Ein Ausblick auf die kommende „Leitlinie Multiple Sklerose“: Die neuen Möglichkeiten der Immuntherapie

Sonja Böhm

Interessenkonflikte

26. September 2017

Leipzig – Es tut sich derzeit viel bei der Multiplen Sklerose (MS) – so viel, dass die Leitlinien aktuell angepasst werden. Einen Ausblick auf die kommenden Veränderungen gab Prof. Dr. Bernhard Hemmer, Direktor der Neurologie am Klinikum Rechts der Isar in München, beim Kongress der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN) in Leipzig [1].

Ein Grund für die dringend notwendigen Aktualisierungen: Neue Medikamente sind verfügbar oder stehen kurz vor der Zulassung. „Wir erwarten noch in diesem Jahr die Zulassung des ersten Medikaments, das die Progression der schleichenden MS verzögern kann – und es gibt neue Alternativen zu den verfügbaren Medikamenten“, berichtete Hemmer. Er ist Vorstand des Krankheitsbezogenen Kompetenz-Netzes Multiple Sklerose (KKNMS), das derzeit gemeinsam mit der DGN an der Aktualisierung der Leitlinien arbeitet. Sie sollen im kommenden Jahr publiziert werden.

Schwerpunkt der Überarbeitung werden (neben neuen Diagnose-Kriterien) vor allem die neuen Möglichkeiten der Immuntherapie der MS sein, wobei nicht nur kürzlich zugelassene, sondern auch vor der Zulassung stehende Medikamente einbezogen werden, kündigte Hemmer an. Zum ersten Mal arbeiten auch Patientenvertreter an der Erstellung der Leitlinie mit.

Cladribin – ein Medikament mit Langzeitwirkung

Ein neuer Wirkstoff, den es in der Leitlinie zu positionieren gilt, ist Cladribin (Mavenclad®, Merck). Es hat seit Sommer dieses Jahres die Zulassung zur Behandlung der schubförmigen MS in Europa. Das orale synthetische Purin Nukleosid Analogon „mit Langzeitwirkung“ depletiere aktivierte Lymphozyten, erläuterte der Neurologe. Es wird in 2 Therapiezyklen von jeweils nur 4 bis 5 Tagen im 1. und 2. Jahr gegeben. Im Vergleich zu Placebo reduzierte es in klinischen Studien die Schubrate und die Progression der Behinderung.

„Wir kennen den Wirkstoff jedoch noch nicht gut genug“, gab Hemmer zu bedenken. Zu den Nebenwirkungen gehören reduzierte Lymphozytenzahlen, Infektionen wie Herpes zoster, Ausschlag, Haarausfall und verminderte Neutrophilenzahlen. Unter höherer Dosierung – nicht bei MS-Patienten – seien auch schon Fälle von Progressiver Multifokaler Leukencephalopathie (PML) berichtet worden. Diese gefürchtete Nebenwirkung der neuen Immuntherapien kann bekanntlich tödlich verlaufen.

Bis das Nutzen-Risiko-Profil des neuen Wirkstoffs klarer sei, sehe die KKNMS die Therapieindikation für Cladribin auf hochaktive Krankheitsverläufe beschränkt, so der Experte. Hier steht es in einer Reihe mit Alemtuzumab, Fingolimod, Natalizumab und Daclizumab (siehe Tabelle 1). Unter der Therapie mit Cladribin wird die Kontrolle der Leukozytenzahlen empfohlen.

 
Wir erwarten noch in diesem Jahr die Zulassung des ersten Medikaments, das die Progression der schleichenden MS verzögern kann. Prof. Dr. Bernhard Hemmer
 

Anti-CD20-Antikörper: Ocrelizumab und seine alten Verwandten

Zu den neuen vielversprechenden Therapieansätzen bei MS gehören auch die gegen B-Lymphozyten gerichteten Anti-CD20-Antikörper. Für diese sei „die Datenlage relativ gut“, sagte Hemmer. „Wir haben 4 Phase-2- und 2 Phase-3-Studien bei der schubförmigen MS – alle waren positiv.“ Zudem gebe es eine Phase-2- und eine Phase-3-Studie bei primär fortschreitender MS – und auch diese ging positiv aus (wie Medscape berichtete).

Ein Wirkstoff dieser Gruppe, Ocrelizumab (Ocrevus®, Roche), soll voraussichtlich noch in diesem Jahr auf den Markt kommen – „eine Variante des bei Krebs und Rheuma eingesetzten Rituximab“, erläuterte der Experte. In den USA ist Ocrelizumab bereits sowohl zur Therapie der schubförmigen als auch der primär progredienten MS zugelassen. Bei der schubförmigen MS war es in den klinischen Studien dem Interferon beta überlegen. Was aber die Neurologen besonders hoffnungsfroh stimmt: Es ist das erste Medikament, für das auch bei jüngeren Patienten mit primär progredienter MS eine Wirkung nachgewiesen werden konnte.

In der neuen Leitlinie soll Ocrelizumab dementsprechend wie Cladribin in die erste Wahl zur Behandlung der hochaktiven schubförmigen MS aufgenommen werden – und zudem für die Therapie der primär progredienten MS – für die es bislang noch nichts mit nachgewiesener Wirksamkeit gibt (siehe Tabelle 1 ).

Wie in vielen anderen Bereichen der Medizin macht sich aber auch hier – bei aller Euphorie – „Besorgnis wegen der hohen Kosten der neuen Therapien“ breit, wie Hemmer einräumte. Waren die herkömmlichen MS-Therapien schon nicht gerade günstig, so sind die neuen Therapien noch teurer. Die Jahres-Therapiekosten können bis zu 50.000 Euro pro Jahr betragen. Da retten sich einige Therapeuten in den „Off-Label-Use“, etwa indem sie Rituximab anstelle der neuen Anti-CD20-Antikörper einsetzen.

„Auch Rituximab ist in der Praxis angekommen“, konstatierte Hemmer. Wie er berichtete, ist Rituximab z.B. in Schweden inzwischen zum häufigsten Wirkstoff für die Neueinstellung einer MS avanciert. 4.000 MS-Patienten würden inzwischen dort damit behandelt. „Aber es handelt sich um einen Off-Label Einsatz!“, betonte er nochmals. Allerdings ließen sich damit durchaus Kosten sparen.

Auch die Nebenwirkungen machen Sorgen

Neben den hohen Kosten seien es die zum Teil schwerwiegenden Nebenwirkungen der neuen Wirkstoffe, die den Neurologen ebenfalls Sorgen machen, sagte Hemmer. So gebe es inzwischen mehr als 700 weltweit gemeldete Fälle einer PML unter Natalizumab (Tysabri®). Dies entspricht immerhin 4,21 Erkrankungen unter 1.000 Behandelten. Hemmer: „Das ist schon eine Nummer!“

 
Insbesondere hochaktive Immuntherapeutika können mit zum Teil schwerwiegenden Nebenwirkungen einhergehen. Prof. Dr. Bernhard Hemmer
 

Immerhin beträgt nach seinen Angaben die Sterblichkeit bei PML 24%. „Es ist wichtig, die Risikopatienten zu identifizieren!“ Auch unter Fingolimod (Gilenya®) seien weltweit 13 Fälle gemeldet (0,05 Erkrankungen/1.000 Behandelten) und unter Dimethyl-Fumarat (Tecfidera®) sind es 6 Fälle (0,03/1.000).

Daneben gibt es opportunistische Infektionen mit Listeriose, Herpes, Kryptokokken – auch hier mit vereinzelten Todesfällen sowie Autoimmunphänomene unter den neuen hochwirksamen Immuntherapeutika.  

Trotz allem, so Hemmers Fazit: „Mit den neuen Immuntherapeutika verbessern sich die Behandlungsmöglichkeiten der schubförmig verlaufenden MS weiter und es ergeben sich erste Therapiemöglichkeiten für eine Untergruppe von Patienten mit primär progredienter MS.“ Jedoch, so gab er auch zu bedenken: „Insbesondere hochaktive Immuntherapeutika können mit zum Teil schwerwiegenden Nebenwirkungen einhergehen.“ Viele der Nebenwirkungen ließen sich aber „durch sorgfältige Auswahl der Therapeutika und ein konsequentes Monitoring entweder vermeiden oder zumindest frühzeitig behandeln“.

Und zum Schluss mahnte er: „Die Kosten der MS-Immuntherapie steigen weiter.“ Gründe seien zum einen eine Zunahme der Patientenzahlen, die hohen Kosten der neuen Therapeutika und der Umstand, dass die meisten Biologika noch Patentschutz haben. „Hier sind Anstrengungen notwendig, um einer weiteren unkontrollierten Kostensteigerung entgegenzuwirken“, sagte Hemmer.



REFERENZEN:

1. 90. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Neurologie, 20. bis 23. September 2017, Leipzig

Kommentar

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