur nicht bezahlen und das Geld vom Verursacher holen.“ Aufgrund dessen stehen Ärzte und andere Fachkräfte vor einer schwierigen Wahl: Falsche Angaben machen? Auf Geld lange warten oder gar verzichten? Oder ehrenamtlich Mehrarbeit leisten, zum Wohl der gefährdeten Patienten?

 
Wir sind keine Rächer, sondern Helfer. Dr. Stephan Waltz
 

An großen Kliniken wird der Einsatz am Runden Tisch häufig durch Fördervereine übernommen, informierte Waltz. Doch damit Kindern nach Kindesmissbrauch flächendeckend, auch im Umfeld kleiner Kliniken, bestmöglich betreut und geschützt werden, seien jetzt die Selbstverwaltungspartner gefragt, sagte er.

Ärzte und Politiker sieht Waltz ebenso in der Pflicht: „Man muss in der Gesellschaft dahin kommen, dass Kinderschutz etwas Positives ist und wir nicht stigmatisieren. Wir sind keine Rächer, sondern Helfer.“



REFERENZEN:

1. Kongress für Kinder- und Jugendmedizin, DGKJ 2017, 20. bis 23. September 2017, Köln

Kommentar

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