Lissabon – Bei chinesischen Patienten mit manifester Herzerkrankung und gestörter Glukose-Toleranz (impaired glucose tolerance, IGT) reduziert der α-Glucosidase-Hemmer Acarbose (z.B. Glucobay®, Bayer) zwar die Inzidenz von Diabetes, aber nicht die schwerer kardiovaskulärer Komplikationen.
Die Ergebnisse der Acarbose Cardiovascular Evaluation (ACE-) Studie sind auf der 53. Jahrestagung der European Association for the Study of Diabetes (EASD) in Lissabon von Mitgliedern des Studienteams präsentiert worden, das unter der Leitung von Dr. Rury R. Holman, Direktor der Abteilung Diabetes-Studien an der Universität Oxford, England, stand [1]. Die Ergebnisse wurden gleichzeitig in der Fachzeitschrift Lancet Diabetes & Endocrinology publiziert [2].
Acarbose war der erste α-Glucosidase-Hemmer, der für die Behandlung von Typ-2-Diabetes in den 1990er Jahren zugelassen wurde. Er verlangsamt die Aufnahme von Kohlenhydraten im Darm und senkt dadurch vor allem den postprandialen Glukoseanstieg im Blut. Heute wird dieser Wirkstoff vorzugsweise noch in China und anderen Ländern Asiens als orales Antidiabetikum verordnet.
Kein Unterschied beim primären Endpunkt, aber 18% weniger Diabetes-Erkrankungen
In die randomisierte, doppel-blinde, placebokontrollierte ACE-Studie (Phase 4) hatten die Wissenschaftler 6.522 erwachsene Chinesen mit IGT und kardiovaskulärer Erkrankung aufgenommen.
Die primären Studien-Endpunkte waren: Tod durch ein kardiovaskuläres Ereignis, nicht-tödlicher Herzinfarkt oder Schlaganfall sowie Hospitalisierung wegen instabiler Angina oder Herzinsuffizienz. Der ursprünglich geplante primäre Endpunkt bezog sich lediglich auf die ersten 3 dieser 5 Komponenten. Aufgrund der langsamen Registrierung und der niedrigen Ereignisraten wurde er schließlich um 2 weitere Komponenten erweitert. Der ursprüngliche 3-Punkte-Ansatz wurde damit zum sekundären Endpunkt. Der mittlere Beobachtungszeitraum betrug 5 Jahre.
Ein Ereignis des primären Endpunkts trat bei 470 (14,4%) von 3.272 Teilnehmern in der Acarbose-Gruppe (3,33 pro 100 Personenjahre) und bei 479 (14,7%) von 3.250 in der Plazebo-Gruppe (3,41 pro 100 Personenjahre) auf. Mit 0,98 (p = 0,73) war die Hazard Ratio nicht signifikant unterschiedlich. Bei keiner der 5 Komponenten des primären Endpunkts fanden sich anhand der Hazard Ratios signifikante Unterschiede zwischen Acarbose- und Plazebo-Gruppe, dies war auch nicht für den ursprünglich geplanten Endpunkt „kardiovaskulärer Tod, Herzinfarkt oder Schlaganfall“ der Fall.
Doch entwickelten die Teilnehmer der Acarbose-Gruppe weniger häufig einen Diabetes. Hier erkrankten 436 (13%; 3.17 pro 100 Personenjahre) im Vergleich zu 513 (16%) in der Placebo-Gruppe (3,84 pro 100 Personenjahre; HR 0,82; p = 0,005). Damit reduzierte Acarbose die Häufigkeit von Diabetes-Neudiagnosen um relativ 18%. Das heißt: Um einen Fall von Diabetes zu verhindern, müssten 41 Personen 5 Jahre lang behandelt werden (NNT = „Number Needed to Treat“).
Ein Jahr nach Studienbeginn wies die Acarbose-Gruppe auch signifikant niedrigere Triglyzerid-Spiegel auf (1,49 vs 1,62 mmol/l, p < 0,0001) sowie ein um etwa 1 Kilogramm geringeres Körpergewicht (69,9 vs 70,8 kg; p < 0,0001).
Die Anzahl Teilnehmer, die eine leichte bzw. schwere Hypoglykämie erlitten, war mit 11% bzw. 2% in beiden Gruppen gleich. Gastrointestinale Nebenwirkungen, vor allem Flatulenz, waren die einzigen, in denen sich beide Gruppen unterschieden. Magen-Darm-Probleme leichterer Art waren in der Acarbose-Gruppe deutlich häufiger und führten zum Teil zum Absetzen oder einer Dosisreduktion. Schwere Magen-Darm-Probleme traten in beiden Gruppen gleich häufig zu 2% auf. Die Sterberaten beider Gruppen unterschieden sich nicht.
„Wir wissen jetzt mehr über die Sicherheit von Acarbose und ihre Effektivität, diabetische Neuerkrankungen in einer Population zu verzögern, die sowohl an einer KHK als auch an einer gestörten Glukose-Toleranz leidet“, sagte Holman. Trotz des fehlenden Effektes auf kardiovaskuläre Komplikationen könne die Senkung der Diabetes-Inzidenz, wie sie die ACE-Studie für Acarbose zeige, dazu beitragen, dass – über längere Zeit betrachtet – auch das kardiovaskuläre Risiko sinke, indem diabetische Neuerkrankungen bei der untersuchten Hoch-Risiko-Population hinausgezögert würden, meinte er.
Stärkere Effekte durch Lebensstiländerungen
Zuhörer Dr. Peter H. Bennett, vormals Direktor der Phoenix-Abteilung für Epidemiologie und Klinische Forschung am US-amerikanischen Nationalen Institut für Diabetes, Magen-Darm- und Nierenerkrankungen, zeigte sich von der Ergebnissen nicht beeindruckt – auch nicht hinsichtlich der Diabetes-Prävention.
„Die Reduktion der Diabetes-Inzidenz betrug nach 5 Jahren lediglich rund 18%, was in meinen Augen sehr bescheiden ist, wenn man dieses Ergebnis mit denen vergleicht, die durch Änderungen des Lebensstils erreicht werden“, bemerkte er gegenüber Medscape. Hier genügten bei 5 Jahren Therapie bereits 6 oder 7 Personen, damit statistisch gesehen ein Fall von Diabetes verhindert werde.
In einem Kommentar zu der veröffentlichten ACE-Studie schlagen Dr. Michal A. Nauck und Dr. Juris J. Meier vom Diabetes-Zentrum Bochum-Hattingen, Ruhr-Universität Bochum, in dieselbe Kerbe [3]. „Andere präventive Maßnahmen wie eine deutliche Lebensstiländerung, Metformin oder Thiazolidindione scheinen quantitativ betrachtet wesentlich wirkungsvoller zu sein“, schreiben sie.
„Natürlich ist Acarbose kein gutes Medikament für die sekundäre Prävention kardiovaskulärer Erkrankungen bei Patienten mit IGT“, äußerte Bennet im Hinblick auf die Studienbefunde. „Acarbose könnte bei Diabetes-Patienten an sich wirken, aber das ist nicht die Kernfrage der Studie. Es handelt sich streng genommen um eine Studie zur sekundären Prävention von kardiovaskulären Erkrankungen bei Menschen mit einer bereits existenten Herzerkrankung, die zusätzlich an IGT leiden – also um eine streng definierte Population.“
Eine ganz andere Meinung als Bennett hat Dr. Guangwei Li, Leiter der Abteilung Endokrinologie und Kardiologie am Fu Wei Hospital und dem Peking Union Medical College, China: „Ich halte die Studie insofern für sehr wichtig, als sie erkennen lässt, dass sich Acarbose nicht nachteilig auf kardiovaskuläre Erkrankungen auswirkt. Außerdem kam es weder zu Hypoglykämien noch zu erhöhtem Körpergewicht.“
Gegenüber Medscape äußerte Li, dass er durchaus einigen seiner Typ-2-Patienten Acarbose verschreibe, vor allem jenen, bei denen erstmals ein leicht erhöhter Blutzucker-Spiegel festgestellt worden ist und für die das primäre Problem der postprandiale Glukose-Spiegel ist. „Das hilft den Patienten sehr viel“, stellte er fest.
Auch wenn Acarbose mit einem US-Doller pro Tag nicht gerade billig sei, sei es in China ein äußerst populäres Antidiabetikum. Es sei auch für die Behandlung von Prädiabetes zugelassen. Es werde aber hierfür weit weniger häufig eingesetzt, weil das öffentliche Gesundheitssystem lediglich die Kosten für die Diabetes-Behandlung übernähme, bemerkte er weiter.
ACE im Vergleich zu STOP-NIDDM
Anlass für die ACE-Studie hatte 2002 eine Studie zur Prävention von nicht Insulin-pflichtigem Diabetes mellitus (Study To Prevent Non-Insulin-Dependent Diabetes Mellitus, STOP-NIDDM) gegeben. Sie hatte gezeigt, dass Acarbose die Inzidenz von Typ-2-Diabetes bei Personen mit gestörter Glukose-Toleranz um 25% reduziert. Eine anschließende präspezifizierte sekundäre Analyse sprach dafür, dass auch das kardiovaskuläre Risiko positiv beeinflusst wird, wenn auch in geringem Maße.
Auf der EASD-Sitzung wies die Kommentatorin Prof. Dr. Chantal Mathieu, Katholische Universität in Leuven und Universitätshospital Gasthuisberg, Belgien, auf verschiedene Unterschiede zwischen STOP-NIDDM und ACE hin, was unter anderem die Komponenten des kombinierten Ergebnisses, der untersuchten Population und die Anzahl Personen anbelangt.
Nauck und Meier halten in ihrem Editorial hierzu fest: „Die Resultate aus der ACE-Studie stellen die Schlussfolgerungen, die aus den kardiovaskulären Ergebnissen in der STOP-NIDDM-Studie gezogen worden waren, infrage, hauptsächlich weil STOP-NIDDM nicht für eine solche sekundäre Analyse ausgelegt war und weil die Ergebnisse eine grenzwertige Signifikanz aufwiesen.“
Mathieu warnte außerdem davor, die kardiovaskulären Ergebnisse der ACE-Studie bei Personen mit Prädiabetes mit denen aus einer der jüngsten kardiovaskulären Studien zu anderen Antidiabetika für Typ-2-Diabetes zu vergleichen. Diese fanden nämlich bei Personen statt, bei denen der Diabetes bereits manifest war.
Dieser Artikel wurde von Dr. Ingrid Horn aus www.medscape.com übersetzt und adaptiert.
REFERENZEN:
1. Jahrestagung der European Association for the Study of Diabetes (EASD), 12. bis 16. September 2017, Lissabon/Portugal
2. Holman RR, et al: Lancet (online) 13. September 2017
3. Nauck MA, et al: Lancet (online) 3. September 2017
Medscape Nachrichten © 2017 WebMD, LLC
Diesen Artikel so zitieren: Enttäuschend: Acarbose senkt zwar das Diabetes-Risiko, bietet aber keinen Schutz vor kardiovaskulären Komplikationen - Medscape - 28. Sep 2017.
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